von Erhard Crome
Das Rezensionswesen ist in aller Regel auf das Besprechen brandneuer Bücher getrimmt. Zuweilen allerdings fällt der Blick auf etwas schon Abgehangenes, das man, als es frisch war, für nicht so erheblich hielt. So ging es mir gerade mit einem Buch von Antonio Negri, das im italienischen Original 2006 und in der deutschen Fassung 2009 erschien. Negri gilt als Guru einer postmodernen Linken in Westeuropa und den USA, spätestens seit er zusammen mit dem US-amerikanischen Literaturwissenschaftler Michael Hardt die Bücher „Empire“ und „Multitude“ in die Welt gesetzt hatte – die von den einen als bedeutende Weiterentwicklung des Marxismus gepriesen und von den anderen als kleinbürgerlicher, antimarxistischer Unsinn verdammt wurden. Danach hatte Negri in Italien einen Gesprächsband mit sich machen lassen; der Publizist Raf Valvola Scelsi stellte Fragen, die Negri ausgreifend beantwortete. Das gute Stück wurde 2009 mit einem Nachgespräch aktualisiert und ergänzt und auf Deutsch publiziert.
An diesem Band zeigt sich, dass die Ambivalenz Negris nicht nur in der Rezeption seiner Positionen, sondern auch im Werk selber liegt. Es ließe sich verschiedenes anführen, das – und drei Jahre seit 2009 sind ja keine lange Zeit – sich bereits als völlig falsch erwiesen hat: Negri prophezeit, dass es „kurz- oder mittelfristig nicht zu einem weiteren Krieg im Nahen oder Mittleren Osten kommen“ werde – inzwischen hatten wir den imperialistischen Libyen-Krieg, mindestens zwei Kriege Israels gegen den Gaza-Streifen und die Gefahr eines Syrien-Krieges des Westens ist nicht gebannt. Mit seinem Handeln in der Finanz- und Wirtschaftskrise – dies ein zweiter eklatanter Fehlgriff Negris – stehe Barack Obama „sehr klar für eine linke Kraft“. Und weiter: „Für mich zeichnet sich hier eines der zentralen Elemente einer künftigen linken Politik ab, einer kommunistischen Politik, auch in Europa und anderen fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern“. Auch als die Krisenbearbeitungs-Politik Obamas noch neu war und in ihren Weiterungen nicht abschließend einzuordnen, wäre wohl kein Linker sonst auf die Idee gekommen, ausgerechnet Obama kommunistische Ambitionen zuzuweisen. Zumal nicht deutlich wird, was für einen Kommunismusbegriff Negri Obama hier zuschiebt.
Ganz in diesem Sinne würdigt Negri denn auch Joschka Fischer ob seiner Europa-Politik. Zugleich verurteilt er die politische, parteimäßig organisierte Linke in Italien und Europa, die nichts begriffen und kein Konzept habe. Als das Aktualisierungsgespräch für die deutsche Fassung geführt wurde, war nicht nur Obama gewählt, sondern auch die Finanzkrise ausgebrochen. Die Krisentheorie, die mit den Kategorien des Weltsystems und der Vorstellung langer Wellen arbeitet, lehnt Negri entschieden ab; nach der russischen Oktoberrevolution und mit der Entstehung des sozialistischen Chinas hätten sich die Klassenkämpfe weltweit entwickelt. Dadurch sei der „Kausalnexus zwischen Zyklus und Krise… selbst in die Krise geraten“. Mit anderen Worten: Es gibt seiner Meinung nach gar keinen Zusammenhang mehr zwischen dem kapitalistischen Krisenzyklus und den politischen Auseinandersetzungen, vielmehr ist alles nur noch Klassenkampf beziehungsweise Kampf der „Multitude“.
Dieser Sprüche wegen müsste das Buch jetzt nicht erinnert werden. Aber das ist eben nur die eine Seite der Ambivalenz. Die andere ist ein erneutes Nachdenken über den gehabten Sozialismus, insbesondere in der Sowjetunion und in Osteuropa, sowie den aktuellen, den er in China sieht. Der „Stalinismus“ ist für Negri verbunden mit „der ursprünglichen Akkumulation“ in Russland, ein „Modernisierungsphänomen“. „Die bolschewistische Revolution wie der stalinistische Thermidor waren für Russland ganz außergewöhnliche Maschinerien der Modernisierung. Die Emanzipation der Leibeigenen war für die Sowjetunion die Voraussetzung, ein Proletariat zu schaffen.“ Dazu waren die Kapitalisten nicht in der Lage. Insofern war das Proletariat auch die einzige Kraft, die gegen den Stalinismus hätte auftreten können. Um ohne Stalin über den Zarismus hinauszukommen, hätte jedoch die Revolution wieder aufgenommen, wiederholt werden müssen. Das jedoch war nicht möglich „durch die gnadenlose Einkreisungspolitik der kapitalistischen Länder“. Auf die Frage noch den Millionen Toten sagt Negri: „Die gab es, und es gab Millionen Tote durch den Genozid an der indigenen Bevölkerung Amerikas… Wir berühren hier aber einen anderen grundlegenden Punkt der Krise der sowjetischen Ordnung, insofern nämlich das Verteidigen dieser Ordnung, das Verteidigen einer Akkumulation national-militärischen Typs… mit dem allmählichen Verschwinden aller Freiheitsgarantien einherging“.
