von Edgar Benkwitz
Der Tod von acht NATO-Soldaten – darunter ein Deutscher – an einem Wochenende im Verlauf der Frühjahrsoffensive der Taliban hat Afghanistan zurück in die Schlagzeilen gebracht. In den letzten Monaten schien sich dort nach den Worten unserer Politiker alles günstig zu entwickeln: die Taliban geschwächt, grosse Teile des Landes befriedet, afghanische Kräfte übernehmen zunehmend die bisher von den ISAF-Truppen ausgeübte Sicherung des Landes, die NATO-Kampftruppen bereiten sich auf das Verlassen des Landes vor. Und nun diese Nachrichten, die verdeutlichen, dass es in dem leidgeprüften Land vielleicht doch nicht so aufwärts geht, wie es uns ständig verkündet wird.
Bekanntlich soll in einem Jahr der vollständige Rückzug der NATO-Kampftruppen aus Afghanistan in seine Endphase eintreten. Ende 2014 werden dann „nur“ noch 12.000 Soldaten als Ausbilder der afghanischen Streitkräfte sowie 6.000 Soldaten als sogenannte Eingreifkräfte im Land bleiben. So die bisherigen Vorstellungen der NATO. Eine konkrete Beschlussfassung darüber liegt aber bisher nicht vor. NATO-Generalsekretär Rasmussen musste sogar die für den 17. Juni vorgesehene NATO-Konferenz zu Afghanistan absagen. Der Grund für diese Situation sind nach Medienberichten Meinungsunterschiede zwischen den NATO-Mitgliedern sowie Differenzen zwischen Kabul und Washington. Das Hauptproblem ist jedoch der Abschluss eines neuen Sicherherheitsabkommens zwischen den USA und Afghanistan, über das seit Ende des letzten Jahres verhandelt wird und das die Rolle der USA in Afghanistan nach 2014 regeln soll. Präsident Karzai erläuterte nun Anfang Mai, welche grundlegenden Fragen Afghanistan in dem Abkommen behandelt sehen möchte. So soll der Auftrag der US-Truppen mit den afghanischen Sicherheitsbedürfnissen verbunden werden (wie Ausbildung afghanischer Streitkräfte, Operationen gegen bestimmte militante Gruppierungen), ferner wie viele und welche Militärstützpunkte Afghanistan den USA verpachtet und – last but not least – die materielle und finanzielle Sicherstellung aller Aktivitäten und Vorhaben. Jüngst brachte Karzai noch den Schutz afghanischer Grenzen vor feindlichen Aktivitäten ins Spiel, für die die USA sich auch verantwortlich fühlen sollten. Gemeint ist natürlich die Grenze zu Pakistan, über die militante Taliban aus ihren pakistanischen Schutzgebieten nach Afghanistan wechseln.
Beobachter meinen, dass die Aushandlung solch eines umfassenden Abkommens seine Zeit braucht, die Rede ist von einem weiteren Jahr. Erst dann könnten die USA, die NATO und damit auch Deutschland konkrete Beschlüsse über die weitere Gestaltung ihrer Präsenz nach 2014 fassen.
In knapp einem Jahr, im April 2014, wird in Afghanistan auch ein neuer Präsident gewählt. Naheliegend ist, dass Karzai den Abschluss des Abkommens bis zu diesem Zeitpunkt hinauszögert. In dieser Zeit will er seine Stellung und die seines Clans in Kabul festigen. Die Reibereien mit den USA kommen ihm so gerade recht. Karzai kann nach zwei Amtsperioden nicht mehr zur Wahl antreten, so soll ein ihm genehmer Nachfolger gefunden werden. Der antiamerikanischen Stimmung in der Bevölkerung schenkt Karzai besondere Beachtung. Seine kritischen Worte und die Forderungen an die USA sind zugleich an die Taliban adressiert, die nach wie vor Karzai als einen Statthalter der Amerikaner betrachten. Er möchte mit ihnen selbst ins Gespräch kommen, befürchtet er doch, dass die USA mit Taliban-Gruppierungen an ihm vorbei zu Abmachungen kommen könnten.
Natürlich betreibt Präsident Karzai ein riskantes Spiel. Einerseits braucht er die westliche Präsenz sowohl für seine persönliche Sicherheit als auch für den Strom von Finanzmitteln, andererseits versucht er die prekäre Lage der USA und ihrer Verbündeten größtmöglich auszunutzen. Der gewiefte Karzai weiss, dass es zu ihm im Moment keine Alternative gibt. Der Zerfall der ohnehin schwachen Zentralgewalt, die Oberhoheit rivalisierender Clans und Stämme und letztendlich die Machtergreifung durch die Taliban – das ist das Schreckgespenst, vor dem sich alle fürchten.
