von Arne C. Seifert
Auf die Interviewfrage „Welche Lektionen lernten Sie auf Ihren Irak- und Afghanistan-Touren?“ antwortete der Oberbefehlshaber der US-Streitkräfte in Irak und Afghanistan, kürzlich noch CIA-Chef, US-Viersternegeneral Stanley McChristal: „Zunächst fragten wir uns ‚wer ist der Feind ?‘, womit wir uns schon für ziemlich clever hielten. Dann stellten wir fest, dies ist nicht die richtige Frage. Also fragten wir uns ‚was macht der Feind oder was gedenkt er zu tun?‘. Danach dauerte es eine ganze Weile bis wir uns fragten ‚Warum sind die eigentlich Feind?‘“
McChristals Geständnis, die US-Militärs kämpften in Irak gegen einen von ihnen mit unbekannten Motiven beseelten Feind, kam im März 2013. Zehn Jahre zuvor hatte US-Präsident George W. Bush seine Truppen mit folgender Botschaft dorthin in den Krieg beordert: „Liebe Landsleute, zu dieser Stunde befinden sich amerikanische und verbündete Streitkräfte in der Anfangsphase der militärischen Operation zur Entwaffnung Iraks (kursiv A.S.), um seine Bevölkerung zu befreien und die Welt vor ernster Gefahr zu beschützen… Allen Männern und Frauen der US-Streitkräfte im Nahen Osten sage ich, der Frieden einer besorgten Welt und die Hoffnungen eines unterdrückten Volkes hängen jetzt von ihnen ab. Für ihr Opfer begleitet sie das amerikanische Volk mit Dankbarkeit, Respekt und der Gewissheit, dass niemand von der Gnade eines rechtlosen Regimes abhängig sein wird, das den Frieden mit Waffen des Massenmordes bedroht.“
Außenminister General Colin L. Powell argumentierte am 5. Februar 2003 vor dem Weltsicherheitsrat, es handle sich um Chemie-, biologische und Atomwaffen. Seine Behauptungen, fabriziert zur Kriegsbegründung im Auftrag des Weißen Hauses von der CIA, platzten schon nach drei Monaten, weil der irakische BND-Zuträger „Curvball“ in Unglaubwürdigkeit geriet. Der deutsche Außenminister Fischer, bei Powells Kriegsbegründung im Sicherheitsrat zugegen, gab kürzlich zu, dass ihm des Amerikaners Beweisführungen als unrichtig bekannt waren. Powell hatte die Weltorganisation belogen und Fischer dazu geschwiegen. Bereits im Mai musste Powell zugeben, dass seine Beweise falsch waren. „I regret“, sagte er. Sorry. Später schämte er sich sogar.
Letzteres kam ihm nach dem Triumph der USA über Saddam Hussein im ersten Golfkrieg 1990/91nicht in den Sinn. Als damaliger Chef des Joint Chiefs of Staff der US-Army beklagte er, dass ihm ein neues Feindbild fehle. „Mir gehen die Dämonen aus, mir fehlen die Schurken!“ Die Bush (Jun.) -Administration schloss dieses Defizit mit einer gänzlich neuen internationalen Gattung – den Schurkenstaaten. Gelegenheit zu einem neuen Feindbild bot der Anschlag auf das World Trade Center in New York am 11. September 2001. Diese von Bin Laden und al-Qaida zu verantwortende Katastrophe war Grundlage, der Welt nach dem Ende des Ost-West-Konflikts ein neues Bedrohungsszenarium zu vermitteln. In kürzester Zeit wurde eine beispiellose Handlungs- und Argumentationskette entfaltet, von der sich auch eine projektgeile Academia einfangen ließ. Sie reichte vom Schock des 11. Septembers, dem Menetekel eines „clash of civilisations“, einer zivilisatorischer Bedrohung durch islamistischen Terror, der Transformation des 11. Septembers in einen NATO-Bündnisfall bis hin zu einem mit UN-Mandat verbrämten realen Krieg: Afghanistan. Dieser Kontext lieferte dem westlichen Bündnis den Ansatz zu einem Strategiewechsel in der internationalen Politik – den Charakter der NATO sowie der EU-Verteidigungspolitik auf internationale militärische Interventionsfähigkeit umzustellen.
Dem folgten alle Bundesregierungen. Die Wertekommission der CDU erhob im September 2002 den 11. September zum Beleg dafür, „dass an die Stelle des Ost-West-Konflikts eine Auseinandersetzung um die zivilisatorischen Werte getreten ist, auf die sich eine globale Ordnung stützen muss.“ SPD-Verteidigungsminister Struck brachte mit seiner schicksalhaften Aufforderung, „Deutschlands Sicherheit müsse am Hindukusch verteidigt werden“, eine Zäsur ein: die Chance zu ergreifen, um „Deutschland“ nach zwei verursachten und verlorenen Weltkriegen zur militärpolitischen „Rückkehr“ in die Weltpolitik zu verhelfen.
Doch kehren wir zu der obskuren Äußerung McChristals zurück, die US-Militärs hätten nicht gewusst, was den Feind zum Feind mache. Sie führt, abgesehen von einer politischen Bankrotterklärung auf höchster militärischer Ebene, zu den Kernfehlern der gesamten sogenannten Antiterrorstrategie.
Erstens, zur Frage Krieg oder Frieden. Bei der Behauptung, der Westen und seine Völker stünden in Gestalt des islamistischen Terrorismus einem neuen Gegner gegenüber, weshalb sie es mit einem neuen Konflikt-, ja Kriegstyp zu tun hätten, wird die Grundfrage jeder Konfliktregelung ausgeklammert. Nämlich: müsste bei einem neuen Gegnertyp nicht auch nach einem neuen Typ von Frieden gesucht werden? Vorausgesetzt, Frieden ist gewollt?
