von Ulrich Busch
Mit der Interpretation der Krise als Schuldenkrise, genauer Staatsschuldenkrise, rückt der Schuldenbegriff in den Fokus der politischen Auseinandersetzung. Aber, was sind in einer Geldwirtschaft wie der unsrigen eigentlich Schulden? Und warum sind Staatshaushalte in aller Regel defizitär? Weshalb zahlt kein Staat jemals seine Schulden vollständig zurück, sondern wachsen diese vielmehr Jahr für Jahr, ohne dass die Staaten unter ihrer Schuldenlast zusammenbrechen würden?
Die hier formulierten Fragen berühren komplizierte volkswirtschaftliche Zusammenhänge. Ihre ökonomisch qualifizierte Beantwortung vermag daher nicht jeden sofort zu überzeugen. Auch erfordert diese mehr als populäre Schlagworte oder leicht eingehende Vergleiche wie den von der „schwäbischen Hausfrau“ oder dem „vorsorglichen Hausvater“, wie sie unsere Politiker gern verwenden, um auch noch den letzten Bürger und die letzte Bürgerin für ihr Wahlprogramm zu gewinnen. Man bedient sich daher einfacher Formeln und griffiger Losungen oder knüpft einfach an populäre, nichtsdestotrotz zumeist aber unzutreffende Vorurteile an. Diese sprechen dann für sich und brauchen weder begründet noch durch Fakten belegt zu werden. Ja, sie verselbständigen sich geradezu und nehmen den Charakter von Legenden an.
Eine solche Legende besteht in der Behauptung, Staatsschulden würden dem wirtschaftlichen Wachstum schaden. Dass dies falsch ist, wusste schon Lorenz von Stein, ein angesehener Finanzwissenschaftler des 19. Jahrhunderts. Er schrieb 1871, dass ein Staat ohne Staatsschuld entweder „zu wenig für seine Zukunft“ tut oder „zu viel von seiner Gegenwart“ fordert. Ersteres gilt, wenn der Staat auf Zukunftsinvestitionen verzichtet, weil er diese über Kredite finanzieren müsste. Letzteres trifft zu, wenn ein Staat Zukunftsinvestitionen, wovon mehrere Generationen einen Nutzen haben, zwar tätigt, diese aber vollständig aus den laufenden Steuereinnahmen, also auf Kosten der Gegenwart, finanziert. In beiden Fällen verhielten sich Finanzierung und Nutzen asynchron. Die Konsequenz wäre ein Wachstumsverzicht. Durch eine Kreditaufnahme aber ließen sich Finanzierung und Nutzen in Übereinstimmung bringen und so ein höheres Wirtschaftswachstum und größerer Wohlstand erzielen.
Eine hiervon abweichende Auffassung räumt zwar ein, dass eine Kreditaufnahme des Staates ökonomisches Wachstum fördert, behauptet aber zugleich, dass es dafür eine streng fixierte Grenze gibt. Diese ließe sich anhand der Höhe der Staatschuldenquote, also aus dem Verhältnis von Staatsschulden und Bruttoinlandsprodukt, bestimmen. Als Beleg dafür wird eine Studie der US-Ökonomen Rogoff und Reinhart angeführt. Danach wirkt eine Staatsschuldenquote von mehr als 90 Prozent wachstumshemmend. Nun gab es angesichts der tatsächlichen Differenzierung der Schuldenquoten (2012: Deutschland: 81,7 Prozent, Estland: 10,5 Prozent, Griechenland: 176,7 Prozent, Italien 126,5 Prozent, Finnland: 53,1 Prozent, Japan: 240,6 Prozent, USA: 109,6 Prozent – um nur einige zu nennen) und der damit kaum korrelierenden Wachstumsraten schon länger Zweifel an dieser Studie. Zuletzt wurde ihre Richtigkeit durch den Aufschwung in Japan infrage gestellt. Nachdem nun auch noch Rechenfehler festgestellt wurden, ist es mehr als zweifelhaft, ob überhaupt eine allgemeinverbindliche fixe Grenze für die Staatsverschuldung existiert. Trotzdem aber liest man täglich, dass eine Verschuldung oberhalb von 60 Prozent Wachstum und Wohlstand gefährde. – Es ist dies eine Legende, mehr nicht. Die wirkliche „Grenze“ der Staatsverschuldung ist demgegenüber sehr flexibel und ergibt sich aus der Relation von Wachstumsrate und Zins.
Eine andere Legende speist sich aus der Angst vor einer eskalierenden Inflation infolge steigender Staatsschulden. Auch hier wird in unzulässiger Vereinfachung der Wirkungskette davon ausgegangen, dass sämtliche Staatsschulden monetisiert und als zusätzliche Nachfrage die Preise nach oben ziehen würden. Tatsächlich aber hängt der Preisanstieg vom Konjunkturverlauf ab und nicht von der Höhe der Staatsschulden. Die Erfahrungen der letzten Jahre haben dies anschaulich bestätigt, nichtsdestotrotz aber hält die Angstmache in den Medien an und wird der Anstieg der Staatsschulden dafür verantwortlich gemacht, wenn Preise steigen.
