von Ulrich Busch
Es ist eine allseits bekannte Tatsache, dass die Ökonomie heutzutage in hohem Maße mathematisiert ist und dass in ihr komplizierte Formeln, mathematische Beweisführungen und ökonometrische Modelle gegenüber verbalen Ausführungen und deskriptiver Prosa überwiegen. Aber ist sie deshalb zu einer „Pseudo-Wissenschaft“ geworden? Werner Richter vertritt diese Position und fordert alle Gegner der in seinen Augen zu einer „Pseudo-Ökonomie“ verkommenen Wirtschaftswissenschaft(en) auf, sich zusammen zu tun, um „grundlegende Fragen der Wirtschaftstheorie“ alternativ zu diskutieren. Nachzulesen im Blättchen Nr. 22 vom 28. Oktober 2013.
Mit diesem Aufruf wird ganz sicher ein ehrliches und der Sache dienendes Anliegen verfolgt. Denn was kann es für einen alternativen Ökonomen Erstrebenswerteres geben, als dabei mitzuwirken, „der Wissenschaft wieder ihren Platz in der Ökonomie“ zu verschaffen. Dies ist jedoch kein geringer Anspruch. Schließlich geht es darum, vermeintlich „bewusst geschaffene Konfusionen über grundlegende Kategorien zu beseitigen“ und „Neo-ismen“ – wie den Neoliberalismus, Neokonservatismus, Neomonetarismus und so weiter – zu überwinden. Anders gesagt: Es geht um eine Generalkritik an der zeitgenössischen ökonomischen Theorie, ihrer Ansätze, Methoden und Inhalte. Ferner um die Entlarvung ihrer Repräsentanten, speziell der Exponenten der mathematischen Richtung seit Léon Walras, als „Pseudo-Ökonomen“. Dass sich unter dieser Spezies auch der größte Teil der Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften befindet, sei nur am Rande erwähnt.
Es soll hier unhinterfragt bleiben, ob sich der Initiator dieser Kritik mit seinem Anspruch nicht vielleicht etwas verhoben hat. Es wird auch darauf verzichtet, im Detail nachzuprüfen, ob wirklich alle oder die meisten der in den letzten Jahrzehnten hervorgebrachten und heute im öffentlichen Bewusstsein dominierenden ökonomischen Theoreme der „Wissenschaft Hohn“ sprechen, wie Richter behauptet. Stattdessen will ich zu bedenken geben, dass eine wissenschaftliche Kritik mindestens zwei Dinge zur Voraussetzung hat: Erstens das Verständnis des Kritisierten, sei es ein Werk, eine Methode oder ein Lösungsansatz für ein praktisches oder theoretisches Problem. Und zweitens ein Konzept für eine bessere Lösung, als die kritisierte Theorie sie bietet. Fehlt die erste Voraussetzung, so fehlt es der Kritik an Kompetenz und Seriosität. Sie bewegt sich fachlich dann nicht auf Augenhöhe mit dem Kritisierten und wird folglich nicht ernst genommen. Fehlt aber die zweite Voraussetzung, so handelt es sich nicht um eine konstruktive wissenschaftliche Kritik, sondern um bloße Krittelei: Man glaubt es besser zu wissen, bleibt den Beweis dafür aber schuldig.
Dem hier vorgestellten „Projekt“ scheinen bisher beide Voraussetzungen zu fehlen. Von ihm ist daher keine substanzielle Kritik der zeitgenössischen ökonomischen Theorie, analog etwa der „Kritik der politischen Ökonomie“, wie sie Karl Marx einst geliefert hat, zu erwarten. Was stattdessen herauskommen wird, ist bestenfalls eine Reminiszenz an die „klassische Ökonomie“ vergangener Zeiten. Vielleicht erschöpft sich das Ganze aber auch in unprofessioneller Krittelei.
