15. Jahrgang | Nummer 25 | 10. Dezember 2012

Bemerkungen

Nachdenkliches

Götz Aly schreibt Kolumnen in der Berliner Zeitung, die mich so manches Mal mit sehr gemischten Gefühlen zurücklassen. Aber er gibt auch immer wieder Anstöße zum Nachdenken. Vor einiger Zeit erschien eine Kolumne, die mir sehr nachdenkenswert erscheint. Er schreibt dort über Zwangsräumungen in Spanien, zieht eine Linie zur Not in Zeiten der Weltwirtschaftskrise Anfang der dreißiger Jahre und der folgenden Zeit des Faschismus. Und er bringt Fakten, die die schnell wachsende Unterstützung des Hitlerregimes besser verstehen lassen. So stoppte die Hitlerregierung in den ersten Wochen ihrer Herrschaft zum Beispiel Hunderttausende bereits rechtskräftige Räumungs- und Pfändungsbescheide. Sie verbesserte den Mieterschutz drastisch und half überschuldeten Bauern und Gewerbetreibenden. Aly fährt dann fort: „Wenn in sämtlichen Gedenkstätten und in den meisten Schulbüchern behauptet wird, Hitler habe seine Macht mit bestiefelter SA, mit SS und KZs gefestigt, so ist das nicht einmal die halbe Wahrheit. Zustimmung und Massenloyalität gewann er mit sozialpolitischen Maßnahmen, die auch heute noch funktionieren. Wer den Nationalsozialismus auf Terror und Hass reduziert, hat wenig davon verstanden und verhindert, dass aus der Geschichte ausreichend und differenziert gelernt werden kann.“ Ich denke, er hat da den Finger auf einen wichtigen Punkt gelegt.

Mvh

Kalle kriegt alle

Das, was da im Weddinger Prime Time Theater auf die Bühne gestellt wird, ist bestes Volkstheater für alle. Aber weil Volkstheater seit Millowitsch und Kabel so ein abgestandener Begriff ist, nennen sich die Prime Time-Leute lieber Pop-Theater. Vielleicht trifft es das eher. Hier gibt es urige Figuren aus dem Berliner Alltag auf der Bühne (und weil Berlin Schmelztiegel ist, wird munter gekölscht, gesächselt und geschwäbelt), und sowohl die Gegebenheiten im Kiez als auch die große Politik werden mit Witz auf die Schippe genommen. „Ick bin Kalle – ick krieg’se alle!“, gibt der Briefträger vom Wedding (Oliver Tautorat) an. Immerhin hat er eine echte Richterin aus Köln (Katharina Bertus) abbekommen. Aber natürlich bekommen im Prime Time auch Leute aus dem Fernsehen, ob Moderatoren, ob Fußballer ihr Fett weg. Ob Türken, Griechen, Waldorfschüler, DDR-Nostalgiker oder Vegetarier – alle werden liebenswert durch den Kakao gezogen.
Die Bühnen-Soap „Gutes Wedding – schlechtes Wedding“ (GWSW) parodiert sowohl entsprechende Fernsehformate als auch das Leben. Auf die Idee kam vor neun Jahren die Schauspielerin Constanze Behrends, die als alleinige Autorin kürzlich die 80. Folge auf die Bühne brachte (zugleich ihr 100. Stück für das Prime Time). Gemeinsam mit ihrem Kollegen Oliver Tautorat (im Blättchen 3/2012 treffend als „mopsiger Superstriese“ charkaterisiert) leitet sie das Haus und spielt wie alle anderen Mitwirkenden jeweils mehrere Rollen, die sehr einfallsreich voneinander abgesetzt werden. Momentan hat sie sich „herausgeschrieben“, weil sie in einer TV-Serie (nicht in der Prime Time, sondern um 18.45 Uhr) vor der Kamera steht. Deshalb mag die aktuelle Produktion wohl recycelt worden sein – GWSW-Folge 68 „Alle Jahre wieder“ kam leicht verändert und neu besetzt im Weihnachtsmonat heraus. Mahmud als türkischer Weihnachtsmann (Oliver Tautorat), und Ordnungshüter Hermann, der sich mit der Transe Gwendolyn abgibt (Daniel Zimmermann und Robert Speidel), und die Wedding-TV-Reporter Roy und Sopra (wieder Daniel Zimmermann und wieder Katharina Bertus) treffen sich auf diversen Vor-Weihnachtsfeiern wieder und lösen Lachsalven aus. Der Satanist Ronny Horror (schon wieder Daniel Zimmermann) will nicht seine Schwester Ronja (Cynthia Buchheim) nach Hause ins uckermärkische Haßleben begleiten, wo per Video-Einspielung ein Schweinerennen veranstaltet wird. Diesen Nebenschauplatz dominiert Oliver Tautorat als Pfarrer Gottlieb Horwarth mit seinem autoritären Gehabe. Das Schöne aber ist in Constanze Behrends Inszenierung: Für alle Marotten der Figuren gibt es Verständnis – keine wird denunziert.