Präsident Karzai entwickelte in der letzten Zeit auch verstärkt Aktivitäten, sich international aufzuwerten. Auch Finnland, Estland und Dänemark, wo er Anfang Mai weilte, waren ihm eine Reise wert. Besonderes Gewicht misst er aber seinen grossen Nachbarstaaten Russland, China und Indien bei. Mit ihnen wurden „strategische Partnerschaften“ abgeschlossen. Vor allem diese Länder, aber auch der Iran und die fünf mittelasiatischen Staaten bereiten sich ihrerseits auf die Zeit nach 2014 vor. Alle fürchten, dass ein entstehendes Machtvakuum durch die Taliban besetzt wird und der militante Islamismus auf ihre Länder übergreift. Auch die Furcht vor Drogenschmuggel aus Afghanistan scheint gross zu sein und nicht zuletzt sollen die Investitionen der letzten Jahre geschützt werden. China will schon in wenigen Wochen mit der Erdölförderung in Afghanistan beginnen, während Indien kräftig in den Abbau von Kupfer und Eisenerz investiert.
Alle diese Staaten sehen gegenwärtig im Regime Karzai, unterstützt durch begrenzte westliche militärische Aktivitäten, eine praktikable politische Lösung. Das umso mehr, da Pakistan nicht zu bewegen ist, seine Unterstützung für die Taliban aufzugeben. Am weitesten geht hier Indien, das ein durch Pakistan talibanisiertes Afghanistan und deren Zusammengehen fürchtet. Die Auswirkungen auf den Kaschmirkonflikt und generell auf die muslimische Bevölkerung in Indien werden in den schwärzesten Farben gezeichnet.
Seit Bekanntwerden der Rückzugspläne der USA und ihrer Verbündeten gibt es rege diplomatische Aktivitäten der Nachbarstaaten. Die neu entstehende Lage soll nicht dem Selbstlauf überlassen werden. Lose Koalitionen formieren sich: neben einem Informationsaustausch soll die Politik gegenüber Afghanistan koordiniert werden. Das ist zum Beispiel das Ergebnis eines Treffens in Moskau zwischen Vertretern Russlands, Chinas und Indiens. Russland macht seinen Einfluss in den mittelasiatischen Staaten geltend. Präsident Putin erklärte kürzlich nach einem Treffen mit dem Präsidenten Usbekistans, Karimow: „Wir haben vor, der afghanischen Staatsführung bei der Stabilisierung der militärpolitischen Situation und bei der Bekämpfung der Drogengefahr, des Terrorismus und Extremismus alle notwendige Hilfe zu erweisen.“ Auf Russland kämen auch noch andere Aufgaben zu. Die afghanische Armee ist teilweise mit russischen Waffen und Ausrüstungen bestückt, die ersetzt und fachgerecht gewartet werden müssen. Im Gespräch ist die Einrichtung von Wartungsstützpunkten. Auch zwei alte Rivalen in der Region, China und Indien führten auf Wunsch Chinas hochrangige Konsultationen zu Afghanistan durch. Bezeichnenderweise wird die erste Auslandsreise des neuen chinesischen Ministerpräsidenten in Kürze nach Indien und danach erst nach Pakistan führen. Schliesslich baut Indien über den Iran – unter Umgehung Pakistans – mit beträchtlichen Mitteln eine Infrastruktur zur Unterstützung Afghanistans auf. Mit 100 Millionen Dollar wurde der Hafen Chabahar ausgebaut, über den bereits 100.000 Tonnen Weizen nach Afghanistan transportiert wurden. Hunderte Kilometer Strassen werden vom Hafen nach Zentralafghanistan von Indien gebaut. Ein Transitabkommen zwischen den drei Ländern soll abgeschlossen werden.
Afghanistan ist nach wie vor ein internationaler Unruheherd. Ob er befriedet werden kann, hängt im hohen Masse vom Zusammenspiel äusserer und innerer Faktoren ab. Trotz Problemen wird es in der nächsten Zeit zu einer bedeutenden Reduzierung der westlichen Militärpräsenz kommen. Ist das die Chance, auf die islamistische Kreise sowohl in Afghanistan als auch in Pakistan warten? Welche Rolle wird die afghanische Armee spielen? Und wie können schliesslich die grossen Nachbarstaaten, vor allem China, Einfluss auf die neue Lage nehmen?
Auf diese Fragen kann heute niemand eine Antwort geben.
Schlagwörter: Afghanistan, China, Edgar Benkwitz, Indien, NATO, Russland, Taliban