Zweitens, wer ist der neue Gegner? Warum identifizieren sich „gewöhnliche Muslime“ auf breiter Basis mit al-Qaida’s antiwestlicher Ausrichtung? Ist der Westen dafür mit verantwortlich? Hat er dazu mit seiner hegemonialen Dominanz in und über die islamischen Regionen, die mit steter Gewalt verbunden war (Steinbach), beigetragen? Dutzende westliche Expertenanalysen führen zu dem Fazit, dass diese nicht einmal „einfache Antworten wie etwa die Beschreibung des Gegners liefern, die zur rationalen Begründung eines globalen Krieges gebraucht werden“ (Hellmich). Unverstanden blieb, dass das hauptsächliche Potenzial der Ideen al-Qaidas und anderer Islamisten in der Strahlkraft ihrer Ideen liegen, weshalb Bin Laden für Millionen seiner Glaubensbrüder als islamischer Held gilt.
Womit der dritte Kernfehler ins Bild kommt. Wenn der Westen sich in Konflikt und Krieg mit Dschihadisten, Islamisten und Salafisten begibt, dann gerät er unvermeidlich in Gegnerschaft zur muslimischen Gesellschaft gemeinschaftlich, denn in jener ist der Gegner verankert. Beispielhaft spielt als Trauma der Tod 500.000 irakischer Kinder als Folge der Wirtschaftssanktionen nach dem zweiten Golfkrieg 1991 eine besondere Rolle, zu denen die damalige US-Außenministerin Albright seinerzeit seelenruhig erklärte, die Ziele der USA seien dies Wert. 1998 verurteilte Bin Laden die Nahostpolitik der USA als „Kriegsführung gegen Gott“. Auch Palästina, Suez-Aggression, Israels Kriege, Afghanistan, Abu Ghraib, Waterboarding, Guantanamo gehören dazu.
Der Westen braucht sich daher über das Einsickern seiner Feinde aus der Bin Laden-Schule in die aktuellen nahöstlichen Umbrüche nicht zu wundern. Vielmehr führen sie sein gesamtes Konstrukt „War on Terror“ ad absurdum. Bereits im Mai 2012 gab US-Verteidigungsminister Leon Panetta öffentlich zu, dass al-Qaida in Syrien präsent sei. Ihr „Feind“, den die USA 2001 vom Sicherheitsrat auf die internationale Terroristenliste setzen ließen und wegen dessen „Gefährlichkeit für die Sicherheit Deutschlands“ auch deutsche Soldaten in Afghanistan sterben.
Unerträglich sind Zahl und Schicksale der Opfer. Und wieder überwiegen die in den örtlichen Bevölkerungen. Werden die zivilen Opfer jenes „War on Terror“ den militärischen gegenüber gestellt, so stellt sich heraus, dass 94,7 Prozent auf die irakische Bevölkerung, 4,3 Prozent auf die afghanische und 0,28 Prozent auf den Anschlag auf das World Trade Center in New York entfallen, während die US-Verluste in Irak und Afghanistan 0,55 Prozent ausmachen.
Für Irak kommt das Brookings Institut bis August 2011 auf 115.000 getötete Iraker. Zwischen Juni 2003 und September 2007 wurden von den US-geführten Truppen mindestens 10.000 irakische Soldaten und 19.000 „Aufständische“ getötet sowie 10.100 Angehörige der neuen Regierungstruppen und Polizeikräfte durch Besatzungsgegner. Auf diese Weise kommt eine Gesamtzahl von 165.000 getöteten Irakern zusammen– das sind 65 Tote pro 100.000 Einwohner und Jahr. Erkenntnisse des britischen Instituts „Opinion Research Business“ und „Lancet“-Studien stimmen überein, dass mit 1.033.000 Toten bereits Mitte 2007 die Millionengrenze überstiegen wurde. Gemäß der „Internationalen Kommission für vermisste Personen“ gelten im Irak zudem zwischen 250.000 und einer Million Menschen als vermisst.
Die Anzahl der in Afghanistan durch Gewalteinwirkung getöteten Menschen inklusive Zivilpersonen, NGO-Mitarbeitern, afghanischen Sicherheitskräften, ISAF- und OEF-Soldaten und Taliban-Kämpfern liegt Ende 2011 nicht unter 70.604. Wenn nur jeder dritte getötete Zivilist in den Weiten der afghanischen Provinzen gezählt würde, läge die Anzahl der getöteten Zivilpersonen allein bei 43.500 und die gesamte Anzahl der Getöteten bei 100.479. (IPPNW, Body Count).
In Pakistan wurden durch US-Drohnenangriffe seit 2004 laut Body Count zwischen 2.318 und 2.912 Menschen getötet, davon bis zu 80 Prozent Zivilisten. Zusammen liegt die Anzahl der getöteten Pakistanis (Aufständische, Sicherheitskräfte, Zivilisten) etwa zwischen 40.000 und 60.000. Über die Hälfte der Getöteten sind Zivilisten, mehr als 20.000 sind Aufständische und etwa 3.500 sind getötete pakistanische Sicherheitskräfte.
Dass deutsche Politik unser Land darin verwickelt, somit erneut schuldig wird – unerträglich!
Schlagwörter: Afghanistan, Arne C. Seifert, Irak, Islamismus, Krieg, Terrorismus, USA