Frank Burkhard

GWSW-Classic: Alle Jahre wieder, donnerstags bis montags 20.15 Uhr bis 6.1.2013 im Prime Time Theater, Berlin-Wedding, Müllerstraße 163

Blätter aktuell

Die Vereinigten Staaten an der Jahreswende 2012/2013: Die Schere zwischen Arm und Reich geht immer weiter auseinander, die Ungleichheit bei Einkommen, Chancen und Abgaben wächst scheinbar unaufhörlich. Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph Stiglitz malt ein düsteres Bild der aktuellen Lage wie auch der Zukunft der USA. Um eine gerechtere Gesellschaft zu schaffen und zugleich nachhaltiges Wirtschaftswachstum zu garantieren, gelte es, die dramatische Ungleichheit einzuebnen. Andernfalls drohten Zustände wie in einigen Ländern des globalen Südens. Mit dieser Problematik befasst sich der Beitrag von Joseph Stiglitz („Das Ende des Amerikanischen Traums. Die Vereinigten Staaten auf dem Weg zur Erboligarchie“) in der neuesten Ausgabe der Blätter für deutsche und internationale Politik.
Auf den ersten Blick mögen Kapitalismus und Demokratie einander gegenseitig bedingen. Tatsächlich existiert ein fundamentales Spannungsverhältnis zwischen ihnen, stehen die Verteilungsprinzipien Marktgerechtigkeit und soziale Gerechtigkeit in erbitterter Konkurrenz. Der Soziologe Wolfgang Streeck („Auf den Ruinen der Alten Welt. Von der Demokratie zur Marktgesellschaft“) analysiert, inwieweit die Einführung des Euro und die gegenwärtige Krisenpolitik die Hegemonie der Marktgerechtigkeit zementieren. Gegen die herrschende Lehre plädiert er für das Instrument der Währungsabwertung und für ein europäisches Bretton Woods.
Nicht erst seit dem Kampf gegen ACTA ist das geistige Eigentum ein heiß umkämpftes Terrain. Nach Ansicht der Politologin und Journalistin Sabine Nuss („Umkämpftes Copyright. Der Streit um das geistige Eigentum“) sind die Konflikte rund um das Urheberrecht von Beginn an Teil unserer kapitalistischen Marktgesellschaft. Der Streit zwischen Urhebern, Rechteverwertern und Nutzern des geistigen Eigentums verlangt daher nicht nach rein „netzinternen“ Konfliktlösungen, sondern vielmehr nach gesamtgesellschaftlichen Ansätzen. Darüber hinaus enthält diese Ausgabe Beiträge zu „Obamas Macht, Obamas Ohnmacht“, zur Rezession in der Euro-Zoner und in der EU, zum Streit zwischen Kroatien und Slowenien in Sachen Adria sowie über die Rückkehr Partei der institutionellen Revolution (PRI) an die Macht in Mexiko.

