16. Jahrgang | Nummer 12 | 10. Juni 2013

Querbeet (XXVI)

von Reinhard Wengierek

Meine Fundstücke im Kunstgestrüpp: Diesmal Raus-und-Rein deutscher Intendanten, Getön und Geträller Wiener Festwöchner.

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Am 16. Juni heißt es: Alles muss raus! Großer Kehraus bei Gorkis. Und in den fünf letzten Tage zuvor gibt es gar noch Novitäten: „Hofmeister“ von Lenz und von Stefan Heym ,,Fünf Tage im Juni“, jährt sich doch am 17. Juni zum 60. Mal der DDR-Volksaufstand. Es war vor sieben Jahren, als Armin Petras seine Intendanz am Berliner Gorki-Theater mit einem furiosen Spektakel aus zehn Stücken eröffnete; jetzt zum Finale also das Fünf-Tage-Spektakel. Da tobt noch einmal das unter Petras großartig gewachsene Ensemble auf allen Brettern und aus allen Rohren. Virtuosengewitter!

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Mit seinem überreichen, die Leistungsgrenzen gern sprengenden Programm-Mix aus Repertoirestücken und massenhaft Neuerfundenem (Romanadaptionen, spartenübergreifende Projektentwicklungen) war dieses schmucke Theaterchen gegenüber der Staatsoper hinter der Neuen Wache Unter den Linden stets fest verankert in der Stadt – und vielfach überregional bewundert. Beeindruckend die Fülle der hier entdeckten und in den Ruhm geförderten Regie-Handschriften. Und beeindruckend, oft auch irritierend, aber immer nachwirkend das für alle Produktionen dieses Instituts typische, zuweilen extreme Spannungsverhältnis zwischen Historischem und Gegenwärtigen; ob mit klassischen Texten oder zeitgenössischen Kreationen.

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Nun also löst die tolle Truppe sich auf. Alle sind wohlversorgt mit durchweg erstklassigen Anschluss-Engagements. So liefert das kleinste, hinsichtlich seiner finanziellen Versorgung ärmste (Ach, Hauptstadtkulturpolitik!), aber vielleicht fleißigste Berliner Staatstheater seine Stars an Großbühnen in ganz Deutschland – sogar bis nach Wien ans Burgtheater. Damit ist die flotte Petras-Hütte dann erst mal leer. Und Shermin Langhoff, die künftige Intendantin und in diesem Amt die erste mit Migrationshintergrund, die hat schwer zu tun mit Frischholz-Stapeln: Mit neuem Programm, neuem Profil, neuem Ensemble. Wir sind neugierig und sagen Toi-toi-toi. Und wünschen dem rastlosen Petras alles Glück im Schwabenland; er nämlich geht ans wohlhabende Stuttgarter Staatsschauspiel.

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Es lebe also der Wechsel, der auch sein Gutes hat: Künstlertruppen werden nicht einbetoniert. Der Nachteil solcher Rochaden: Womöglich glänzende Truppen werden aufgelöst. Kluge Neu-Intendanten suchen deshalb aus „alten“ und „neuen“ Leuten die optimale Mischung für neuerlichen Glanz. Langhoff beispielsweise übernimmt das Gorki als künstlerisch besenreines Haus und fängt bei Null an. Petras jedoch schleppt einen Großteil seiner Gorki-Spieler mit nach Stuttgart. Von dort wiederum nahm dessen Vorgänger Hasko Weber einen Teil seiner Lieblinge mit zu seiner neuen Wirkungsstätte Nationaltheater Weimar – so rast das Raus und Rein.
Das gegenwärtig ärgerlichste Wechsel betrifft Leipzig. Dort präsentierte ein sehr starkes Talent, Sebastian Hartmann, mit großem, originärem Wollen ein – wie zuvor von der Stadt gefordert! – avanciertes, für Leipzig neuartiges und also polarisierendes Programm. Und wurde dann in den tatsächlich ausbrechenden schweren Pro-Kontra-Schlachten von der Stadtregierung wie von den lokalen Medien schmählich allein gelassen, ja sogar bekämpft. Man musste ja nicht jede Produktion goutieren. Doch eigentlich blieb jede im Gedächtnis haften – viel Stoff zum Grübeln. Nachhaltigkeit! In jedem Fall auf ästhetisch großstädtischem Niveau – vor allerdings größtenteils kleinstädtischem Publikumsniveau. Immerhin, zuletzt hat Intendant Hartmann sein (junges) Volk gefunden, aber die kreative Zuwendung einer kleinkarierten Kulturpolitik verloren. Es waren insgesamt äußerst bemerkenswerte Hartmann-Jahre! Für den aus Chemnitz kommenden Nachfolger Enrico Lübbe, auch ein begabter regieführender Chef, der entgegen dem Votum einer Findungskommission in kulturstadträtlicher Herrlichkeit eingesetzt wurde, für Lübbe wird es wohl ziemlich schwer werden. Ein moderates Allerwelts-Stadttheater-Programm dürfte keine Alternative sein zum ostentativen Hartmann-Extremismus, den man nicht hätte vorschnell abwürgen, sondern mutig ein paar Jahre weitertreiben lassen sollen.