Besonders heftig attackiert unser Autor die „üppig sprießenden, mathematisch gestützten neuen Wirtschaftsmodelle“. Zutreffend daran ist, dass es in den zurückliegenden Jahrzehnten in den Wirtschaftswissenschaften eine verstärkte und sich zunehmend verselbständigende Verwendung ökonometrischer Modelle gegeben hat. Dies hat bei einigen Ökonomen zu dem Irrtum geführt, man könne alles berechnen und jeden ökonomischen Sachverhalt, Prozess und Zusammenhang mathematisch abbilden, modellieren und extrapolieren. Derartige Fehleinschätzungen spielten, wie man heute weiß, auch im Kontext der jüngsten Finanzkrise eine bestimmte Rolle. Wer allerdings glaubt, sie seien die eigentliche Ursache für die Krise gewesen, der unterliegt einer Fehlwahrnehmung. Und wer annimmt, ohne höhere Mathematik und Statistik ließen sich die komplexen ökonomischen Zusammenhänge in der heutigen Geldwirtschaft besser und exakter abbilden, der irrt erst recht. Vor rund 300 Jahren prägte Gottfried Wilhelm Leibniz folgende Sentenz: „Ohne Philosophie dringt man niemals auf den Grund der Mathematik. Ohne Mathematik dringt man niemals auf den Grund der Philosophie. Ohne beide kommt man auf den Grund von gar nichts.“ Dies gilt nicht nur für die Philosophie, sondern in viel stärkerem Maße für die Ökonomie, da hier bereits der Gegenstand eine quantitative Dimension besitzt. Die von Leibniz angeführte Mathematik bezieht sich auf die Differenzialrechnung. Diese aber macht es überhaupt erst möglich, Prozesse und nicht nur Zustände exakt darzustellen. Sie ist für eine Analyse dynamischer Systeme, wozu die Wirtschaft zählt, deshalb unverzichtbar.
Wenn Sozial-, Politik-, Geschichts- oder Kulturwissenschaftler mitunter damit kokettieren, wenig von Mathematik zu verstehen, keine Formeln zu begreifen und niemals Texte zu lesen, worin Tabellen, Grafiken oder Formeln enthalten sind, so zeugt das nicht etwa von einem anderen Wissenschaftsverständnis, als vielmehr – in Anlehnung an Leibniz – von gar keinem. Dies gilt insbesondere dann, wenn es sich um ökonomische Fragen handelt, aber auch für soziale Probleme, die wirtschaftliche Aspekte implizieren.
Ein zentrales Thema der ökonomischen Theorie ist das „Auf“ und „Ab“ des Konjunkturverlaufs. Bisher sind alle Versuche gescheitert, diesen exakt zu berechnen und zuverlässig vorherzusagen. Groß ist daher jedes Mal die Häme bei den Kritikern der „Pseudo-Ökonomie“, wenn die Entwicklung anders ausfällt, als zuvor von den Konjunkturforschern mit Hilfe mathematischer Modelle prognostiziert. Aber wären die Prognosen ohne diese Modelle zutreffender? Schon Altmeister Marx hat sich mit diesem Problem herumgeschlagen und 1873 versucht, die „ups and downs als unregelmäßige Kurven zu berechnen und geglaubt […], daraus die Hauptgesetze der Krisen mathematisch zu bestimmen“. Dass er hierbei zu keinem befriedigenden Ergebnis gelangt ist und sein Vorhaben „vorläufig“ aufgeben musste, lag nicht daran, dass die Mathematik hier fehl am Platze gewesen wäre, sondern an seinem ungenügenden Kenntnisstand. Mit ausgereifteren Methoden lässt sich da heute sehr viel mehr erreichen. Aber die Komplexität der Wirtschaft ist inzwischen auch gewachsen, so dass das Unvermögen, den Konjunkturverlauf exakt vorherzubestimmen, fortbesteht. Die Lösung dafür ist in einer Verfeinerung der Methoden und einer Erweiterung der Modelle zu suchen. Dabei kommt eher mehr als weniger Mathematik zur Anwendung. Wer da mithalten oder konstruktive Kritik üben will, sollte über eine entsprechende Qualifikation verfügen. Mit allgemeinem Gerede über die Ökonomie als „politische Kategorie“ lässt sich da wenig ausrichten. Kompetenz bildet nun mal die wichtigste Voraussetzung für eine konstruktive Kritik. Alles andere endet letztlich in unprofessioneller Krittelei.
Schlagwörter: Ökonomie, Ulrich Busch, Werner Richter, Wirtschaftstheorie, Wirtschaftswissenschaft