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Blätter für deutsche und internationale Politik, Berlin, Dezember 2012, Einzelpreis: 9,50 Euro, Jahresabonnement: 79,80 Euro (Schüler & Studenten: 62,40 Euro). Weitere Informationen im Internet: www.blaetter.de

Stolberg

Durch Stolberg ist schnell gegangen. Zwei verwinkelte Straßenzüge von überschaubarer Länge schlängeln sich zwischen den Harzbergen hindurch; wo sie sich kreuzen, stehen das Rathaus, der Saigerturm und eine gotische Kirche. Drum herum Hotels, Gasthäuser und der Bäcker, weiter in Richtung Ortsausgang die Stadtbibliothek und der Fabrikverkauf der FRIWI-Kekse. Stolberg ist ein traditionsreicher Luftkurort, das heißt, man genießt hier den Aufenthalt am besten außerhalb der Stadt, wandert durch die grünen Berge, seufzt romantisch zu manchem Blick ins Tal und kommt erst mit Einbruch der Dämmerung völlig ausgelatscht nach Stolberg zurück. Dann wird beim Italiener deutsche Küche bestellt, in der Hotelbar ein letztes Bier gezischt und dann unter irgendeiner Dachschräge zum Hauptspielfilm eingedöst. Die Herztabletten nicht vergessen! Die Jugendlichen im Ort können es bestätigen: Nach neun Uhr abends hat Stolberg kaum etwas zu bieten. Anders sieht es mit der Atmosphäre aus. Die ist da. Im Restaurant: Seniorenstift. Auf den Straßen, zwischen all den niedlichen Fachwerkhäusern: Seniorenstift. Auf dem Schloss der ollen Grafen von Stolberg und Stolberg-Stolberg, weit über der Stadt: Geschichte. Bergbau, Bauernkrieg, Ritterfehde. Eine Statue der Gräfin Juliana erinnert an diese Stammmutter des niederländischen Königshauses. Dieses arme junge Ding, möchte der Betrachter beinah denken. Der Blick auf die Stadt hinab stimmt nicht besser. Zwar liegen deren Häuser in Nebelschwaden gehüllt, doch lassen sich trotzdem ihre Beschränktheit, ihre Abgeschiedenheit, die einstige – nicht nur materielle – Armut ihrer Bewohner erkennen. Ein Seufzer, der jetzt nicht mehr romantisch begründet ist. Hier klappert keine Mühle am Bach, klipp-klapp. Hier ist es ganz still.

Thomas Zimmermann

Bajan-Virtuosen

Wer das Akkordeon, vor allem seine mit außerordentlicher Klangfülle ausgestattete osteuropäische Knopf-Variante, das Bajan, immer noch vorrangig mit Seemannsliedern („Schifferklavier“) oder mit so genannter volkstümlicher Musik assoziiert, der ist entweder ein Ignorant oder hatte wirklich noch nie Gelegenheit, solche Virtuosen wie das Duo Euphoria – Elena Lutz und Aydar Gaynullin – zu hören. Wenn da eines der berühmtesten Orgelstücke der europäischen Musikgeschichte ertönt, die „Toccata“ in d-Moll (üblicherweise Bach zugeschrieben), verschlägt es einem nicht nur den Atem, man versteht auch, warum das Akkordeon zu früheren Zeiten in armen Kirchen als Ersatz für die fehlende Orgel herhalten konnte. Gelegenheit, sich von diesen Ausnahmekünstlern bezaubern zu lassen, war am ersten Advent im Berliner Museum im Wasserwerk in Friedrichshagen, das seit Jahren die große Maschinenhalle des historischen Komplexes regelmäßig für stimmungsvolle, auch extravagante Konzerte öffnet. Dann sitzt man zwischen den bis 1979 noch mit Dampf betriebenen eisernen Giganten, in der Luft hängt eine schwache, aber untilgbare Note von Maschinenöl und man hört – zum Beispiel die Bajan-Interpretation von Vivaldis „Winter“ aus den Vier Jahreszeiten, Piazzollas „Libertango“ oder Montis legendären „Csárdás“-Ohrwurm.
Und wer diesen grandiosen Spätnachmittag verpasst hat, dem bietet sich eine zweite Chance: Das Duo wird am 18. Januar um 19.30 Uhr, in der Christophorus-Kirche in Friedrichshagen erneut zu hören sein. Die Kirche verfügt über 600 Plätze, so dass einem Kartenerwerb an der Abendkasse nichts im Wege stehen sollte.

