von Andreas Dahms
Eigentlich bin ich todmüde. Es ist Montag, der 14.Juli 2014, ein Tag nach dem erfolgreichen Finale der Fußball WM. Die Nacht war kurz, drei Stunden Schlaf, Kopfschmerzen und Aspirin sind an der Tagesordnung. Ich nehme das Fahrrad, das Auto lasse ich besser stehen. Gegen 17.00 Uhr radle ich vom Büro los, die Kopfschmerzen haben nachgelassen, die Müdigkeit ist geblieben. Ich würde gern nach Hause fahren, aber in der vom Bibliotheksverband Deutschland 2011 prämierten „Anton-Saefkow-Bibliothek“ in Lichtenberg findet eine Veranstaltung statt, die ich unbedingt erleben will, der eigenen Verfassung zum Trotz.
Ich komme am „Anton-Saefkow-Platz“ an. Typische DDR-Plattenbauten, Anfang der 70er Jahre unter Leitung des Architekten Hermann Henselmann entworfen. Der Platz mit seiner Ausstrahlung bewirkt, dass ich mich hier und heute gern rückbesinnen will auf meine 30 Jahre Lebenszeit in der DDR – und das funktioniert ganz gut.
Anton Saefkow wurde in Berlin am 22. Juli 1903 geboren und war KPD-Funktionär. Zusammen mit Franz Jacob und Bernhard Bästlein wurde er 1944 erneut verhaftet. Alle drei waren führende Köpfe im kommunistischen Widerstand gegen das Hitlerregime. Sie wurden am 18. September des gleichen Jahres im Zuchthaus Brandenburg durch das Fallbeil hingerichtet. Dies war, wie heute auch, ein Montag, und das Stauffenbergattentat lag gerade mal zwei Monate zurück.
Es ist gut, dass es 24 Jahre nach dem Ende der DDR in Berlin-Lichtenberg noch zwei Straßen und diesen Platz mit ihren Namen gibt. Mutiger Kampf gegen Unmenschlichkeit muss gewürdigt bleiben, egal welche Gesellschaftsordnung gerade am Ruder ist.
Ich hatte es geahnt, nun bestätigt sich – ich bin der Jüngste der etwa 70 Gäste im Saal. Im Podium sitzen ehemalige Generaldirektoren – Herbert Roloff, „Außenhandelsbetrieb Industrieanlagen – Import“, Winfried Noack, Pharmazeutisches Kombinat „GERMED“ – sowie Peter Lietz, stellvertretender Generaldirektor des Kombinates „Spirituosen, Wein und Sekt“. Eine interessante Mischung hat sich da versammelt. Der Boss für Industrieimporte in die DDR – aber einer Größenordnung von über einer Millionen Valutamark (VM) liefen Einfuhren grundsätzlich „über seinen Tisch“, der Chef der Arzneimittelherstellung und dann auch noch der Chef für Genussmittel, nach deren „Verzehr“ am Abend man damals am Morgen danach durchaus auf die Produkte seines Podiumsnachbarn zurückgegriffen hat. Als Gast im Zuschauerraum sitzt mit Hans Köhler auch noch ein ehemaliger stellvertretender Chemieminister.
Katrin Rohnstock moderiert die Veranstaltung. Sie ist die Verlegerin des Buches: „Die Kombinatsdirektoren der DDR: Jetzt reden wir“. )Die Unterzeile formuliert den Anspruch: „Was heute aus der DDR-Wirtschaft zu lernen ist.“) Und sie merkte an: „Wir müssen uns beeilen – das ist eine Frage des Alters.“ Die noch lebenden Generaldirektoren sind in der Regel im dritten Jahrzehnt des letzten Jahrhunderts geboren. Das Projekt insgesamt könnte durchaus von Friedrich Engels inspiriert sein, der schrieb: „Über geschichtliche Ereignisse beklagt man sich nicht, man bemüht sich im Gegenteil, ihre Ursachen zu verstehen und damit auch ihre Folgen.“
In den Vorträgen und in der anschließenden Diskussion lebte Geschichte regelrecht auf. Es ist schwierig, aus der Vielzahl von Beispielen einzelne herauszugreifen. Am meisten beeindruckt hat mich ein Schreiben des Amtsgerichtes Charlottenburg vom 12. 12. 2000, in dem die Honorarhöhe des Verwalters für das Gesamtvollstreckungsverfahren „VE Außenhandelsbetrieb Industrieanlagen Import in Liquidation“ auf die bescheidene Höhe von 92.182.138,20 DM festgesetzt ist, immerhin inklusive der Mehrwertsteuer. Die aufgeführten Auslagen in Höhe von 68.336,87 DM waren zusätzlich zu erstatten. Dies zu kommentieren ist selbst für mich, der die Worte liebt, fast unmöglich, aber vielleicht ist der Rückgriff auf den Titel eines alten Westerns passend: „Die Geier warten schon“.
