von Erhard Crome
Am 30. August dieses Jahres wird in Berlin der „Whistleblower-Preis“ an Edward Snowden verliehen. Da die Bundesrepublik Deutschland es abgelehnt hat, Snowden aufzunehmen und nicht ausgeschlossen ist, dass sie ihn an die USA ausliefern würde, wäre er im Lande, wird dies sicherlich in Abwesenheit geschehen. Aber es wird stattfinden. Und bereits das ist ein klares politisches Signal.
Der „Whistleblower-Preis“ wurde von der deutschen Sektion der Juristinnen und Juristen gegen atomare, biologische und chemische Waffen (IALANA) zusammen mit der Vereinigung deutscher Wissenschaftler (VDW) gestiftet; in diesem Jahr beteiligt sich auch Transparency International an der Verleihung. Der Preis wird seit 1999 alle zwei Jahre an Persönlichkeiten vergeben, die Missstände aufdecken und nach außen bekannt machen, die ihnen in ihrer dienstlichen oder amtlichen Tätigkeit bekannt geworden sind. Ihre Kenntnisse als Insider oder Experten und ihre uneigennützige mutige Bereitschaft, Alarm zu schlagen, stellen oft die einzige Möglichkeit dar, in staatlichen Bürokratien, in der Wirtschaft, in Forschungs- und Entwicklungsabteilungen, aber auch in den internationalen Beziehungen Übelstände aufzudecken. Häufig tun sie dies unter Inkaufnahme beträchtlicher Risiken für Arbeitsplatz und Karriere. Dazu sagte 1999 der Richter am Bundesverfassungsgericht, Dr. Jürgen Kühling: „Das Recht schützt – auch bei uns – die dunklen Geheimnisse der Mächtigen. Wer rechtswidrige oder gemeinschädliche Handlungen staatlicher Stellen oder seines Arbeitgebers offenlegt, verletzt regelmäßig Verschwiegenheitspflichten und setzt sich Maßregelungen aus.“ Insofern soll die Preisverleihung einen Beitrag leisten zur Veränderung dieser gesellschaftlichen und rechtlichen Situation. Mit dem Preis werden Persönlichkeiten geehrt, die schwerwiegende, mit erheblichen Risiken oder Gefahren für Mensch und Gesellschaft, Umwelt oder Frieden verbundene Missstände aufgedeckt haben.
Im Zusammenhang mit Fragen von Krieg und Frieden steht Whistleblowing in besonderer Weise für widerständiges Handeln und ist in der Öffentlichkeit positiv besetzt, auch in den USA. Obwohl die konservative Presse, die „Sicherheitsfanatiker“ und die Regierung in den USA nicht aufhören, Edward Snowden unablässig als „Verräter“ zu denunzieren, hat SpiegelOnline am 1. August 2013 darauf hingewiesen, dass 55 Prozent der US-Amerikaner ihn eher für einen Whistleblower denn für einen Verräter halten.
Die Hetzjagd auf ihn soll dessen ungeachtet nicht aufhören, bis die US-Behörden seiner habhaft werden. Nachdem die russischen Behörden entschieden hatten, Snowden Asyl zu gewähren und ihn schützen, indem sein Aufenthaltsort nicht offengelegt wird, erklärte Obamas Sprecher Jay Carney im Namen seines Herrn: „Wir sind extrem enttäuscht“. Ein „Sehr“ reichte nicht, es musste „extrem“ sein. Also: „Wir sind extrem enttäuscht, dass die russische Regierung diesen Schritt unternommen hat, obwohl wir sie öffentlich und vertraulich sehr entschieden und rechtsgemäß darum gebeten hatten, Herrn Snowden an die USA auszuliefern.“ Das mit dem „Rechtsgemäß“ ist uninteressant; nach dem oben Dargelegten hat jeder Whistleblower gegen geltendes Recht verstoßen, weil dieses in aller Regel die dunklen Geheimnisse der Mächtigen schützt. Aber die Wendung „sehr entschieden“ ist wichtig, weil sie bedeutet, dass aus Sicht der USA jeder Staat in der Welt gehalten ist, einer solchen „Bitte“ zu folgen.
Deshalb hat denn auch der deutsche Innenminister in Washington den Gutgläubigen gemimt, hat die Bundesregierung sich geweigert, Snowden aufzunehmen, obwohl seine Informationen gerade auch für Deutschland und seine Bewohner von höchster Bedeutung sind. Und die EU hat frech gegen internationales Recht verstoßen, indem das Flugzeug des bolivianischen Präsidenten auf dem Heimweg von Moskau in Wien zur Landung gezwungen wurde; die einschlägigen Dienste hatten das Gerücht gestreut, Snowden sei mit an Bord. Ursprünglich hatten ihn ja lateinamerikanische Regierungen aufnehmen wollen, während in Moskau die Mühlen des Rechtsweges sehr langsam mahlten.