Alfons Markuske

Gemetzel im Klassenzimmer

Der Titel der rabenschwarze Komödie „Frau Müller muss weg“ von Lutz Hübner ist zwar auch nicht ganz ohne, verzichtet aber auf drastischeres Vokabular. Anders als etwa „Der Gott des Gemetzels“ von Yasmina Reza. Das ist jedoch nicht der einzige Unterschied zwischen den beiden Stücken und schon gar nicht der entscheidende, denn wer das letztere für ein fulminantes Kammerspiel über menschliche Abgründe und Mobbing hält, der hat ersteres – derzeit zum Beispiel in einer Inszenierung von Sönke Wortmann im Berliner Grips Theater – offenbar noch nicht gesehen. Im Vergleich zu Hübner liefert Reza allenfalls einen heiter-besinnlichen Familiennachmittag ab! Was sich da vier von fünf Elternvertretern im Klassenzimmer ihrer offensichtlich nicht eben pflegeleichten Grundschul-Sprösslinge an Schlägen unter die Gürtellinie leisten, um Frau Müller, die Klassenlehrerin, wegzumobben, und dabei der Pädagogin und sich auch gegenseitig an Verletzungen zufügen, das ist eines Schlachthauses durchaus würdig – wird jedoch vom Autor in den Dialogen häufig genug satirisch so gebrochen, dass den Zuschauern das Lachen keineswegs im Halse stecken bleibt.
Hübner zeigt: Heutige Eltern, die ihren Nachwuchs auch ohne notwendige Eignung, koste es, was es wolle, aufs Gymnasium bringen wollen, sind fast zu allem fähig, nur nicht zur Erziehung ihrer Plagen. Dabei sind diese Eltern selbst Produkte eines Systems, das durch das Vermarktungsprimat und gnadenlosen Konkurrenzdruck sowie durch emotionslose Selektion unter „rein“ betriebswirtschaftlichen Kriterien („Die guten ins Töpfchen, die schlechten auf Hartz IV“) seelische Verkrüppelungen en masse produziert und Eltern verunfähigt, die Kindheit ihrer Kinder anders denn als Auftakt zum künftigen Erwerbsleben nach den Spielregeln des Systems zu sehen und zu gestalten.
Bei Hübner misslingt das kollektive Mobbing der Lehrerin, was das Ganze in den Augen der gescheiterten Eltern als Tragödie für ihren Nachwuchs erscheinen lassen muss. Da könnte das Gemetzel erst richtig einsetzen. Aber nun sind wir wieder im Hier und Heute, und da fragt einer der Gescheiterten denn doch bloß: „Gehen wir noch ein Bier trinken.“ Und das war’s dann.

Hans-Peter Götz

Grips Theater Berlin, Hansa-Platz, wieder am 7. und 8. Januar 2013 sowie am 6.,7. und 8. Februar.

Ein Kafka der Popmusik

Gut drei Jahrzehnte währt schon die musikalische Karriere von Heinz Rudolf Kunze. Mit seinem Anfang der achtziger Jahre erschienenen Album „Reine Nervensache“ ließ er sich noch eindeutig in das Genre „Liedermacher“ rubrizieren. Und manche Kritiker hefteten ihm aufgrund seiner bissigen und sarkastischen Texte das Etikett „Niedermacher“ an – mit dem Lied „Bestandsaufnahme“, auch nach gut dreißig Jahren noch sehr hörenswert, machte er sozusagen eine ganze Generation nieder. Ein kurzer Textauszug mag dies verdeutlichen:

Wir sind jetzt mündig, und wir haben nichts zu sagen,
wir wählen selbstverständlich weiter Es-Pe-De,
Wir haben keinen Grund, uns wirklich zu beklagen.
Der Sozialismus täte uns ein bisschen weh.