Ohne diese Akkumulation und ohne die Errichtung einer auf ihre Weise modernen Staatsordnung – Negri vergleicht die Sowjetunion des Jahres 1960 mit dem Russland von 1905 – hätte das Land weder Hitlerdeutschland schlagen können noch im Kalten Krieg dem Druck des Westens widerstehen oder Weltraumsatelliten ins All schießen können. Das Problem sieht er in den Maschinerien der Souveränität. Historisch lasse sich nicht behaupten, „Napoleon sei ein Schwein. Das ist nicht wahr. Napoleon ist Napoleon, Stalin ist Stalin, Churchill ist Churchill, Roosevelt ist Roosevelt, sie sind nicht einfach Schweine, sie sind Souveräne. Ich verabscheue die Scheinheiligkeit in der Geschichtsschreibung, wo sie zur Propaganda wird… unschuldige Tote, wie viele haben wir davon gesehen? Zugleich ist aber auch die Kategorie der Unschuld recht relativ… Es gab diese Monstrosität, den Stalinismus, in vielerlei Hinsicht vollkommen inakzeptabel. Doch in anderer Hinsicht eben äußerst produktiv. Die monströse Seite war zudem zu einem guten Teil ein Ergebnis der äußeren Umstände, und Winston Churchill trägt für die Belagerung der entstehenden Sowjetunion eine ebenso entscheidende Bedeutung wie für die Errichtung des Eisernen Vorhangs gegen die siegreiche UdSSR nach dem Zweiten Weltkrieg. Welcher Unterschied besteht also zwischen Churchill und Stalin?“
Zugleich sieht auch Negri die entscheidenden Ursachen für das Ende des Realsozialismus im Innern. Die sowjetische Führung scheiterte nicht am Eisernen Vorhang; „zu ihrem Ende führte, dass eine enorme kollektive Intelligenz entstanden war, ohne dass man in der Lage gewesen wäre, dieser kollektiven Intelligenz freie… Betätigungsmöglichkeiten zu bieten“.
Trotz des Zusammenbruchs der Sowjetunion hat die Rede vom „Sozialismus“ bleibend eine „ungeheure Bedeutung in der Weltgeschichte“. Den Begriff des Sozialismus allerdings assoziiert Negri mit der Vorstellung, „es könnte eine gerechte und egalitäre kapitalistische Herrschaft geben“, was er für „eine verrückte Idee“ hält. Deshalb müsse wieder vom Kommunismus gesprochen werden. Hier gehe es um „die radikale Veränderung der Subjektivitäten in ihrem Verhältnis zur Arbeit“, um „die Konstituierung einer neuen historischen Zeit“, um „Befreiung“ und die gemeinsame Fähigkeit, „das Gesellschaftliche zu produzieren und zu reproduzieren“. Kommunismus stehe „für den Optimismus der Vernunft“. So taucht aus den Krisenprozessen der Gegenwart der Kommunismus als „alternativer Ausgang“ wieder auf und „ein Ende des Kapitalismus“ rückt auf die Tagesordnung.
Schließlich betont Negri, dass die Produzentinnen und Produzenten die Herrschaft übernehmen müssen. Das nennt er ganz altmodisch „Revolution“ und meint: „Die Revolution war nie eine Frage der Stärke, sie beruhte immer auf Können, Vermögen und Wissen“. Womit wir wieder bei den Bolschewiki und der Frage nach einer Avantgarde dieser Veränderung wären, die nach zahlenmäßigen Mehrheiten nicht fragt. Und bei den Ambivalenzen im Denken Negris.
Antonio Negri, Raf Valvola Scelsi: Goodbye Mr. Socialism, Edition Tiamat. Verlag Klaus Bittermann, Berlin 2009, 240 S., 16,00 Euro
Schlagwörter: Antonio Negri, Erhard Crome, Kommunismus, Revolution, Stalin