15. Jahrgang | Nummer 26 | 24. Dezember 2012

Wertorientierte Außenpolitik statt deutscher Besserwisserei

von Karsten D. Voigt

Deutsche Außenpolitik sollte wertorientiert und interessengeleitet sein. Dazu gehört, im Innern und nach Außen für Demokratie, Rechtstaatlichkeit und Menschenrechte einzutreten und Nachbarn und Partnern die Zusammenarbeit bei der Verwirklichung dieser Ziele anzubieten: Dies war früher ein parteiübergreifender Konsens. In den letzten Jahren aber scheinen sich die Akzente verschoben zu haben: Statt sich der Mühsal der Definition gemeinsamer Reformvorhaben zu unterziehen, werden in der deutschen Außen- und Europapolitik nicht nur gegenüber unseren Nachbarn im Osten, sondern auch gegenüber unseren Partnern im Süden und Westen oberlehrerhafte Töne häufiger. Sie werden von unseren Nachbarn nicht als Beweis der Wertorientierung deutscher Außenpolitik, sondern als Ausdruck einer zunehmenden deutschen Arroganz wahrgenommen.
Besserwisserische Töne führen dazu, dass sich die Ohren gegenüber deutschen Reformvorschlägen verschließen. Besserwisserei verringert die Wahrscheinlichkeit, dass deutsche Vorschläge akzeptiert werden. Besserwisserei schadet deutschen Interessen. Aufgrund unserer eigenen Geschichte sollten wir wissen, dass der Weg zu einer stabilen Demokratie lang, mühselig und von Widersprüchen und Rückschlägen nicht frei ist. Dies gilt auch für Russland und die Ukraine.
Die Aufgabe, die Staaten Mittel- und Osteuropas an die politische Kultur und den Lebensstandard Westeuropas heranzuführen, ist noch lange nicht erledigt. Die Zielsetzung bleibt aber richtig: Die Behauptung, dass Russen und Ukrainer sich auch auf Dauer aufgrund ihrer Geschichte und ihres Wesens für eine autoritäre Politik und eine korrupte Wirtschaft entscheiden würden, ist nicht Ergebnis von Analysen, sondern von Vorurteilen. Diese Vorurteile sind ebenso abwegig, wie kurzfristige Erfolgserwartungen unrealistisch sind. Veränderungen der politischen Kultur eines Landes brauchen selbst unter optimalen Voraussetzungen viel Zeit: Deutschland brauchte nach dem Ende des Nationalsozialismus Jahrzehnte, bevor sich die heute stabile demokratische Kultur entwickelte. Es wäre völlig falsch, sich jetzt nörgelnd von den östlichen Nachbarn der EU abzuwenden und sich stattdessen – wie ich fürchte, erneut mit zu kurzfristigen Erfolgserwartungen – den demokratischen Entwicklungen bei den südlichen Nachbarn der EU, in der arabischen Welt zuzuwenden.
Als die Ukraine, der flächenmäßig neben Russland zweitgrößte Staat Europas, unabhängig wurde, befürchteten viele Analytiker einen baldigen, möglicherweise sogar gewaltsamen Zerfall des Landes in einen westlich orientierten und einen auf Russland orientierten Teil. Außerdem wurden von vielen sich zuspitzende Konflikte um die Krim und deren künftigen Status erwartet. Dass Szenarien dieser Art nicht Wirklichkeit wurden, ist ein für die europäische Sicherheit außerordentlich erfreuliches „Nicht-Ereignis“. Die in der Ostukraine dominierenden Kräfte scheinen heute überwiegend an einer engeren Zusammenarbeit mit Moskau, keinesfalls aber an einer Preisgabe der Unabhängigkeit und Souveränität des Landes interessiert.
Der bereits ausgehandelte Assoziationsvertrag der Ukraine mit der EU würde deren Unabhängigkeit stabilisieren und die Wahrscheinlichkeit von Reformen im Inneren vergrößern. Dies läge nicht nur im Interesse der Ukraine, sondern auch der EU und ihrer Mitgliedsstaaten. Es war deshalb im Rahmen einer rationalen politischen Strategie völlig unlogisch, mit der Nichtunterzeichnung des Assoziationsabkommens zu drohen, da die Umsetzung dieser Drohung den eigenen Interessen und Zielen schadet. Im Falle der Ukraine sollte das Angebot der EU zur engeren Zusammenarbeit nicht Belohnung für gutes Verhalten, sondern ein institutioneller Bezugspunkt für innenpolitische Reformen sein. Angesichts der innen- und außenpolitischen Lage der Ukraine ist es offensichtlich, dass die europäische Orientierung der Ukraine eine unabdingbare Voraussetzung für einen langfristig angelegten Reformprozess darstellt.
