von Jörn Schütrumpf
Unsere geplante Medienkritik zu Stalins 60. Todestag findet mangels Masse nicht statt; die Kommentare fielen mehr als schwächlich aus. Und deshalb nun doch in medias res.
Die Redaktion
I.
Mit Maschinengewehren kann man vieles machen, nur eines nicht: eine emanzipatorische Politik. Für sie hat die Linke, die einst angetreten war, „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“ (Marx), nur eine Waffe, die Waffe der Kritik.
Marx, von dem diese Einsicht stammte, meinte zwar, dass die Waffe der Kritik nicht die Kritik der Waffen ersetzen könne – allerdings wäre er nie auf die Idee gekommen, diese Waffe durch die Kritik der Waffen zu ersetzen. Für ihn war es „der Philosoph (in seinem Verständnis: der Kritiker – J. S.), in dessen Hirn die Revolution beginnt“. Der entsprechende Text wurde an der Jahreswende 1843/44 geschrieben, sein Geist bildete für die Phalanx europäischer Revolutionärinnen und Revolutionäre, die vor dem Ersten Weltkrieg in die Arbeiterbewegung eintraten, den selbstverständlichen Ausgangspunkt für jede revolutionäre Veränderung. Auch wenn sie alle ihre Eitelkeiten pflegten – niemand wäre auf die Idee gekommen, sich außerhalb der Kritik zu wähnen.
Der Erste, der das für sich in Anspruch nahm, war Lenin. Innerhalb der Bolschewiki hielt er zwar jede Kritik für redlich, für die von außen meinte er aber, das Recht zu besitzen, sie mit allen Mitteln – auch mit nach bürgerlichen Maßstäben niederträchtigen – niederkämpfen zu dürfen. Das war der erste Schritt zur Selbstentmachtung der Linken. Wer die schiefe Bahn in die Sekte betritt, endet im messianischen Terror: Im Jahre 1922, zwei Jahre nach dem Sieg im Bürgerkrieg und kurz vor einem Schlaganfall, der ihn für immer aus der Politik schleuderte, forderte Lenin vom Volkskommissar für Justizwesen, Dmitri Kurski: „Meiner Meinung nach muss man die Verhängung der Todesstrafe (ersatzweise Ausweisung ins Ausland) auf alle Betätigungsfelder der Menschewiki, Sozialrevolutionäre usw. erweitern. Man muss eine Formulierung finden, die derartige Taten in Zusammenhang mit der internationalen Bourgeoisie und deren Kampf gegen uns bringt.“ Er legte einen Gesetzentwurf bei, in dem er nicht von Todesstrafe, sondern von „ Anwendung der Erschießung“ sprach. Das Gesetz solle „den Terror nicht beseitigen – das zu versprechen, wäre Selbstbetrug oder Betrug –, sondern ihn prinzipiell, klar, ohne Falsch und ohne Schminke begründen und […] verankern. Die Formulierung muss so weitgefasst wie möglich sein, denn nur das revolutionäre Rechtsbewusstsein und das revolutionäre Gewissen legen die Bedingungen fest für die mehr oder minder breite Anwendung in der Praxis.“
Lenins Nachfolger waren treue Schüler, fanden allerdings nicht das Papier, das Geheimnis ihrer Politik öffentlich zu machen; das stand erst in den neunziger Jahren zu Verfügung. (Allerdings hatte Lenins vergessener erster Volkskommissar für Justiz, Isaak Steinberg – 1923 aus der Sowjetunion ausgewiesen –, diesen Brief schon 1931 bei Rowohlt veröffentlicht; die Wirkung war aber gleich Null.)
Anfangs verfolgten Lenins Nachfolger – die zaristische und bürgerliche Konterrevolution war unter Lenin und Trotzki niedergekämpft worden – nun all jene Linken, die den Bolschewiki nicht kritiklos folgen mochten. Danach begannen sie sich gegenseitig zu entmachten und dann – abzuschlachten. Übrig blieben die Marxisten-Leninisten, die mit dem Marxschen Ansatz bald nichts mehr und mit Lenins Vision von einer durch rücksichtslosen Terror von jeglicher Unterdrückung und Ausbeutung befreiten Menschheit immer weniger zu tun hatten. Stattdessen „dünnten“ sich die Machthaber – „Die Macht geben wir nie wieder her!“ – bei jeder Wendung weiter aus; zur Begründung benutzte man stets „eine Formulierung […], die derartige Taten in Zusammenhang mit der internationalen Bourgeoisie und deren Kampf gegen uns bringt“.
Selbst die „Entstalinisierung“ im Jahre 1953 begann noch nach diesem Muster: Lawrenti Beria, die rechte Hand Stalins und eine der verkommensten Figuren des 20. Jahrhunderts, der Heinrich Himmler in Nichts nachstand (nur dass Himmler nicht wahllos Frauen entführen ließ, vergewaltigte und anschließend den Befehl zur ihrer Ermordung gab), musste sich wegen seiner Verbrechen gegen die Menschlichkeit nicht etwa öffentlich vor einem Gericht verantworten. Er wurde heimlich als „englischer Spion“ erschossen – „in Zusammenhang mit der internationalen Bourgeoisie und deren Kampf gegen uns“.
