15. Jahrgang | Nummer 25 | 10. Dezember 2012

Kann die Krise überwunden werden?

von Klaus Blessing

Die „Krisenrettung“ nimmt immer groteskere Formen an. Erst waren private Kunden und Betriebe millionenfach zahlungsunfähig. Beide ließ man Pleite gehen. Abermillionen Menschen wurden ins Unglück gestürzt. Allein in den USA haben bereits 16 Millionen Bürger ihre Häuser verloren. Dann drohte die große Bankenpleite, weil die Kredite „faul“ waren. Die Schockwellen gingen rund um den Globus. Nun griff die Politik ein. In ungezählten Tag- und Nachtsitzungen machten sich die „Mächtigen“ dieser Welt zu Sklaven des Finanzkapitals. Bankenrettung nach dem Motto „to big to fail“ (zu groß um zu fallen) und „die Märkte müssen beruhigt werden“ waren die Schlachtrufe der obersten politischen Währungshüter. Die Staatshaushalte, alle nur aus Schulden und Löchern bestehend, bürgten mit Billionen. „Rettungsschirme“ wurden aufgespannt nach dem Prinzip: Wer die kleineren Löcher im Schirm hat, vergrößert sie weiter, um für die größeren Löcher der anderen zu bürgen. Dass ein solch löchriger Schirm nicht schützt, versteht sich von selbst.
Staatsverschuldung ist innerhalb weniger Jahre zur dominierenden Form des Schuldenmachens und zur angeblich größten Gefahr für Europa geworden. Die Staatschefs – unabhängig welch politischer Farbschattierung – versuchen gegen zu steuern. Hauptmethode: Europa wird zu Lasten der besitzlosen Bürger ein Sparpaket ohnegleichen verschrieben. Die Auswirkungen sind verheerend und Menschen verachtend. Horrende Arbeitslosigkeit, Perspektivlosigkeit der Jugend, Schwerstkranke werden nicht mehr behandelt, Operationen nicht durchgeführt, Medikamente sind unbezahlbar geworden, Kinder werden von ihren verzweifelten Eltern in SOS-Kinderdörfer gegeben, signalisieren Berichte aus Griechenland, Portugal, Spanien.
Auf der anderen Seite blüht das Spekulationsgeschäft der Banken wie nie zuvor. Schattenbanken hatten im vergangenen Jahr ein Geschäftsvolumen bei 67.000 Milliarden Dollar. Damit verwalten sie doppelt so viel Geld wie noch vor zehn Jahren. Das Verderben bringende Spiel geht auf erweiterter Stufenleiter weiter.
Der denkende Mensch muss sich die Fragen stellen: Woher kommt das Geld für die Spekulanten, wenn alle sparen müssen? Warum sind die entwickelten Staaten Europas nicht mehr in der Lage, die Grundbedürfnisse ihrer Bürger zu befriedigen? Wieso haben die Länder im reichen Europa die höchsten Schulden?
Wir stellen fest: Nicht nur in Europa, sondern weltweit haben nicht die ärmsten Staaten die höchsten Staatsschulden, sondern die reichsten. Das gesamte Wirtschaftsgeschehen in den entwickelten Industrieländern ist auf Pump aufgebaut: privat, geschäftlich, staatlich – Tendenz ständig steigend. Dominierend sind inzwischen die Staatsschulden geworden. Hinsichtlich der absoluten Staatsschuldenhöhe gibt es weltweit das Ranking: 1. USA, 2. Japan, 3. BRD. Auf den Kopf der Bevölkerung bezogen heisst die Reihenfolge: 1. Japan, 2. USA, 3. Griechenland … 6. Deutschland.
Der Zusammenhang zwischen Reichtum (in Gestalt des Bruttoinlandsproduktes) und Staatsschulden ist funktional fassbar: Je reicher ein Land, desto mehr Staatsschulden hat es. Und umgekehrt: Je ärmer desto weniger. Warum? Die führenden „reichen“ Industriestaaten sind diejenigen, in denen die kapitalistische Ausbeutung am weitesten entwickelt ist. Multinationale Konzerne und Finanzinstitute beherrschen nicht nur die Wirtschaft, sondern die Gesellschaft und die Politik. Das Ziel dieser Gesellschaften ist es nicht und niemals, den nationalen Reichtum allen Bürgern zu Gute kommen zu lassen. Er fließt überwiegend und zunehmend in die Taschen einer immer kleiner, aber immer reicher werdenden Oberschicht. In den USA fließen inzwischen über 50 Prozent des volkswirtschaftlichen Einkommens in die Taschen einer fünf Prozent der Bevölkerung ausmachenden Oberschicht. (1968 war der Anteil bei 40 Prozent).