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Noch eine Personalie zum Intendanten-Bäumchen-Wechsle-Dich-Spiel: 2016 wird Claus Peymann das Berliner Ensemble verlassen. Schon jetzt, so ward verkündet, tüftele er an „kräftigen Schlusspunkten“ seiner dann 17jährigen Dienstzeit am Schiffbauerdamm. Die Neubesetzung dieses Amtes könnte die deutschlandweit spannendste werden. Neben der parallel anstehenden Neubesetzung der Berliner Volksbühnen-Führung nach etwa einem Vierteljahrhundert. Dann nämlich ist auch Frank Castorf länger im Amt als weiland DDR-Staats- und SED-Parteichef Walter Ulbricht – und längst Rentner. Der seit langem flügge gewordene Nachwuchs giert nach Führungsposten!

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Nun wieder Wien! Und wirklich, auch heuer ist jeder Quadratmeter öffentliche Rasenfläche korrekt rasiert und gezupft. Ein Detail, das für die unermüdliche Schönheitspflege spricht, die dieser Stadt eigen. Und zur Begrüßung lodert die Schlagzeile aller Blätter: „Zahl der Austro-Millionäre steigt um 5.500 auf 77.600“. Im Jahr 2012 vermehrten die wohlhabenden Österreicher ihr Vermögen um zehn Prozent auf 245 Milliarden Euro. Und auf den gesamten deutschen Sprachraum bezogen: Ein Prozent der Bevölkerung verfügt über ein Drittel des Privatvermögens. Aha, so geht Krise!

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Der Anfang in der süßen Sachertortenstadt: Sturm und Regen. Das Sommernachtskonzert der Philharmoniker unter Lorin Maazel, auch mit 83 Lenzen stramm stehend am Pult im schneeweißen Jackett, wurde zum Winternachtskonzert im saukalten Park zwischen Schloss und Gloriette Schönbrunn. Freilich bei freiem Eintritt. Es ist die weltweit zweitgrößte TV-Liveübertragung des ORF (70 Länder!) nach dem Neujahrshappening aus dem Musikvereinssaal. Das Programm: Verdi und Wagner zu deren 200. Geburtstag; privat sind beide sich lebenslang aus dem Weg gegangen. Der Nummernmix etwas gewöhnungsbedürftig: Triumphmarsch aus „Aida“ neben Vorspiel und Liebestod aus „Tristan und Isolde“, die Tänze aus „Otello“ neben der Gralserzählung aus „Lohengrin“ mit Startenor Michael Schade, der sich mit diesem Hit erstmals als Wagner-Sänger der Weltöffentlichkeit einschmeichelte. Der CD-Mitschnitt der Klassik-Show ist bereits im Handel, das Sony-Geschäft floriert.

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Wiener Festwochen, zweite Halbzeit. Das traditionsreiche, extrem hoch subventionierte Festival als Aushängeschild von Stadt und Staat konzentriert sich wie immer in den letzten Jahren unter Intendant Luc Bondy jenseits gängiger Stadt- und Staatstheaterprogramme auf Sprengung der Spartengrenzen, auf international besetzte Parcours, Performances, Projekte. Also auf neue Formen und Formate, die freilich längst auch andernorts und nicht nur zu Festivals intensiv gepflegt werden. Es gibt ein paar mit Stars glamourös verpackte große Brocken und nahezu unübersichtlich viel Kleinteiliges, das ein bisschen verschwindet im ohnehin unentwegt wogenden Kulturgroßangebot dieser Stadt.
Zum betont werkstattmäßigen Auftritt der „Festwochen“ passend das Turnschuh-Outfit des jungen, äußerst freundlichen Service-Personals: Frische feuerwehrrote T-Shirts mit weißem Schriftzug im hippen Englisch auf Brust und Rücken. Man darf sich zusammenbuchstabieren: „How – to get – from here – to there“. Wie lustig.

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Im Opernprogramm (Schauspiel-Splitter im nächsten Querbeet) Philipp Stölzls Neuinszenierung „Il trovatore“ von Verdi als Schluss-Stück der „Trilogia popolare“, nach „Traviata“ und „Rigoletto“ in den vergangenen zwei Jahren im Theater an der Wien.
Einerseits ist die Handlung vom „Troubadour“ ziemlich konfus, anderseits quasi eine konzentrierte Folge hochdramatischer Exzesse. Das verführte den vom Film (Videos für Popstars) kommenden Regisseur aus Berlin, der dort an der Staatsoper zuletzt „Parsifal“ leicht verworren bebilderte, alle Figuren und Chöre als Karikaturen ihrer selbst bloßzustellen, was wiederum aufs unerfreulichste mit Verdis aufregender Explosionsmusik kollidierte.
Doch die enorme Durchschlagskraft des Komponisten – der sexy bärtige Dirigent Omer Meir Wellber drückte überflüssigerweise lauthals auf die Tube – war durch keinen der vielen albernen Stölzl-Regieeinfälle zu bremsen. Faszinierend jedoch, abgesehen vom jugendlich viril wirkenden Vierer-Ensemble Artur Rocinski, Carmen Giannattasio, Marina Prudenskaya, Yonghoon Lee (Caruso meinte, das Werk sein ganz einfach zu besetzen mit einem Quartett bloß weltbester Sänger), faszinierend also jenseits vom hochdramatischen Supergesang die gekonnt raffinierten Video-Einspielungen der Firma mit dem appetitlichen Namen „Fettfilm“, die seelische Zustände der Hauptfiguren surreal illuminieren.
Der unverwüstliche Verdi-Hit kommt auch an die Berliner Staatsoper mit Anna Netrebko und Placido Domingo. Und ich bin neugierig, wie der etwas ältere Herr wohl mit dem Strumpfhosenkostüm klar kommt. Baba – so sagt man hier zum Abschied leise – bis zum nächsten Querbeet.