von Hubert Thielicke
Zum ersten Mal seit Geburt der Nachkriegsordnung habe eine Großmacht Europas Grenzen wieder mit „roher militärischer Gewalt“ verändert, schrieb jüngst ZEIT-Mitherausgeber Josef Joffe. Meinte er den Bombenkrieg der NATO gegen Restjugoslawien 1999 und die Abtrennung des Kosovo? Gewiss nicht. Der „Atlantiker“ hatte natürlich Russland im Blick. Immerhin gehört er zu denjenigen, die Russland „eindämmen“ wollen, um letztlich den mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion errungenen „Sieg der NATO“ auszubauen. Ein solches Denken verhinderte damals, dass die NATO neue Wege beschritt, um eine echte Sicherheitspartnerschaft mit Russland einzugehen. Darauf abzielende Annäherungsversuche Russlands wurden abgewiesen, die Militärorganisation bis in dessen Vorfeld ausgedehnt. Statt auf den Vorschlag des damaligen Präsidenten Medwedjew einzugehen, ein gesamteuropäisches Sicherheitssystem zu schaffen, halfen die USA der NATO das Projekt eines Raketenabwehrsystems über. Statt Präsident Putins Initiative über einen Wirtschaftsraum von Lissabon bis Wladiwostok aufzugreifen, wollten die Brüsseler EU-Bürokraten die Ukraine an die EU binden, anstatt sie als Bindeglied zur sich herausbildenden Eurasischen Wirtschaftsunion aus Russland, Belarus und Kasachstan zu nutzen.
Russland hat daraus seine Schlüsse gezogen. Dem Präzedenzfall Kosovo folgend wurde nun die Krim unabhängig und trat der Russischen Föderation bei. Die russische Elite hat damit erneut ihre rasche Lernfähigkeit bewiesen. Immerhin hat Russland – spätestens seit Peter dem Großen – viel von Westeuropa gelernt. Mit Katharina II. hatte es sich sogar eine Innovatorin von dort geholt. Es war schließlich die deutsche Prinzessin aus dem Zwergfürstentum Anhalt-Zerbst, die das Zarenreich zur europäischen Großmacht führte und ihm 1783 auch die Krim angliederte. Nun folgte Präsident Putin ihrem Beispiel und nahm die von KPdSU-Parteichef Chruschtschow 1954 verfügte „Schenkung“ der Halbinsel an die Ukraine wieder zurück.
Russland-Bashing ist wieder Mode in Mainstream-Medien: Wladimir Putin spalte Europa, sei mit einem Raubtier zu vergleichen, das auf Beute aus ist. So wolle er Teile der alten UdSSR zurückholen, bis hin nach Kasachstan, wo im Norden viele ethnische Russen leben. Auch hier fallen die Tatsachen unter den Tisch: Kasachstan entwickelt sich – im Unterschied zur Ukraine – sehr erfolgreich, modernisiert seine Wirtschaft, betreibt eine ausgewogene Nationalitätenpolitik und ist engster Partner Russlands in der Zollunion. Die Idee der Eurasischen Union lancierte übrigens Präsident Nasarbajew bereits 1994, lange bevor russische Politiker auf die Idee kamen. Der bisherige Höhepunkt der antirussischen Hektik: Die Grünen-Spitzenkandidatin Rebecca Harms scheute im Europaparlament nicht davor zurück, einen „Maulkorb-Erlass“ gegen Altkanzler Gerhard Schröder erwirken zu wollen! Nur weil er den völkerrechtswidrigen NATO-Einsatz von 1999 beim Namen nannte. Eifrige Schreiberlinge fordern „harte Sanktionen“ gegen Russland, auch wenn das der eigenen Wirtschaft schaden oder zu höheren Energiepreisen führen würde.
Nun wollen USA und EU mit einem mehrstufigen Sanktionsplan Russland das Fürchten lehren; der EU-Russland-Gipfel und der in Sotschi geplante G8-Gipfel wurden abgesagt. Schadet ein Dialogabbruch aber dem Westen nicht selbst? Realisten wie der ehemalige französische Außenminister Hubert Vedrine sprechen sich dafür aus, Verhandlungskanäle offen zu halten, um über die Ukraine, aber auch über andere Konflikte wie Syrien oder den Iran zu sprechen. Immerhin dachte der Westen durchaus nicht daran, Russland bei den jüngsten Verhandlungen über das iranische Atomprogramm oder bei der Operation zur Vernichtung der syrischen Chemiewaffen auszuschließen. Es spielt dabei nun mal eine Schlüsselrolle. Auch Einreise- und Kontensperren sind offensichtlich kontraproduktiv. So geriet der russische Eisenbahnpräsident Wladimir Jakunin auf die US-Sanktionsliste. Mit den Treffen des von ihm gegründeten World Public Forum fördert er den interkulturellen Dialog, auch zwischen den Religionen. Aber das muss ja nicht unbedingt im Interesse der USA liegen. Ihnen scheint es eher darum zu gehen, die Europäer in eine stärkere Konfrontation mit Russland zu drängen, was letztlich den beiderseitigen Wirtschaftsbeziehungen schaden würde, wohl kaum denen der USA. Mehr noch, mit dem Konfrontationsgedöns lässt sich wunderbar von den transatlantischen Problemen um NSA-Abhörskandal und Freihandelszone ablenken.