In der Diskussion über die Rolle von Alexander Schalck-Golodkowski in der DDR-Wirtschaft kam eine interessante Äußerung aus dem Kreis der Zuschauer: „Schalck war uns egal, Problemlösungen waren viel wichtiger, und darin war er gut – schnell und effizient.“ Da die DDR Wirtschaft durch das Doppelleitungsprinzip überreguliert gewesen sei – einerseits durch den SED-Apparat Kreis – Bezirk – ZK – Politbüro und andererseits durch die staatliche Hierarchie Betrieb – Kombinat – Ministerium –, sei es sehr gut gewesen, einen Ansprechpartner zu haben, der dieser Struktur quasi exterritorial gegenüberstand und den direktesten Weg zu den erforderlichen Türen gehen konnte, bis hin zum Sonderkonto des Generalsekretärs der SED. Diese Überregulierung von Wirtschaftsprozessen und die bewusste Senkung der Akkumulationsrate auf zum Schluss nur noch sieben bis acht Prozent zugunsten der gesellschaftlichen und individuellen Konsumption sei für die DDR tödlich gewesen.
Fairerweise muss man aber auch historisch anmerken, dass die DDR, vormals Sowjetische Besatzungszone Zone (SBZ), 98 Prozent aller Reparationsleistungen Gesamtdeutschlands zu leisten hatte, ausschließlich an die Sowjetunion. Die westliche Trizone kam dagegen in den Genuss des Marshallplans. Diese unterschiedlichen Startbedingungen waren für den kleineren deutschen Teilstaat letztlich nicht zu kompensieren.
Die praktisch tätigen Wirtschaftsleute in den Kombinaten waren ohnmächtig gegenüber der Totalität des durch Moskau gesteuerten SED-Politbüros, in dem es nur sehr partiell den notwenigen wirtschaftlichen Sachverstand gab. Und wenn es ihn gab, dann war bisweilen die Tragik im Spiel, wie zum Beispiel bei den Selbstmorden von Gerhard Ziller 1957 sowie Erich Apel 1965 und auch bei dem ungeklärten Flugzeugabsturz von Werner Lamberz in Libyen 1978.
Das hoch ambitionierte Experiment, besseres Wirtschaften mit dem „Neuen Ökonomischen System“ zu etablieren, wurde von der sowjetischen Vormacht im Keim erstickt. Rückwirkend bleibt nur das positive Fazit, dass die DDR, trotz doktrinärer Prämissen des Sowjetsystems, den höchsten Lebensstandard im Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW), dem ökonomischen Verbund der Ostblock-Staaten, erreicht hat. Dies bleibt ein reales Verdienst auch der ehemaligen Wirtschaftsbosse der DDR. Dieses Kreativpotential, allein schon im Management unter dauerhaft widrigen Bedingungen, wurde ab 1990 westdeutscherseits weder verstanden, geschweige denn genutzt, es wurde abgewickelt. Auch Sieger sind eben nicht selten ideologisch vernagelt.
An diesem Abend höre ich nicht zuletzt vom „Schürer-Bericht“ 1989. Alexander Schalck-Golodkowski, Mitverfasser dieses Berichtes, war damals offensichtlich nicht bereit oder in der Lage, in diesem Kontext die beträchtlichen Guthaben des von ihm verantworteten, weit verzweigten Bereiches „Kommerzielle Koordinierung“ offen zu legen, wodurch die Darstellung der Verschuldungssituation der DDR wesentlich undramatischer ausgefallen wäre. Der „Schürer-Bericht“ wies Schulden gegenüber dem Westen beziehungsweise dem Nichtsozialistischen Wirtschaftsgebiet (NSW), wie der damalige offizielle terminus technicus lautete, in Höhe von 49 Milliarden VM (= 26 Milliarden US-Dollar) für Ende 1989 aus. Unter Berücksichtigung aller Guthaben der DDR wies die Deutsche Bundesbank später demgegenüber eine Nettoverschuldung von nur 19,9 Milliarden VM (= zwölf Milliarden US-Dollar) aus, also weniger als die Hälfte. Pleite sieht anders auch – schon gar heute, wenn man nur an die reale Verschuldungssituation von Staaten wie Griechenland denkt!
Diese Veranstaltung dauert lange, immerhin drei Stunden. Es ist bereits, trotz Hochsommer, dunkel, als ich mich wieder auf mein Fahrrad schwinge. Auf der Heimfahrt mir fällt ein, das es im Blättchen mal die Rubrik „Manches war doch anders“* gab. Da würden die Erinnerungen der EX-Generaldirektoren vielleicht gut dazu passen …
Die Kombinatsdirektoren: Jetzt reden wir. Was heute aus der DDR-Wirtschaft zu lernen ist, Edition Berolina, Berlin 2013 (3. Auflage), 224 Seiten, 9,99 Euro.
*– Diese Rubrik deutsch-deutscher Reminiszenzen findet sich in den Blättchen-Ausgaben 4, 7, 10, 16, 18, 19 und 23 / 2012.
Schlagwörter: Andreas Dahms, DDR, Generaldirektor, Kombinat, NSW, RGW, Schalck-Golodkowski, Schulden, Schürer-Bericht, Wirtschaft