von Wolfgang Brauer
Am 14. Tag nach der Kapitulation wacht Konstanty Willemann mit verkatertem Schädel in einer demolierten Stadt auf, „die nicht mehr meine ist“, wie er noch häufiger feststellen wird. Es ist das zerbombte und zerschossene Warschau: „Warschau, nicht mein Warschau, Warschau durchlöchert, Warschau in Kälte, Dreck und Schneeregen, Warschau vergewaltigt.“ Willemann, Ulanenleutnant einer nicht mehr existierenden Armee, verbrannte nach der Niederlage die Uniform, entzog sich der Registrierung und merkwürdigerweise dem gewohnten Morphium, um auf Wein und Wodka auszuweichen. Vor der Mobilmachung war Willemann, der Held von Szczepan Twardochs Roman „Morphin“, Künstler, Lebenskünstler eher. Er verkehrte in den Warschauer Literatencafés und Nachtclubs – immer wieder taucht hier Jarosław Iwaszkiewicz, einer der wichtigsten polnischen Autoren des 20. Jahrhunderts, auf; Twardochs Buch ist auch eine Hommage an ihn –, soff und hurte und beteiligte sich an Auto-Rallyes mit seinem gelben Opel „mit Originalkarosserie und Zelttuchdach“. Willemanns künstlerisches Werk konzentrierte sich offenbar auf Zeichnungen seiner Geliebten, der halbjüdischen Prostituierten Sala – er nennt sie Salomé – in lasziven Posen in der Manier Egon Schieles. Neben einer exzessiv ausgelebten Sexualität verbindet beide die Morphium-Gier. Seinen Lebensunterhalt bestreitet Konstanty Willemann mittels regelmäßiger Schecks der Mutter, die von Kindheit an versucht, aus ihm einen patriotischen Polen zu machen. Der Held entstammt nämlich der Verbindung der Kleinbürgerin aus Oberschlesien, die so richtig keine Polin ist, eine „Wasserpolackin“ (Twardoch) eher, aber fanatisch mit Hilfe des Unterleibs polonisiert, mit Baldur von Strachwitz. Der entspross urpreußischem Alt-Adel und war Rittmeister bei den Schlesischen Ulanen in Gleiwitz. Im Krieg werden ihm das halbe Gesicht und das ganze Geschlecht weggeschossen. Wegen des Verlustes des Letzteren setzt die Mutter – „ein wildes, ungeheures Tier“ warnt der Vater den Zwölfjährigen – den Krüppel vor die Tür. In der Schlacht um den Annaberg soll er dann als Mitglied des Freikorps „Oberland“ umgekommen sein. Im Verlaufe des Romans taucht er wieder auf. Jedenfalls wird aus dem deutschen Knaben Konstantin der polnische Lebemann Konstanty, „von dem man wusste, dass er sich für Polen entschieden hat, obwohl er auch preußischer Aristokrat hätte sein können.“ Verheiratet ist er mit Helena Peszkowska, Tochter eines eugenischen Nationaldemokraten aus Posen. Hela, deren arische Idealmaße wiederum den Nazi-Bildhauer Josef Thorak inspirierten, ist so etwas wie Twardochs Gegenentwurf zu Salomé, der fraugewordenen Verkörperung Warschaus. Die Besatzung der Marinebasis Hela kapitulierte übrigens erst acht Tage nach der Warschauer Garnison. Der Roman wimmelt von solchen Anspielungen und Mehrdeutigkeiten. Jedenfalls Hela zuliebe lässt sich Willemann auf den polnischen Widerstand ein – und muss dazu wieder Deutscher werden. Das wird ihn das Leben kosten.
Twardoch erzählt seine Geschichte geradlinig. Aber er bedient sich einer breiten Vielfalt erzählerischer Mittel diverser „Ismen“ der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, um, mitunter etwas bemüht, den Gefahren des bürgerlichen Entwicklungsromanes aus dem Wege zu gehen. Er breitet ein Mosaik vor uns aus: „… und niemand, nicht einmal ich, steht weit genug über diesem Mosaik, um es ganz zu erfassen, seinen Rhythmus, seine Ordnung und Schönheit. Niemand, oder fast niemand.“ Fast niemand: Notfalls muss ein Über-Ich seines Helden, eine Art personengebundener Nachtmahr, kommentierend eingreifen. Am Ende des Buches lässt der ihn dann auch noch in Stich…
Szczepan Twardoch hat einen Roman über den Krieg geschrieben. Er hat auf 590 Seiten ein Psychogramm eines geschändeten Landes entworfen, das man lesen sollte, wenn man das heutige Polen verstehen möchte. Er hat auf die berühmte Ödipus-Frage „Wer bin ich?“ eine weitere Antwort gegeben, die alle Versuche einer eindeutigen Antwort ad absurdum führt.
Großen Respekt dem Übersetzer Olaf Kühl und „Gratulacje“ dem Verlag!
