16. Jahrgang | Nummer 6 | 18. März 2013

Die russische Armee – Phoenix aus der Asche? (I)

von Wolfgang Kubiczek

Vor nunmehr über zwanzig Jahren hat die Russische Föderation in vielerlei Hinsicht, darunter in völkerrechtlicher, das Erbe der Sowjetunion angetreten. Zu dieser Hinterlassenschaft gehörten auch große Teile der Sowjetarmee, von der zu Beginn der achtziger Jahre im Westen die Auffassung kolportiert wurde, sie hätte militärische Überlegenheit erreicht, und das sowohl im nuklear-strategischen Bereich wie auch auf konventionellem Gebiet in Europa.
Auch wenn das Argument zweckdienlich eingeführt wurde, um westliche, vorrangig US-amerikanische Aufrüstung zu begründen, war die Militärmacht der Sowjetunion in der Tat gewaltig: eine moderne nukleare Triade, mit der sich nur das Kernwaffenpotenzial der USA messen konnte; geschätzte fünf Millionen Mann unter Waffen; Dislozierung von großen Truppenkontingenten in Ost- und Mitteleuropa sowie ein enormer Rüstungshaushalt.
Heutige Einschätzungen über das russische Militär besagen das genaue Gegenteil: In der Zone vom Atlantik bis zum Ural übertrifft die NATO in fast allen Waffenkategorien, die im Vertrag über konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE-Vertrag) erfasst sind,  allein zahlenmäßig, ohne Anwendung qualitativer Kriterien, Russland in einem Verhältnis von ein zu drei. Das trifft auch auf die Truppenstärke in diesem Raum zu: 1,8 Millionen NATO-Soldaten stehen 578.000 russische gegenüber. Lediglich bei Flugzeugen beträgt das Verhältnis nur ein zu zwei zugunsten der NATO. Der britische Experte James M. Acton stellte in einem 2011 erschienen Buch fest, dass die NATO angesichts dieser militärischen Überlegenheit, wenn sie es denn wollte, für die territoriale Integrität Russlands eine ernsthafte Gefahr darstellen könnte. Russland kompensiert seine Schwäche durch Betonung des eigenen Nuklearpotenzials, für den europäischen Raum der taktischen Kernwaffen.
Was sind die Ursachen für diese Entwicklung, und gibt es für die russische Armee einen Ausweg aus der Krise? Zunächst kann man den Niedergang und die versuchte Renaissance der russischen Armee in mehrere historische Abschnitte unterteilen:
– die letzten Jahre der Sowjetunion und der Transfer von der Sowjetarmee zur Armee der Russischen Föderation;
– die Entwicklung der Armee unter Boris Jelzin in den 90er Jahren;
– die Reformansätze bis zur einschneidenden Zäsur des Georgien-Konflikts (2000-2008);
– die Militärreform von 2008 und ihre bisher erzielten Ergebnisse.
Die Ausgangslage für die Neubildung der russischen Armee war denkbar ungünstig. In der Deklaration von Alma-Ata vom 21.12.1991 hatten sich die Teilrepubliken der Sowjetunion zur Auflösung der UdSSR und zur Bildung der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) bekannt. Wie sollte nun mit der gewaltigen sowjetischen Militärmaschinerie verfahren werden, deren Mannschaftsstärke bereits unter Gorbatschow um eine Million auf circa vier Millionen Mann reduziert worden war? Anfängliche Bemühungen, die Streitkräfte unter dem Dach der GUS zusammenzuhalten, scheiterten an dem Souveränitätsbedürfnis der neu entstandenen Staaten.
Auf westlicher Seite gab es starkes Eigeninteresse an der Art und Weise der Aufteilung der Sowjetarmee, vor allem an einer vollständigen Konzentration des Kernwaffenbestandes in russischer Hand. Strategische Kernwaffensysteme gab es außer in Russland in der Ukraine, Kasachstan und Weißrussland sowie taktische Kernwaffen in den meisten ehemaligen Sowjetrepubliken. Aber auch an der Einhaltung des KSE-Vertrages, der drastische Einschnitte in das konventionelle Waffenpotenzial der Sowjetunion vorsah, war der Westen interessiert. Schließlich gelang es, nicht zuletzt unter vor allem amerikanischem Druck und mittels erheblicher Finanzhilfen der USA, sämtliche Kernwaffen auf russisches Territorium, das 78 Prozent der Fläche der Sowjetunion umfasst, zurückzuführen. So konnten das Entstehen neuer Kernwaffenmächte verhindert und das internationale Regime der Nichtweiterverbreitung von Kernwaffen aufrechterhalten werden.
Im Hinblick auf die konventionellen Streitkräfte der ehemaligen Sowjetunion konnte ebenfalls unter dem Druck des Westens mit dem Übereinkommen von Taschkent vom 15. Mai 1992 eine hastig ausgearbeitete Vereinbarung zur Aufteilung der gemäß KSE-Vertrag limitierten Waffenbestände und Ausrüstungen (Treaty Limited Equipment/TLE: Panzer, gepanzerte Kampffahrzeuge,  Artillerie, Kampfflugzeuge, Kampfhubschrauber) unter die verschiedenen GUS-Staaten verabschiedet werden. Von insgesamt 72.645 TLE-Einheiten der Sowjetarmee verblieben bei Russland 39.837 (rund 55 Prozent), darunter 10.333 von 20.725 Panzern. Die Mannschaftsstärken wurden 1993 in der sogenannten KSE-1a-Vereinbarung für den Reduzierungsraum vom Atlantik bis zum Ural geregelt. Dabei wurden Russland 1,45 Millionen Mann zugebilligt. (Zum Vergleich: Die Festlegung für die Ukraine belief sich auf 450.000 Mann.) Nach Schätzungen des Londoner International Institute for Strategic Studies/IISS lag die Mannschaftsstärke der russischen Streitkräfte 1992 noch bei insgesamt 2,72 Millionen – die Region vom Ural bis zum Pazifik eingeschlossen, die nicht vom KSE-Vertrag erfasst ist.