Der Staat ist weder dazu da, noch in der Lage, dieser Oberschicht das notwendige Vermögen zu entziehen, um gesamtstaatliche Belange durchzusetzen. Er verschuldet sich. Bei wem? Auf dem Umweg über die „Finanzmärkte“ bei eben dieser Oberschicht. Er häuft nicht nur Schulden über Schulden an, sondern zahlt dieser Clique auch noch horrende Zinsen. Woher? Durch Auspressung der unteren Schichten der Bevölkerung durch Lohnminderung , Arbeitslosigkeit und Entzug von lebensnotwendigen Sozialleistungen. Deshalb steht den Staatsschulden spiegelbildlich der Reichtum der Oberschicht gegenüber. In den Staaten mit den höchsten Schulden haben sich auch den größten privaten Vermögen angehäuft.
Nach dieser klaren Diagnose liegt die notwendige Therapie auf der Hand. Für Deutschland würde sich die Konsequenz wie folgt darstellen: „Die Deutschen“ verfügen gegenwärtig über liquide Geldvermögen von annähernd 4,8 Billionen Euro. „Die Deutschen“ sind aber vorrangig zehn Prozent Oberschicht, bei denen fast zwei Drittel des Vermögens liegen, das sind also 3,2 Billionen Euro. Erleichtern wir diese um 60 Prozent, entspricht das zwei Billionen Euro. Aber nicht dergestalt, wie zaghaft gegenwärtig diskutiert. Es geht nicht um eine Vermögensabgabe, die nach mehreren Jahren verzinst wieder zurückgezahlt wird. Es geht um Enteignung gemäß Grundgesetz und Landesverfassungen. Der gesamte Spuk der Verschuldung, Zinszahlung, Tilgung könnte dadurch beseitigt werden. Den Spekulanten dieser Welt würde Geld für ihre perversen Spiele fehlen. Die Völker könnten aufatmen. Die künftigen Generationen brauchten nicht unsere Schulden zurückzahlen. Wie das konkret zu realisieren ist – Schuldenschnitt, Millionärssteuer, Lastenausgleich, Vermögensabgabe, Vermögenssteuer, Erbschaftssteuer, Kapitalertragssteuer – könnten die hoch dotierten „Weisen“ der Wirtschaft erforschen. Damit das „scheue Reh“ Kapital nicht gleich über den nationalen Gartenzaun springt und in den Weiten des internationalen Steuerbetrugs verschwindet, ist dabei auch der Zaun der Kapitalverkehrskontrolle von vornherein hoch genug zu errichten.
In einem zweiten Schritt ist zu gewährleisten, dass derartige gesellschaftliche Disproportionen nicht erneut entstehen. Das wird nicht mit nachträglichem Besteuern eines extrem ungleich verteilten Reichtums zu bewältigen sein. Die Steuerschlupflöcher dieser Welt sind zu verlockend. Zu erreichen ist das nur, wenn der jährlich neu geschaffene Reichtum der Nation nicht in wenige Privattaschen fließt, sondern leistungsgerecht dem Volk zu Gute kommt. Im Mittelpunkt stehen dabei die Vergesellschaftung großen Eigentums und die Sicherung des Menschenrechts auf Arbeit, Entlohnung und Bildung, um ein Leben in menschlicher Würde zu ermöglichen. Schlüsselweg sind die Reduzierung der Arbeitszeit und eine bedarfsgerechte Bildung.
Diese Maßnahmen müssen im dritten Schritt einhergehen mit einer wirklichen Zerschlagung der Macht des Finanzkapitals und der Abhängigkeit der Staaten und der Politik vom Agieren geistloser und anonymer Finanzmärkte. „Diese Institute müssen verstaatlicht werden. Dann kann die Regierung jene Geschäftsfelder schließen, die mit der Kreditvergabe nichts zu tun haben und sicherstellen, dass die Banken keine esoterischen Wertpapier-Wetten mehr veranstalten, die sie selber nicht verstehen“, meinte Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph Stiglitz 2009 im Spiegel. Die Verstaatlichung der Banken , Entflechtung des gesamten Bankensystems, Verbot der Spekulation mit Nahrungsgütern, Rohstoffen, Währungen, von Derivaten, Leerverkäufen und anderen gesellschaftlich sinnlosen Transaktionen ganz zu schweigen, sind zwingend erforderlich.

Klaus Blessing, Jahrgang 1936, ist Buchautor und Publizist.