von Jörn Schütrumpf
Nördlich von Haifa, in Beit Lohamei, einem Ort, an dem ich es wirklich nicht erwartet hatte, stand ich dem Foto von Carl von Ossietzky gegenüber, aufgenommen 1934 im Konzentrationslager Esterwegen. Beit Lohamei, ein Kibbuz, gegründet von Widerstandskämpfern gegen die Nazi-Massenmörder, besitzt mit dem „Haus der Ghettokämpfer“ seit 1949 das weltweit erste Holocaust-Museum. Dort beginnt die Vorgeschichte des industriell betriebenen Mordes nicht mit dem Antisemitismus seit den Kreuzzügen oder den russischen Pogromen zu Anfang des 20. Jahrhunderts, sondern: mit der Ausschaltung der deutschen Linken – unter anderem symbolisiert durch den Friedensnobelpreisträger von 1935 – sowie mit dem Bündnis zwischen den Nazis und dem deutschen Militär. Beides habe den Holocaust erst ermöglicht. Nicht nur für Israel eher ein ungewöhnlicher Blick.
In Deutschland ergeht es Carl von Ossietzky ähnlich wie Rosa Luxemburg, die zwei Jahrzehnte zuvor mit Kurt Rosenfeld – 1931 war er Ko-Vorsitzender der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands, einer linken Abspaltung von der SPD – übrigens den gleichen Anwalt wie Ossietzky unter Vertrag gehabt hatte: Fast jedes Kind kennt in Deutschland Ossietzkys und Rosa Luxemburgs Namen – und sei es auch nur durch Straßenbenennungen. Wobei Ossietzkystraßen gleichmäßiger übers Land verteilt sind als Rosa-Luxemburg-Straßen; Ossietzkystraßen finden sich in Berlin-Pankow, Bonn, Düsseldorf, Hamburg, Köln, Leipzig, Meißen, Nürnberg, Würzburg, Zwickau…
Viel mehr als die Namen ist es dann aber nicht. Und auch die haben sich nur erhalten, weil beide zu Opfern wurden: Rosa Luxemburg starb durch die Mörderhand eines deutschen Helden in Offiziersrang; Carl von Ossietzky erlag am 4. Mai 1938 den Folgen der KZ-Haft, möglicherweise einer ihm per Spritze verabreichten TBC-Infektion. Wegen dieser Art ihrer Tode werden beide geehrt – nicht etwa wegen ihrer Leben, nicht etwa wegen ihrer Werke, obwohl das bei beiden wirklich mehr als angeraten wäre. Wir Deutschen haben schon eine sehr seltsame Erinnerungskultur.
Man soll Parallelen nicht überstrapazieren, trotzdem gibt es mindestens noch eine zwischen der polnischen Jüdin mit der spitzen Zunge und der entsprechenden Feder und dem nicht weniger scharfzüngigen Pazifisten (mit dem irreführenden Adelstitel – anders als sein Weltbühne-Mitherausgeber Kurt Tucholsky kam Ossietzky aber aus Verhältnissen, an denen in keinerlei Hinsicht etwas „edel“ war): Rosa Luxemburg war 1914, kurz vor Beginn des Weltkriegs, zu einem Jahr Haft verurteilt worden, weil sie für den Kriegsfall zur Mordverweigerung aufgerufen hatte. Der Anklagegrund war zum Teil jedoch nur vorgeschoben, vor allem verfolgte der Staatsanwalt Rosa Luxemburg, weil sie die systematische Misshandlung von Soldaten in der preußisch-deutschen Reichswehr in die Öffentlichkeit gebracht hatte – was gerächt werden sollte. Carl von Ossietzky kam 1932 ins Gefängnis, weil er als Verantwortlicher der Weltbühne für die Veröffentlichung eines Artikels aus dem Jahre 1929 belangt wurde, in dem die geheime deutsche Aufrüstung behandelt worden war. Die Fakten waren nicht alle neu, manche stimmten auch gar nicht. Nicht zuletzt aber für den „Verrat“ dieser falschen Fakten wurde Ossietzky verurteilt. Das hätte unter rechtsstaatlichen Bedingungen (die waren bei der Justiz der Weimarer Republik noch weniger erfüllt als unter dem Kaiserreich) bestenfalls für eine Verleumdungsklage – damit jedoch keinesfalls für eine Gefängnisstrafe – ausgereicht. Da aber die Weltbühne getroffen werden sollte, bestätigte das Gericht mit seinem Urteil den „Verrat“ von Aufrüstungsmaßnahmen, die es gar nicht gegeben hatte.
Rosa Luxemburg wie Carl von Ossietzky, sie hätten beide emigrieren können; Freunde forderten sie dazu auch auf – Ossietzky wurde sogar von einem politischen Gegner bedrängt: von Kurt von Schleicher, vor Hitler der letzte Reichskanzler, 1934 während des sogenannten Röhm-Putsches ermordet. Carl von Ossietzky entschied sich 1931 jedoch genauso wie 1914 Rosa Luxemburg:
„Über eines möchte ich keinen Irrtum aufkommen lassen, und das betone ich für alle Freunde und Gegner und besonders für jene, die in den nächsten achtzehn Monaten mein juristisches und physisches Wohlbefinden zu betreuen haben: Ich gehe nicht aus Gründen der Loyalität ins Gefängnis, sondern weil ich als Eingesperrter am unbequemsten bin. Ich beuge mich nicht der in roten Sammet gehüllten Majestät des Reichsgerichts, sondern bleibe als Insasse einer preußischen Strafanstalt eine lebendige Demonstration gegen ein höchstinstanzliches Urteil, das in der Sache politisch tendenziös erscheint und als juristische Arbeit reichlich windschief.“
Der Beitrag „Windiges aus der deutschen Luftfahrt“ von Heinz Jäger, für dessen Veröffentlichung im Jahre 1929 Carl von Ossietzky verurteilt wurde, ist in diesem Heft nachzulesen.
Schlagwörter: Carl von Ossietzky, Israel, Jörn Schütrumpf, Rosa Luxemburg, Weltbühne