Russland wird Gegenmaßnahmen treffen. Aber wissen die Brüsseler Strategen, auf was sie sich da einlassen? Alle bisherige Erfahrung zeigt doch: Es ist leichter, die Eskalationsleiter hoch zu klettern, als wieder herunter zu kommen. Mehr noch, Sanktionen bringen gar nichts, schaden beiden Seiten, vor allem wenn der Westen die dritte Stufe zünden will – Wirtschaftssanktionen. In Zeiten der Globalisierung ist es im Grunde nicht möglich, einen Staat wie Russland, der zudem politisch und wirtschaftlich eng mit dem restlichen Europa verflochten ist, isolieren zu wollen. Hinter verschlossenen Türen schütteln diplomatische und wirtschaftliche Experten die Köpfe über die Arroganz ihrer Politiker. Aber auch die sind sich selbst nicht sicher. Mit den stärksten Sanktionen der Welt sei der Status quo nicht wieder herzustellen, meinte der luxemburgische Außenminister Asselborn. Österreichs Bundeskanzler Werner Faymann, obzwar auch im „Sanktionsboot“, hegt ebenfalls geringe Erwartungen und offerierte Vermittlung zwischen dem Westen und Russland. Altkanzler Helmut Schmidt brachte die Dinge auf den Punkt: Die Sanktionen seien „dummes Zeug“, das russische Vorgehen auf der Krim „durchaus verständlich“.
Nach aktuellen Forsa-Umfragen lehnen etwa zwei Drittel der Bundesbürger Sanktionen ab. Man muss nur die Leserbriefspalten der Presse durchgehen, um Volkes Stimme zu hören. Auch die Wirtschaft ist über die Sanktionspläne nicht amüsiert. „Wichtig ist, dass alles darangesetzt wird, den Konflikt zu deeskalieren. Ansonsten sehe ich die Gefahr, dass Russland sich noch weiter vom Westen distanziert. Das wäre weder für Deutschland noch Europa gut, politisch wie wirtschaftlich“, schätzt Jürgen Fitschen ein, Präsident des Bankenverbandes und Co-Chef der Deutschen Bank. Der ehemalige EU-Kommissar Günter Verheugen warnte vor einer Sanktionsspirale. „Solche Sanktionen wären aktuell weder durchsetzbar noch hilfreich. Stattdessen müssen die Ukraine und die Russische Föderation an den Verhandlungstisch“, meint Wintershall-Chef Rainer Seele, Präsident der Deutsch-Russischen Außenhandelskammer. Die deutsche Politik und die deutsche Wirtschaft könnten hier eine wichtige Rolle als Moderator spielen.
Noch ist es möglich, aufeinander zuzugehen, um eine Lösung zu finden. So rief Bundesaußenminister Walter Steinmeier auf der Mitgliederversammlung des Deutsch-Russischen Forums am 19. März Russland dazu auf, rasch einer OSZE-Mission für die Ukraine zuzustimmen. Gleichzeitig forderte er von der Kiewer Regierung eine Politik für alle Landesteile, eine neue Verfassung, Untersuchung der Verbrechen auf dem Maidan und klare Distanz zu extremistischen Gruppierungen. Russland lieferte – bereits zwei Tage später stand die OSZE-Beobachtermission. Nichts verlautete jedoch darüber, ob der Minister bei seiner Ukraine-Reise am 22. März die Kiewer Machthaber ins Gebet nahm. Auch ein Zeichen von Doppelstandard eben.
Vor allem die EU wird nun beträchtliche Mittel aufbringen müssen, um Kiew vor dem finanziellen Kollaps zu retten, schon ist von mehreren Dutzend Milliarden Euro die Rede. Auch für Russland wird die Krim teuer – Sozialleistungen und Löhne sind an das höhere russische Niveau anzugleichen, Infrastruktur und Wirtschaft zu modernisieren. Wichtigstes Infrastrukturprojekt ist der Bau einer Brücke zwischen der Taman-Halbinsel und der Krimstadt Kertsch: Kosten von allein etwa zwei Milliarden Euro. Gelingt es Russland in den nächsten Jahren jedoch, das soziale und wirtschaftliche Niveau auf der Krim merklich anzuheben, wird das seine Ausstrahlung auf die Ukraine nicht verfehlen, vor allem wenn dort weiterhin Oligarchen das Sagen haben und die östlichen Landesteile wie bisher im Abseits stehen.
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