Ein besonderes Feld ökonomischer Legendenbildung bietet die Darstellung der Ursachen des Schuldenanstiegs. Hier reichen die „Erklärungen“ von der Behauptung, die (zu) großzügige Sozialpolitik sei schuld, über die vermeintliche Verschwendungssucht des Staates bis hin zur Denunziation einzelner Ausgabeposten. Ersteres Argument erfüllt eine politische Alibifunktion: Indem behauptet wird, die Sozialausgaben seien der maßgebende Grund für die gestiegene Staatsverschuldung, lässt sich eine Kürzung derselben als geeignetes Mittel zur Konsolidierung der Staatsfinanzen begründen. „Maßhalten und Sparen“ erscheinen als „Gebot der Stunde“ und Konsolidierung bedeutet vor allem, die Sozialausgaben zu verringern. Tatsächlich aber stellt eine derartige Betrachtung die Logik der Finanzpolitik auf den Kopf: Richtig wäre es, die Einnahmen des Staates zu erhöhen. In der Ableitungskette für die Staatsfinanzen bilden nämlich die aus den Aufgaben des Staates abgeleiteten Ausgaben das erste Glied. Zu deren Realisierung sind dann entsprechende Einnahmen erforderlich. Dies unterscheidet den Haushalt eines Staates von dem einer schwäbischen Hausfrau, wo es umgekehrt zugehen sollte.
Verbreitet ist es auch, ungeliebte Ausgabeposten für die Fehlentwicklung des Gesamthaushalts verantwortlich zu machen. So zum Beispiel die „deutsche Einigung“ oder den „Aufbau Ost“. Dies ist besonders kritikwürdig, da hier unter der Hand alte Ressentiments bedient werden und die Ostdeutschen als vermeintliche Nutznießer der Staatsschuld und als „Verderber“ der bundesdeutschen Staatsfinanzen erscheinen. Zugleich lassen sich, indem „der Osten“ zum Sündenbock für die Finanzmisere des Staates gemacht wird, eigene Versäumnisse hinter geheuchelten Solidaritätsbekundungen verstecken. Erstaunlich ist, dass derartige Legenden keineswegs nur von ewig Gestrigen, die nach wie vor von „Deutschland“ und der „ehemaligen DDR“ sprechen, wenn sie West- und Ostdeutschland meinen, verbreitet werden, sondern auch von alternativen Ökonomen. So kann man beispielsweise im jüngsten „Memorandum“ (Umverteilen – Alternativen der Wirtschaftspolitik, Köln 2013) auf Seite 139 lesen, dass sich „die Staatsverschuldung allein infolge der Finanzierung der deutschen Einigung seit 1990 verdreifacht“ habe. – Verdreifacht hat sie sich in der Tat, aber ist dies wirklich „allein“ Folge der deutschen Einheit? Keineswegs! Als die DDR am 3. Oktober 1990 der Bundesrepublik beitrat, übernahmen die Ostdeutschen wegen der niedrigeren Staatsschuldenquote der DDR pro Kopf mehr Schulden als sie mitbrachten. Alles Weitere ist der Vereinigungspolitik anzulasten, nicht der DDR. Aber, die oben genannte Aussage stimmt trotzdem nicht. Für die 1990er Jahre errechnete die Deutsche Bundesbank, dass rund „die Hälfte der Zunahme der Gesamtverschuldung“ auf die Wiedervereinigung entfalle. Rund die Hälfte! Im folgenden Jahrzehnt dürfte es noch weniger gewesen sein. Eine Darstellung, wie hier aus dem „Memorandum“ zitiert wurde, ist also schlichtweg falsch. Gleichwohl aber ist sie inzwischen zur Legende geworden und dient der Behauptung, die Finanzierung der Einheit sei der einzige Grund für den massiven Anstieg der Staatsverschuldung, während die anderen Gründe dafür, die Steuersenkungspolitik seit 1998, die Kosten für die Kriege im Irak, auf dem Balkan und in Afghanistan sowie für zahlreiche weitere Bundeswehrmissionen, die Milliarden für die Bankenrettung und die Konjunkturprogramme während der letzten Krise, ausgeblendet bleiben.
Die Wahrheit setzt voraus, alle Posten zu berücksichtigen, während die Fokussierung auf nur einen Aspekt einer zweifelhaften Legendenbildung dient. Egal, ob dies von „links“ oder von „rechts“ der Fall ist.
Schlagwörter: deutsche Einheit, Schuldenkrise, Staatsschulden, Ulrich Busch