Ich hoffe, dass die EU und ihre Mitgliedsstaaten bald einen Weg aus der Sackgasse finden, in die sie sich selber bugsiert haben. Es sollte zu denken geben, dass insbesondere einige der unmittelbaren westlichen Nachbarn der Ukraine für eine Unterzeichnung des Assoziationsabkommens eintreten. Dies schürt den Verdacht, dass bei einigen Mitgliedstaaten der EU die ablehnende Haltung weniger Ausdruck einer demokratischen Prinzipientreue als Ausdruck eines Desinteresses an einer engeren Verbindung der Ukraine mit der EU oder sogar Ausdruck eines Desinteresses an der inneren Entwicklung in diesem Land sein könnte.
Als die Ukraine unabhängig wurde, schien die demokratische Kultur in Kiew weniger entwickelt zu sein als in Moskau oder Leningrad. In der Ukraine besteht auch heute keine stabile Demokratie. Der politische Pluralismus in Gesellschaft und im Parlament ist in der Ukraine unvollkommen und immer wieder bedroht. Er scheint mir aber gegenwärtig ausgeprägter als in Russland zu sein. Die großen Unterschiede zwischen der politischen Kultur der Ost- und der Westukraine sind einer der Gründe dafür, dass es schwer ist, einen breiten, parteiübergreifenden Konsens bei der Umsetzung einer Reformagenda zu finden. Zugleich aber erhöhen diese Gegensätze die Chancen für den Erhalt eines politischen Pluralismus in der Ukraine.
Die Mehrheit der ukrainischen Politiker strebt eine wesentlich engere Zusammenarbeit mit der Europäischen Union an als die meisten russischen Politiker. Diesem Ziel dienen die Reformen, die in geringem Maße bereits verwirklicht worden sind und die im großen Maße noch ausstehen. Weil derartige Reformen das selbst definierte Ziel ukrainischer Politiker sind, sehen diese eine partnerschaftliche Zusammenarbeit bei der Verwirklichung derartiger Reformen vom Prinzip her nicht als Einmischung sondern als Hilfe an. In dieser Situation kann Kritik an Missständen hilfreich sein und auch als hilfreich empfunden werden. Westliche Kritik sollte Partei für Demokratie, Menschenrechte und Rechtstaatlichkeit ergreifen, aber jede Parteinahme für eine der um Macht und Einfluss ringenden politischen Parteien vermeiden.
Meiner Meinung nach haben einige Mitgliedstaaten der EU, darunter auch Deutschland, die Grenze zwischen diesen beiden Arten von Kritik nicht immer genügend beachtet. Das gilt gelegentlich auch für den Ton, in dem diese Kritik vorgetragen wurde. Es wäre sinnvoll, wenn die im Bundestag vertretenen Parteien und die parteinahen Stiftungen ihre Kontakte sowohl zu Regierungs-, wie zu Oppositionsparteien intensivieren würden. Ein möglichst breites Beziehungsgeflecht zwischen politischen Strömungen in der Ukraine und in Deutschland könnte die Entwicklung einer demokratischen politischen Kultur in der Ukraine begünstigen.
Wer ein Volk der guten Nachbarschaft und von Freunden und wohlwollenden Partnern umgeben sein will, muss in Europa primär durch Vorbild, Zusammenarbeit und Hilfe Einfluss ausüben. Der Respekt vor der Gleichberechtigung größerer und kleinerer, wohlhabender und ärmerer Staaten ist gerade für den bevölkerungsreichsten und wirtschaftlich stärksten Staat in Europa ein Muss: Dies war das Rezept für den Erfolg der deutschen Europapolitik nach dem Zweiten Weltkrieg. Es ist leider erforderlich, erneut an diesen Grundsatz zu erinnern, weil einige deutsche Politiker mit der gewachsenen Rolle Deutschlands nicht behutsam genug umgehen und so zur Wiederbelebung anti-deutscher Ressentiments und negativer Koalitionen gegen Deutschland beitragen. Wenn Deutschland sich als Lehrmeister Europas aufspielt, wird es bald nicht mehr von Freunden umgeben sein.