Alles in allem: Russland ist zwar alleiniger Erbe der strategischen und taktischen Kernwaffen der Sowjetarmee, doch hinsichtlich ihrer militärischer Stärke, vor allem auf konventionellem Gebiet, kann sich die russische Armee nicht mit dem Erblasser Sowjetarmee messen.
Nicht zuletzt übernahm Russland in dem chaotisch verlaufenen Transformationsprozess Teile der Sowjetarmee, die bereits vor der Aufteilung auf die Nachfolgestaaten in einen zum Teil desolaten Zustand geraten waren. Allein der Abzug aus der DDR und anderen osteuropäischen Ländern und vor allem die Art und Weise der Neudislozierung auf russischem Territorium demoralisierten die Truppe, führten zu Autoritätsverlust und Zersetzungserscheinungen. Wichtigstes Kriterium bei der Auswahl der neuen Standorte waren vorhandene Unterbringungsmöglichkeiten für die Rückkehrer, nicht aber ihre Stationierung nach militärischen Erfordernissen. Eliteeinheiten, die es gewohnt waren, an der vordersten Front des Kalten Krieges in Mitteleuropa zu agieren, wurden in entlegene Gebiete Russlands versetzt. Es gab auch Berichte, dass Truppeneinheiten einfach mal an einer abgelegenen Bahnstation ausgeladen und ihrem Schicksal überlassen wurden. Sämtliche im Westen der Sowjetunion gelegene Stützpunkte der Sowjetarmee gingen samt zugehöriger Infrastruktur verlustig beziehungsweise gerieten unter die Oberhoheit der baltischen Staaten, Weißrusslands und der Ukraine. Die Tendenz zur Zersetzung der Truppe zeigte sich in Erscheinungen wie verstärkter Fahnenflucht und Exodus aus dem Offizierskorps, im Zusammenbruch des Wehrpflichtsystems, in Korruption und Verlust an militärischem Know-how.
Auch der desolate Zustand der russischen Staatsfinanzen und der schwindende Anteil des Militärhaushalts sowie der Übergang eines großen Teils der sowjetischen Rüstungsindustrie in den Bestand der Russischen Föderation verkomplizierten die Startbedingungen für die russische Armee. Der russische Militärhaushalt erlebte 1991/92 einen gewaltigen Einbruch im Vergleich zu den sowjetischen Militärausgaben, auch unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Größenordnung beider Staatsgebilde. Nach einer Schätzung des US-Bureau of Verification and Compliance aus dem Jahr 2000 betrug der sowjetische Verteidigungshaushalt 1988 nach konstanten Preisen 443,3 Milliarden US-Dollar. 1992 sank er für die Russische Föderation auf 86,9 Milliarden und bis Mitte der 90er Jahre sukzessiv weiter bis auf 42,1 Milliarden Dollar (1996). Mit anderen Worten, die russischen Militärausgaben betrugen 1996 lediglich etwa 9,5 Prozent der Verteidigungsausgaben der Sowjetunion. Das war lediglich ein Bruchteil dessen, was zum Unterhalt von Mannschaften und Technik einer immer noch sehr großen Armee nötig gewesen wäre. Die Konsequenzen waren weiterer Verfall, fortgesetzte Demoralisierung und soziale Abwertung des in der Sowjetunion heiliggehaltenen Soldatenberufs.
Die Zerstückelung und Aufteilung der stark zentralisierten und aufeinander abgestimmten sowjetischen Rüstungsindustrie auf die Nachfolgestaaten war ein weiteres Hindernis für den Aufbau einer modern ausgerüsteten russischen Armee. Noch 1988 hatte das Pentagon die sowjetische Verteidigungsindustrie als den „weltgrößten Militär-Industrie-Komplex“ mit einer enormen Produktionskapazität bezeichnet. Sie war Arbeitgeber für Millionen von Sowjetbürgern, darunter hoch qualifizierten Wissenschaftlern und Technikern. Die Russische Föderation übernahm nach Angaben des Stockholmer Internationalen Friedensforschungsinstitutes SIPRI von 1992 rund 75 Prozent dieses gewaltigen Potenzials. Das hatte zur Folge, dass die übernommene Produktionskapazität einerseits für Russland zu groß war, um finanzierbar und angemessen zu sein, zugleich aber, weil entscheidende Teile des Puzzles eben doch fehlten, nicht geeignet, um eine umfassende und in sich stimmige moderne Rüstungsindustrie zu unterhalten. Zusätzlich verschärfte sich deren Krise aber vor allem durch die enorm gesunkene Nachfrage nach Rüstungsgütern bei den eigenen Streitkräften. Neubeschaffungen waren durch den Rückgang des Verteidigungsbudgets über Jahre praktisch ausgeschlossen.
Würde es dem neuen Russland gelingen, nach diesem krisenhaften Auftakt sein Militär so zu reformieren, dass es den neuen sicherheitspolitischen Gegebenheiten und der veränderten geostrategischen Lage entspricht?