16. Jahrgang | Nummer 8 | 15. April 2013

Streifzüge durch Prag

von Renate Hoffmann

Mit Smetanas „Moldau“ im Ohr, fuhr ich in diese Stadt. Sie zeigte sich kühl, trug noch Schneereste auf Dächern und an Straßenrändern – aber sie zeigte sich empfangsbereit. Der Fluss grüßte, die Pracht der Fassaden, Karl IV. vor seiner Brücke am Kreuzherrenplatz. Es grüßten Burg und St. Veitsdom von der Höhe und Plätze, Straßen in der Altstadt, auf denen Kafka und Kisch gegangen sind und Mozart und Dvořak; Kepler, Einstein und alle die Anderen.
Ich trete ein in das Wundergebilde Prag. Verlaufe mich darin durch zu viele Blicke nach oben, die den Überschwang der Jugendstilmotive aufnehmen, die Zier des Rokoko, den Prunk des Barock und die Strenge des Klassizismus. Wappen und Inschriften (am Ständetheater: Hier wurde am 29. 10. 1787 Mozarts „Don Giovanni“ uraufgeführt.). Und weit, weit oben über der Stadt, kaum noch erkennbar, ein Bündel bunter Luftballons.
Die Flanierenden vergraben ihre Hände in den Taschen; die Mutigen sitzen bereits vor den Cafés, in Decken gehüllt und von Wärmespendern wohlig umfangen. Junge Leute tragen chice Moden aus, ältere Damen ihre wiederhervorgeholten Pelze. Musik ertönt aus allen Winkeln; eine Drehorgel spielt wehmütige, von Seufzern unterbrochene Melodien. In der Stepancka, einer Nebenstraße vom Wenzelsplatz, ahmt eine Klarinette am offenen Fenster Kuckucksrufe nach. Vor der Auslage des kleinen Marionettenladens bleibe ich stehen. Gesichter, dicht bei dicht, sehen mich an, fragende Blicke hin und her. In der Theynkirche suche ich nach dem Grabmal des Astronomen Tycho Brahe. Kreuzetragende Kuppeln und Türme ragen – mal hier, mal dort – himmelwärts. Und allüberall Jugendstil, bis an die Grenzen ausgeformt.
Nahe der Spanischen Synagoge, unfern der einstigen Judenstadt, steht, Franz Kafka (1883-1924) zu Ehren, eine Skulptur mit verborgenem Sinngehalt. Auf den Schultern einer kopflosen, ungelenken, zur leeren Hülle erstarrten männlichen Figur sitzt Kafka. Schmal, wie er immer war. Konzentrierter Denker mit Hut, den er öfter trug. Seine Hand deutet auf etwas nicht Fassbares. Der Bildhauer Jaroslav Róna erklärte, beim Lesen von Kafkas Beschreibung eines Kampfes habe er die Gestaltungsidee gefunden. – Prag prägte den Dichter „Das ist keine Stadt“, schrieb er, „das ist der zerklüftete Boden eines Zeitozeans, bedeckt mit dem Steingeröll verglühter Träume und Leidenschaften.“
Um Einblick in Kafkas Leben zu nehmen, wechsle ich von der Altstadt zur „Prager Kleinseite“ hinüber und überquere die Karlsbrücke. Schiebe, winde, dränge mich durch die kosmopolitische Völkerwanderung, durch Maler, Fotografen, Händler, Musikanten, Kinderwagen, Hunde. Nicht Johannes von Nepomuk, einen der Brückenheiligen und „Glücksbringer“ visiere ich an, sondern Antonius von Padua, den „Wiederfinder“, sollte irgendetwas an mir im Gewühl verloren gehen.
Das Kafka-Museum, am linken Moldauufer in einer gewesenen Ziegelei aufgetan, gibt unvermittelt des Literaten Gefühls- und Gedankenwelt wider. Abgedunkelte Räume, Geräusche, Krähenschreie, leise Klänge aus Smetanas „Moldau“. Eingebunden sind die Familiengeschichte und Fotografien, die Kafkas Bild von Prag am Übergang zum 20. Jahrhundert erstehen lassen: „In uns leben noch immer die dunklen Winkel, geheimnisvollen Gänge, blinden Fenster, schmutzigen Höfe […]“
