von Margit van Ham
Ende Juni, noch vor den großen Urlaubsströmen, traf Gregor Gysi im Deutschen Theater Volker Braun. Große Erwartung auf reiche Gedanken. Die gab es zuhauf – aber eine kleine Enttäuschung blieb, denn Gregor Gysi, der der Politikworte so Mächtige, wollte partout nicht über Aktuelles mit Volker Braun, dem Herren der verdichteten Worte, reden. Zweimal hatte Braun seinen Interviewer gebeten: „Lass uns jetzt über Politik reden.“ – und der reagierte nicht. Natürlich überlegt man, warum so eine wunderbare Gelegenheit, den Schriftsteller und Dichter, den, wie Christoph Hein es formuliert hatte, „wohl politischsten aller deutschen Autoren“ der letzten Jahre, jenseits von Talkshowplapperei zu aktuellen Entwicklungen zu befragen, vergeben wurde… Die Braunsche Perspektive auf Big Data oder Europa, Krieg und Frieden zu hören, wäre schon spannend gewesen.
Vor einem gefüllten Theatersaal befragte Gregor Gysi Volker Braun ausführlich zu Familie, Werdegang in der DDR und Wendezeit. Das Heute blieb ausgeklammert. Aber da waren ja auch Brauns Gedichte! Vielleicht meinte Gysi, mehr sagen könne man nicht.
Kriegserinnerungen bildeten den Einstieg ins Gespräch, und Gysi gab ihnen breiten Raum. Volker Braun hat seinen Vater im Krieg verloren, die Mutter zog allein fünf Söhne groß. Brauns Verneigung vor der Mutter ist tief. Sie starb am 6.5.1996 – dieses Datum ist zugleich der Titel des Gedichtes, das er rezitiert.
„[…] das Taxi
Steckte im Stau auf der Dimitroff der Augustusbrücke
Nichts ging mehr während meine Mutter starb
[…] Die Stadt war aufgerissen wie nach dem Angriff
Barockschutt, man kann in den Fundamenten wandeln
Und den Irrtum suchen […]“
Die Bombardierung Dresdens hat Volker Braun am Stadtrand von Dresden erlebt und betont den innewohnenden Widerspruch, der sein Leben begleitete. Dresden war nicht nur Opfer, hier wurde auch Krieg geplant. Und: Der Krieg brachte diesen Hunger nach intakter Welt, nach Schönheit in ihm hervor. Man kann in den Fundamenten wandeln und den Irrtum suchen… Er sieht Ruinen als „ästhetische Schule“. Sie enthalten „Grauen und Schönheit“. Die barocken Fassaden wirken auch verkohlt noch würdig und gewichtig.
Das Gedicht beantwortete bei genauem Hinhören (und späterem Nachlesen) bereits viele Interviewfragen zum Werdegang Brauns. Das Wesentliche des Dichters.
„ […] mein Spott ist Spätlese
Aus der Hanglage meiner fristlosen Entlassung
[…] Ich trug der Tochter eines Musikers den Koffer
Sie wollte Musik ohne Politik studieren
[…] Auf dem Heimweg wurde ich ein Dichter in Deutschland
Zwischen Stoppelfeldern unter dem Sternhimmel
eine Schlammspur unter den Füßen, jedenfalls Sand
auf den Korridoren der Macht, meine Sanftmut ist hart
Erarbeitet in der Zementfabrik SOZIALISMUS die Frage
Die keine Antwort zuließ bzw. die Antwort
Die keine Fragen zuließ, in Moskau ist jetzt die Synode
Zusammengetreten und diskutiert die Frage:
KANN DIE APOKALYPSE IN EINEM LAND STATTFINDEN?“
Volker Brauns Wirken als Dichter, Dramatiker, Schriftsteller, als Engagierter ist vielen Lesern bekannt und kann in seinen Eckdaten bei Wikipedia nachgelesen werden. Gregor Gysi verfolgte seinen Weg im Gespräch bis zur Wende, und danach bis zu den „Hellen Haufen“, dem Bericht über eine Rebellion der Kalikumpel Anfang der 90er Jahre, die nicht stattfand. (Siehe auch Blättchen 25/2011.). Braun trug sein Gedicht „Lagerfeld“ vor, gab Ängsten, Ekel und Zorn ein Kleid der Worte. Das schafft so kein Gespräch:
„[…] Zwei Gladiatoren
Kämpfen um den Arbeitsplatz mit Würgegriffen
Eine alte Übung, die Beifall findet
Dafür haben sie die Schule besucht ER ODER ICH
Der Gestank der Angst
[…] Während die Welt schwarz wird
Wie Afrika MAN DARF GEWALT NICHT NUR ANKÜNDIGEN
MAN MUSS SIE AUCH AUSÜBEN Das auswärtige Amt
Erklärt sich mit inwendigem Grinsen
Zu Bosnien“
„[…] AM ENDE DES TAGES BIST DU EIN PRODUKT
Das Denken ist genau das was ich vermeide
Das täglich bedruckte Papier
Der Gewahrsam gegen den Selbstmord der Gattung“
Volker Braun, gut dass es ihn gibt und seine dichten Denkanstöße! Und noch ein Zitat aus 6.5.1996:
„[…]wann wird der Dichter
GEBOREN, NACH JAHREN DER NIEDERLAGE
UND GROSSEM UNGLÜCK WENN DIE KNECHTE AUFATMEN
UND DIE BILDER ERWACHEN VOR DEM UNGEHEUREN ANBLICK.“
Schlagwörter: Deutsches Theater, Gregor Gysi, Margit van Ham, Volker Braun