Mit der Singleveröffentlichung „Dein ist mein ganzes Herz“ eroberte er 1985 sogar die westdeutschen Hitparaden. Doch für aufmerksame Zuhörer taten sich selbst in diesem musikalisch weichgespülten Liebeslied interessante Textfallen auf. In den Folgejahren gab es nicht nur viele weitere Platten, sondern auch mehrere Buchveröffentlichungen sowie Auftragsarbeiten (von Musicals bis zum offiziellen Song für den Evangelischen Kirchentag). Der studierte Germanist Kunze weigerte sich zwar, die berufliche Karriere als Deutschlehrer aufzunehmen, aber er gerierte sich oft und gerne als Deutschlehrer für die ganze Nation. 2006 erschien dann nach einer Tournee mit dem Musiker Wolfgang Stute die erste Veröffentlichung („Kommando Zuversicht“) unter dem Projektnamen „Räuberzivil“. Und nach dem Zweitlingswerk 2009, schlicht „Räuberzivil“ betitelt, folgt nun 2012 mit „hier rein – da raus“ das dritte Doppelalbum.
Die Räuberzivil-Ausgaben liefern musikalisch keinen neuen bombastischen Deutschrock, sondern reduzieren beziehungsweise fokussieren sich auf akustische Stücke mit Gitarre und Klavier. Ein markanter Farbtupfer wird durch Hajo Hoffmans Mandoline und Violine gesetzt (sein Violinen-Solo ist live übrigens ein akustisches wie optisches Erlebnis!). Das jüngste Opus enthält 21 Lieder und 13 teilweise musikalisch untermalte Sprechtexte.
Aus dem „Niedermacher“ von einst wurde kein altersmilder Verklärer der gegenwärtigen Zustände. Aber er gesteht sich und seiner Umwelt „Mildernde Umstände“ (so ein Songtitel) zu. In „Lied für Berlin“ liefert er eine Liebeserklärung an die Hauptstadt. Er delektiert sich an den alltäglichen Unglaublichkeiten und Verrücktheiten dieser Stadt und meidet die sattsam bekannten Aussagen zu architektonischen oder sonstigen Gigantomanien.
„Ein und Aus“ greift auf witzige Weise den bürokratischen Wahn der Moderne auf, während „Nimm es nicht persönlich“ eine originelle Querverbindung zwischen General Custer, Jesus und Jimi Hendrix herstellt. Im Lied „Mach es wie ich“ steckt natürlich eine gehörige Portion Ironie, wenn er hymnenartig singt: „Die Arbeiterklasse braucht Helden wie Dich…“
Kunze betrachtet die Welt mit der Brille des intellektuellen Querdenkers. Seine Sprechtexte sind beim ersten Anhören oft verstörend; ihr Sinn erschließt sich nicht unmittelbar. Aus dem Liedermacher von einst wird so immer mehr ein hyperaktiver Kafka der Popmusik. Und seine kreative Power scheint noch lange nicht zu Ende. Ab Januar 2013 wird er mit dem „Prinzen“-Musiker Tobias Künzel als „KuK“ (Kunze und Künzel) auf Tournee gehen.

Thomas Rüger

Heinz Rudolf Kunze & Räuberzivil, hier rein – da raus, Rakete Medien 2012, zirka 18 Euro