Man folgt seinen Kinder- und Jugendtagen, den vielen Umzügen der Familie in der Stadt und der schulischen Bildung. „Wenn ich es bedenke, so muß ich sagen, daß mir meine Erziehung in mancher Richtung sehr geschadet hat.“ – Das „Absolutorium“ der Deutschen Carl-Ferdinand-Universität liegt aus und bestätigt, dass „Franz Kafka vom Winter Sem. des Studienjahres 1901/02 bis zum Schluß des Studienjahres 1904/05 die rechts- und staatswissenschaftlichen Studien […] vollendet“ hat.
Des Dichters Freundeskreis erschließt sich und die Künstlerschar im ‚Café Arco’ in der Hibernergasse (Hybernská), mit Egon Erwin Kisch, Leo Perutz, Franz Werfel; in dem später auch Tucholsky und Alfred Kubin saßen. Kafka an Max Brod: „Wie wäre es, wenn Du gleich ein bischen ins ‚Arco’ kämest, nicht auf lange, Gott behüte, nur mir zu Gefallen.“
Tagebucheintragungen zeichnen seinen Berufsweg als Jurist nach, den er widerwillig ging: „Mein Posten ist mir unerträglich.“ Kafkas Briefwechsel mit Verwandten, Freunden, Verlegern – und mit Frauen ist einzusehen. Der erste Brief an die nachmalige Verlobte Felice Bauer liest sich wie ein höflich-heiterer Anbandelungs-Versuch (30. September 1912): „Sehr geehrtes Fräulein! Für den leicht möglichen Fall, daß Sie sich meiner auch im geringsten nicht erinnern könnten, stelle ich mich noch einmal vor: Ich heiße Franz Kafka und bin der Mensch, der Sie zum ersten Mal beim Herrn Direktor Brod in Prag begrüßte […] “
Begleitet wird das Lebensbild von Manuskripten, frühen Veröffentlichungen, Erstausgaben der Romane und Erzählungen, von Berichten über den schweren Krankheitsverlauf Kafkas und endet mit Max Brods Nachruf im Prager Tagblatt vom 4. Juni 1924: „Gestern ist im Sanatorium Kierling der Dichter Franz Kafka gestorben. Im 41. Lebensjahr […] “
Kabinette und dunkle Gänge verbreiten Stimmungen, wie sie über Kafkas großen Romanen liegen. – Um die düsteren Bilder hinter mir zu lassen, eile ich zu Alphonse Mucha (1860-1939), dem Wegbereiter und Meister des Jugendstils.
In den Museumsräumen überwiegen Helligkeit, Verschwendung, ätherische Schönheit, Überfülle und erotischer Duft. Der Plakatkünstler, Zeichner, Maler aus Mähren (Morava) verstand sich gleichwohl auch als Mitgestalter eines neuen Lebensgefühls. Sein Credo: „Nicht nur Nutzen – sondern auch Schönheit“ sollte den Aufschwung der Technik an der Wende zum 20. Jahrhundert bestimmen. In der Fülle der großformatigen „Panneaux décoratifs“ aus Muchas Pariser Zeit, ist das Plakat „Gismonda“ (Melodrama von Victorien Sardou) für die „göttliche“ Schauspielerin Sarah Bernhardt das entscheidende Werk zur Übernachtberühmtheit des Künstlers.
Die farbigen Lithografien quellen über von Blüten, Ornamenten, weichen Linien; sie umschmeicheln oftmals schöne Frauen. Beim Betrachten gewinnt man den Eindruck, alles schwingt, gleitet, fließt. – Der Tausendsasa Mucha belässt es nicht bei diesen Arbeiten. Er entwirft Schmuck, Interieurs, übernimmt Buchillustrationen, schreibt Fachbücher und gestaltet ein großes Glasfenster im St. Veitsdom – leuchtend, leicht und lebendig.
Und am Abend in die Laterna Magica (Neue Szene des Nationaltheaters). Hinein in den Wirbel von Sein und Schein, in dem die Fantasie Purzelbäume schlägt. Das Spiel „Der Zauberzirkus“ erzählt ein Lebensmärchen. Wechselnd zwischen Traum und Wirklichkeit, zwischen Aktion und Vorspiegelung. Bunt gewirkt aus Musik, Pantomime, Film und Tanz. Wer dem turbulenten Spiel folgt, wird von zwei Clowns durch die Welt geleitet. Wandert in weiten Landschaften, erlebt Sonnenauf- und -untergänge, fällt ins Wasser, taucht wieder auf, schwebt über den Wolken; kämpft, tanzt, lacht und weint. C’est la vie. – Mein nächtlicher Weg führt über die erleuchtete Karlsbrücke, und ich weiß nicht mehr genau, ob ich wache oder träume.