Szczepan Twardoch: Morphin, Rowohlt Berlin, Berlin 2014, 592 Seiten, 22,95 Euro.
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Polen wurde am 1. September 1939 überfallen. Die letzten polnischen Einheiten kapitulierten am 6. Oktober. Der deutsche Einmarsch in die Schweiz begann am 10. Mai 1940. Bereits am 17. Mai erklärt das Oberkommando der Wehrmacht die Besetzung der Schweiz als abgeschlossen. Am 1. Juni wird der „Reichsgau Schweiz“ gebildet, die französischsprachige Schweiz wird Protektorat, und das Tessin kommt zu Italien. Erst am 22. Februar 1945 können amerikanische Truppen mit der Besetzung Graubündens die Schweiz endgültig befreien – gut, Sie haben ja Recht. Das ist nie passiert, das ist literarische Fiktion. Charles Lewinsky und Doris Morf – Morf verstarb 2003 in Zürich – entwarfen sie in ihrem Buch „Hitler auf dem Rütli“. Sie lassen 40 Jahre nach der fiktiven Neu-Proklamation der Eidgenossenschaft Menschen zu Wort kommen, „Zeitzeugen“ nennt man das mit vermeintlicher Wort-Neutralität im Post-Reichsdeutschen, die die Jahre der deutschen Besetzung der Schweiz miterlebten. 48 Gesprächspartnern, „Durchschnittsbürgern“, wurde die Frage gestellt: „Was war Ihr wichtigstes Erlebnis in jenen Jahren?“ Das Ergebnis dieses literarischen Laborversuches ist erschreckend. Die schweizerischen Verhaltensmuster unterscheiden sich offensichtlich nur wenig von den deutschen oder den österreichischen. Übrigens ist in einzelnen Berichten von „Anschluss“ die Rede. Da war Widerstand, bewaffneter sogar, da war die Flucht in das Private, da überwogen aber Anpassung und Kollaboration. Ein Schweizer Nazi sagt es drastisch („Triumphfahrt durch die Bahnhofstraße“): „Die haben uns verwaltet wie ein fremdes Gebiet. Das war ein großer Fehler. Wir waren von allein schon auf dem richtigen Weg. […] Es war ja alles reif. Aber sie konnten nicht warten.“ So etwas schreibt man nicht, wenn man nicht ein feines Sensorium für das entwickelt hat, was tief unter der Oberfläche von nach außen hin lupenrein demokratisch erscheinenden Gesellschaften schwelt. Auch in der Schweiz. Um den Befund Lewinskys und Morfs zu bestätigen, brauchte es nicht erst den Schengen-Europa (ausgerechnet!) erschreckt habenden Plebiszit in Sachen Zuwanderungsbegrenzung des Jahre 2014. 2002 wurde der sogenannte „Bergier-Bericht“ der aufgrund eines Bundesratsbeschlusses arbeitenden Unabhängigen Expertenkommission „Schweiz – Zweiter Weltkrieg“ in Zürich veröffentlicht. Auf 12.000 Seiten weist dieser minutiös die vielfachen Verstrickungen der Eidgenossenschaft und ihrer Institute – beileibe nicht nur der Banken („Wir hätten den Nazis treue Dienste geleistet. Ja, was hätten wir denn sonst für Dienste leisten sollen?“ – „Die Geschichte eines Bankkontos“) – nach. Patriotische Kritiker werfen dem Bericht bis auf den heutigen Tag vor, die seinerzeitigen Geschehnisse „in einem für die Schweiz einseitig negativen Licht“ darzustellen. Lewinsky und Mors drehen den Spieß um und lassen am Ende ihre Buches die Frage stellen: „Was wäre, wenn der Hitler damals nicht gekommen wäre? […] Wenn es anders gelaufen wäre, dann hätten wir das Rettungsboot Europas werden können. Wir hätten alle Flüchtlinge aufgenommen, die Verfolgten und die Juden. Dann könnten wir jetzt stolz sein auf jene Jahre und müssten uns nicht immer damit herausreden, dass die anderen eben stärker waren als wir.“ („Die Befreiung von Bern“)
„Hitler auf dem Rütli“ erschien erstmals 1984. Der Unionsverlag hat das Buch jetzt in einer broschierten Neuauflage herausgebracht. Sicher nicht nur aus kommerziellen Gründen: „Die Dinge sind im Umbruch. Ich spüre das. Ganz deutlich spüre ich das. Damals hat es auch so angefangen.“ Das sagt der bereits zitierte Nazi. Und das ist nicht nur ein Schweizer Problem.
Charles Lewinsky / Doris Morf: Hitler auf dem Rütli, Protokolle einer verdrängten Zeit, Unionsverlag, Zürich 2014, 256 Seiten, 19,95 Euro.
Schlagwörter: Charles Lewinsky, Doris Morf, Morphin, Polen, Rütli, Schweiz, Szczepan Twardoch, Wolfgang Brauer