Schließlich jedoch hat Russland zugunsten von Snowden entschieden. Vielleicht auch wegen des US-amerikanischen Drucks. Die Absage eines Gipfeltreffens mit dem russischen Präsidenten durch den US-Präsidenten kommentierte jedenfalls Alexej Puschkow, der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses der russischen Staatsduma, mit den Worten: „Washington muss begreifen, dass Russland schon aufgehört hat, eine politische Kolonie der USA zu sein.“
Konservative Kräfte haben auch in Westeuropa die Schuld für diese Verschlechterung der Beziehungen Moskau zugeschoben. So sah die belgische Zeitung De Tijd einen neuen Kalten Krieg heraufziehen, allerdings mit einer neuen Überlegenheit des Westens: „Doch die Zeiten haben sich geändert und die Machtverhältnisse auch. Russland ist kein gleichwertiger Gegenspieler der USA mehr. Obama steht viel stärker da als Putin. Aber international wird dieser neue Kalte Krieg einen Faktor darstellen und wichtige Entscheidungen unnötig aussetzen oder verzögern.“ Die britische Financial Times schlug noch schärfere Töne an: „Am derzeitigen Regime im Kreml kann man kein gutes Haar lassen. Innerhalb des Landes verhält es sich äußerst unterdrückerisch und korrupt. In den internationalen Beziehungen ist es ständig auf Spaltung bedacht, wenn nicht gar zerstörerisch. Russland ist eine Großmacht, die vor einem langen Abstieg steht. Was es noch über Wasser hält, ist ein Meer an fossilen Brennstoffen… Das Gipfeltreffen hat schon im Vorfeld wenig versprochen. Daher war es vermutlich nicht schlecht, es abzusagen. Doch hier geht es um viel mehr, als um das Schicksal von Herrn Snowden.“ Zugespitzt heißt dies: Nur ein weiter geschwächtes Russland – das möglichst doch „eine Kolonie der USA“ ist – ist ein gutes Russland.
Der frühere sowjetische Diplomat und heutige russische Wissenschaftler, Valentin Falin, hat auf einer Veranstaltung in Berlin im vergangenen Jahr betont, dass es eine alte anti-russische Tradition in der Politik der Westmächte gibt. Mit den napoleonischen Kriegen waren russische Truppen bis nach Paris gekommen, ohne sie hätte es den Sieg über Napoleon nicht gegeben. Dennoch hatten die britische, die französische (es waren die Bourbonen, Napoleon saß gerade auf der Insel Elba) und die österreichische Regierung bereits 1814 vereinbart, Russland wieder aus „Europa“ zu verdrängen. Auch Ende des 19.Jahrhunderts richtete sich die Politik der Westmächte vor allem gegen Russland; Großbritannien hatte Japan 1905 zum Krieg gegen Russland ermuntert.
Im Jahre 1914 habe die britische Regierung damit gerechnet, dass es nach dem Anschlag auf den österreichischen Thronfolger zu einem „Vierer-Krieg“ zwischen Deutschland und Österreich einerseits gegen Russland und Serbien andererseits kommen würde. Churchill habe später gesagt, die Deutschen seien damals nicht klug genug gewesen, den richtigen Krieg zu führen; bei dem Vierer-Krieg hätte Großbritannien verhindert, dass Frankreich Russland gegen Deutschland Beistand leistet, und dann hätte Deutschland den ersten Weltkrieg gegen Russland gewonnen (und den zweiten hätte es nicht gegeben). Das Bemühen der Westmächte 1939, den Krieg gegen die Sowjetunion zuwenden, stand in dieser Tradition. Weder Hitler noch Chamberlain ging es um die Sowjetunion als sozialistisches Land, sondern gegen Russland, ganz gleich, ob der Zar oder Stalin regierten.
Auch der Sieg über Nazi-Deutschland war nur mit der Sowjetunion möglich. Gleichwohl diente der Kalte Krieg nach 1945 wieder dazu, Russland aus „Europa“ herauszudrängen. Die Fortsetzung der Politik gegen Russland nach 1991 steht in dieser Tradition. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass die anti-russische Politik des Westens auch Jahrzehnte nach dem Ende der Sowjetunion nicht aufhören will. So gilt offensichtlich auch für Obamas Absage: Am Ende geht es nur zum Teil um Snowden.
Schlagwörter: Edward Snowden, Erhard Crome, kalter Krieg, Russland, USA, Westmächte