von Septentrionalis
Wenn es so eine Art Stichtag für die Krim-Krise gibt, die danach direkt in die Ostukraine-Krise übergegangen ist, dann war das der 22. Februar 2014. An diesem Tag erklärte das ukrainische Parlament den (rechtmäßig gewählten) Präsidenten Wiktor Janukowytsch für abgesetzt, der kurz zuvor mit zunächst unbekannten Ziel aus Kiew geflüchtet war. Die undurchsichtige Protestler-Koalition auf dem Kiewer Maidan-Platz schien auf ganzer Linie gesiegt zu haben.
Allerdings ging es auch an anderer Stelle nun ganz schnell: Es dauerte keinen Monat, bis nach verdeckter Okkupation auf der Krim eine prorussische Übergangsregierung etabliert, ein Referendum abgehalten und der Anschluss an die Russische Föderation beantragt worden war. Am 21. März ratifizierte der russische Föderationsrat diesen Antrag und betrachtet die Krim seither als Teil der Russischen Föderation. Die UN-Vollversammlung erkannte das Referendum und damit auch den Beitritt allerdings mit der Resolution 68/262 nicht an (100 zu elf Stimmen). Seither streiten sich die USA und die EU mit Russland um die Rechtmäßigkeit und versuchen, mit Sanktionen Druck zu machen, die allerdings angesichts der russischen Gas-Lieferungen in die EU bisher eher symbolisch blieben.
Für die folgenden Überlegungen ist allerdings nur maßgeblich: Die Krise ist spätestens seit März heiß. Es gibt einen Indikator, der täglich die Brisanz dieser Entwicklung misst – den Kurs des Rubel. Der erreichte am 18. März, im Umfeld des Krim-Anschlusses, einen Tiefstand. Für einen Rubel gab es da gerade noch 1,96 Euro-Cents. Inzwischen hat sich der Kurs – allem Wortgeklingel zum Trotz – erholen können und liegt nun bei 2,16 Cents*. Das hört sich harmlos an, ist aber eine Verbesserung um gut über zehn Prozent, und liegt nur noch 2,7 Prozent unter dem Jahresschluss von 2013, als von der Krim noch keine Rede war und der Rubel 2,22 Cents kostete.
Da wundert man sich, von einer verarmenden russischen Bevölkerung zu lesen: „Putins Expansion: Russen leiden unter Belastung durch Krim-Kosten“, schrieb beispielsweise Spiegel Online in einem Beitrag am 6. Juli, der einige der Lieblingsthemen der Medien („Putin böse, Putin schadet Russland, die Armen leiden“) miteinander kombinierte. Der Vorspann im Originaltext: „Nach anfänglicher Euphorie macht sich Ernüchterung breit: Vor allem ärmere Russen spüren die Kosten der Krim-Annexion durch Putins Regierung in der Lohntüte. Steigende Inflation und sinkende Reallöhne machen ihnen mehr und mehr zu schaffen.“
Kronzeuge für diese Behauptung des unter dem Kürzel „bor“ schreibenden Journalisten ist die „Krankenhaus-Therapeutin Tatjana, ihren Nachnamen will sie nicht nennen, lebt und arbeitet in dem russischen Ort Taganrog nahe der Grenze zur Krim“. Sie hat offenbar mit der Nachrichtenagentur Reuters gesprochen, wie „bor“ korrekt zitiert. Die 52-jährige Tatjana soll nun private Therapiestunden geben, „um über die Runden zu kommen“. Aber auch das können sich, so der Bericht, „immer weniger Kunden leisten“. Dann folgen noch ein paar Schätzungen von IWF, russischer Zentralbank und Innenministerium, die belegen sollen, dass das Wirtschaftswachstum in Russland dieses Jahr bei unter einem Prozent liegen könnte.
Nun gehen weder die Leser des Blättchens noch der Autor dieser Zeilen bei Tajana zur Therapiestunde, auch erhalten Sie keinen russischen Lohn oder kaufen in Taganrog ein. Sie können also, vermutlich wie „bor“, nicht aus erster Hand ermessen, wie es dem Durchschnittsrussen so geht. Aber im Gegensatz zu „bor“ kann man sich die Mühe machen, die offiziellen Zahlen rauszusuchen. Die stehen nämlich unter main economic and social indicators beim Federal State Statistics Service der Russischen Föderation, dem dortigen Gegenstück zum Statistischen Bundesamt.
Und danach kann von Ebbe in der Lohntüte keine Rede sein. Im Gegenteil, im Mai 2014 lag der Durchschnittslohn mit 33.280 Rubel um 13 Prozent über dem entsprechenden Vorjahresstand. Bei solchen Werten ist Inflation nicht weit, die 7,6 Prozent betrug. Aber wenn man die abzieht, bleibt immerhin noch ein realer Anstieg von fünf Prozent. Bei „bor“ allerdings sind „sinkende Reallöhne“. Das Einzige, was bei „bor“ zu stimmen scheint, ist, dass seit Beginn der Krimkrise die Inflationsrate zugelegt hat. Sie ist von 6,9 Prozent im März auf im Mai 7,6 Prozent gestiegen. Aber ist das die große Verarmung? Zumal die Zahl der Arbeitslosen um etwa fünf Prozent zurückgegangen sein soll.
Um nicht falsch verstanden zu werden: Auch der Autor dieser Zeilen ist nicht so naiv, dass anzunehmen, die offiziellen russischen Statistiken wären über jeden Zweifel erhaben. Aber bessere dürfte auch „bor“ nicht haben. Und der zieht aus den bei Reuters zitierten Äußerungen von Tatjana aus Taganrog weitreichende Einsichten der Art, dass Putins Politik dem Volk schaden würde. Was ein weiteres Beispiel dafür sein dürfte, wohin es führt, wenn man als Journalist eine vorgefasste Meinung („Putin ist Mist“) im Hinter- oder sogar schon im Vorderkopf hat.
* – Stand vom 11.07.2014.
Schlagwörter: Krise, Medien, Meinungsmache, Putin, Russland, Septentrionalis, Ukraine