Später trat an die Stelle „der internationalen Bourgeoisie“ der „US-amerikanische Imperialismus“ – stets und überall anwendbar. Die Marxisten-Leninisten machten diesen Imperialismus letztlich mächtiger, als er je war, und wurden so: zu seinem verlässlichsten Verbündeten. Egal wo in der Welt die Linke eigene Wege zu gehen unternahm, wurde sie denunziert oder, wenn sie Mittel benötigte – was oft der Fall war –, gekauft.
Was Sozialistengesetz und, Jahrzehnte später, Nazi-Terror nicht gelungen war, bewältigten die Marxisten-Leninisten mit leichter Hand. Sie diskreditierten mit ihrer Herrschaft, um ihrer Macht willen, nicht nur jeden alternativen Ansatz zur bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft als terroristisch, ineffizient und menschenfeindlich – was für sich genommen zwar schon katastrophal ist, aber letztlich nicht ganz so tragisch wäre. Entscheidend war, dass es ihnen gelang, die Linke der Auseinandersetzung um die Sache entwöhnen und an ihre Stelle die Denunziation des jeweils Anderen zu setzen – heute der, morgen die.
Es gibt seit Jahrzehnten keine Auseinandersetzung um die Sache, keine substanzielle Kritik mehr. Die Linke liegt entwaffnet am Boden. Jossif Stalin hat gesiegt…
II.
Stalin hatte kein Programm, er wollte nur eins: überleben. Die Revolutionäre seiner Zeit waren intellektuell alle an der Französischen Revolution geschult und dachten in deren „Fraktionsabfolge“. Allen war klar, dass sie – wie die Revolutionäre von 1789 ff. – von der nächsten Fraktion weggefegt und ermordet werden würden. Revolutionen, die bis zum Ende durchgekämpft werden – und das wollten diese Revolutionäre mit aller Konsequenz; es ging um die endgültige Befreiung der Menschheit von allen Übeln der Unterdrückung und Ausbeutung –, kannten bis dahin keine zivilisierte Ablösung, sondern nur die Verdammung – und den öffentlich zelebrierten Mord, gefolgt vom Massenmord an den wirklichen und vermeintlichen Anhängern der Gestürzten.
Lenin hatte das Problem schon vor der Revolution begriffen und versucht, das Fatum zu bannen: Er stieg gleich auf der äußersten Linken, als Jakobiner, in die Revolution ein – und konnte so nicht links überholt werden. Als Anfang 1921 die Revolution ihren Zenit überschritten hatte und nun der Thermidor, also der Rückschlag in das Machbare, drohte, vollzog er mit der NÖP diesen Thermidor selbst – „folgte sich also selbst“.
Womit Lenin allerdings nicht gerechnet hatte, war seine eigene Erkrankung. Allen war nun klar, dass keiner mehr die Fraktionsabfolge würde aufhalten können und am Ende wieder ein Napoléon stehen würde. Die Führer der Bolschewiki – das sei zu ihrer Ehre gesagt – suchten, diesen Napoléon zu verhindern, und glaubten, ihn ausgemacht zu haben: in Trotzki. Der war jedoch klug genug, nicht in diese Falle zu tappen. Er, der Nicht-Bolschewik, wich dem Kampf aus und gab sich stattdessen bolschewistischer als die Bolschewiki – entmachtete sich aber wider Willen so selbst und lieferte sich noch schneller ans Messer; vorerst kam er nur in die Verbannung. Ein typischer Fall von Fehlwahrnehmung, auf allen Seiten.
Sinowjew und Kamenew, die Nachfolger Lenins, machten – aus der Angst heraus, in den Napoléon-Verdacht zu geraten – in „kollektiver Führung“ , Stalin und Bucharin als die ihnen folgende Fraktion anfangs nicht minder.
Letztlich übernahm doch Stalin die Rolle des Napoléon, stand aber vor dem Problem, dass Lenin die Fraktionsabfolge hatte ausfallen lassen, der Massenmord also noch ausstand. Und so mancher potenzielle Nachfolger harrte seiner Stunde. Der große Terror 1936 bis 1938 war letztlich nichts anderes als die nachholende Guillotine von 1793/94. Mit ihm brachte sich Stalin auf die Höhe des 18. Brumaire, Napoléons Coup d’état von 1799: kein Nachfolger mehr, nirgends…
Und Stalin befolgte auch danach das Sript der Französischen Revolution: Napoléons Fehler, einen messianischen Imperialismus, versuchte Stalin, mit allen Mitteln zu vermeiden. Er wollte kein Waterloo – das hatten die Bolschewiki 1920 mit dem „Wunder an der Weichsel“ ohnehin beinahe erlebt: Sie hatten versucht, ihre Revolution auf den Spitzen ihrer Bajonette nach Westeuropa zu tragen… Deshalb agierte Stalin feige, hinterhältig – aber nicht imperialistisch. Das Imperium, das er hinterließ, war ein nicht-imperialistisches Imperium.
Genutzt hat es – ihm. Er starb – am 5. März 1953 – in seinem eigenen Bett, für einen Revolutionär dieser Generation ein eher ungewöhnliches Ende…
Schlagwörter: Jörn Schütrumpf, Napoleon, Revolution, Stalin