Medien-Mosaik

Viel zu selten wird das Lob von Archivaren gesungen. (Höchstens gibt es Tadel, wenn alte Bücher plötzlich im Internet verscherbelt werden.) Aber ohne die sorgfältige Arbeit der Archivmitarbeiter wäre auch die DVD-Reihe „DDR TV-Archiv“ von Studio Hamburg nicht möglich. Jetzt wurde ein Vierteiler von Ulrich Thein nach 46 Jahren wiederentdeckt, der zum 17. Republiksgeburtstag einmalig gesendet und dann weggesperrt wurde. Thein, wie bekannt, ein Ausnahmeschauspieler, hatte sich in den sechziger Jahren erfolgreich als Regisseur ausprobiert und nun den Auftrag bekommen, einen Mehrteiler über die Arbeiter in der Wismut zu entwerfen. Er begab sich auf den „Bitterfelder Weg“, lernte in Zeulenroda den Arbeitsdirektor Sepp Wenig, seines Zeichens einflussreiches ZK-Mitglied, kennen und nahm die Konstellation „unbedarfter Schriftsteller trifft auf ehrlichen und väterlichen Arbeiter“ als Grundlage seiner Geschichte. Da er sich damals von seiner Frau, der Tschechin Jana Brejchova, trennte, verwandelte er das Erlebnis in die Beziehungsgeschichte seines Helden mit einer ungarischen Sängerin. Sauferei und Planerfüllung, Schlägerei und Parteiarbeit mischte er so, dass es einen auf weite Strecken spannenden Film ergab. Als der fertig war, hatte der politische Wind sich nach dem 11. Plenum des ZK der SED gedreht. Die Verhältnisse waren zu ehrlich geschildert worden, und der Mehrteiler wurde aufwendig umgearbeitet. Thein hatte den Film interessant besetzt. Neben einigen der besten Berufsschauspieler, wie Armin Mueller-Stahl, Teri Tordai, Lissy Tempelhof und Günter Grabbert spielten Arbeiter und Künstler sich selbst, etwa Sepp Wenig in einer Hauptrolle sowie Erik Neutsch und Wolf Biermann in Episoden. Nach dem 11. Plenum musste Biermann allerdings aus dem Film entfernt werden, und seine Szenen finden sich neben einem ausführlichen Interview mit Kameramann Hartwig Strobel als Bonus auf der CD-Kassette.

columbus 64, Kassette mit 4 DVD + Booklet, 29,95 Euro

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Seit etwa zehn Jahren hat sich die Hamburger Lehrerin Andrea Schomburg in der Kleinkunstszene etabliert und inzwischen ein knappes Dutzend Bücher herausgebracht. Sie schreibt überwiegend heitere Verse voller Wortspiele und Lebensweisheiten. Witzige Knittelverse wechseln sich mit Zeitkritischem ab, das die Vorbilder Tucholsky und Kästner verrät. Ihr neues Werk „Schöne Bescherung oder: Warum sich Rentiere doch rentieren“ erzählt für Alt und Jung eine Weihnachtsmann-Geschichte, in der die Technik versagt, der Weihnachtsmann von einer Waldfrau gerettet wird und ihrem Charme erliegt. Das alles wurde von dem Maler und Grafiker Kai Pannen liebevoll und voller Witz illustriert: „Der alte Schlitten, frisch geputzt, / wird wieder jedes Jahr genutzt. / Zur Weihnacht spannt der Weihnachtsmann / die alte Rentiergruppe an.“

Schomburg/Pannen, Schöne Bescherung oder: Warum sich Rentiere doch rentieren, arsEdition, München 2012, 9,99 Euro

Bebe

Wirsing

Auslandskorrespondenten sprechen oft frei und haben in der Fremde ihre Muttersprache nicht mehr im Griff. Zum Thema Kunstraub hieß es beispielsweise aus Frankreich in der „Kulturzeit“ auf 3sat: „Die Kunstversicherer warnten die Galerien rechtzeitig, vorsichtig zu sein.“ Wenn vor der Vorsicht von kompetenter Stelle gewarnt wird, wird die Unbedenklichkeit geradezu zur Pflicht!
Von den Unwettern in Italien meldete der n-tv-Reporter: „Eine ganze Region ist hier auf den Knien im Schlamm versunken.“ In der Tat – wenn man sich hinkniet kann man den Kopf besser in den Schlamm stecken!

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Ein Blättchen-Kollege, dessen Name hier gnädig verschwiegen werden soll, arbeitet gelegentlich auch für die junge Welt. In einer Würdigung des DEFA-Regisseurs Günter Reisch schrieb er, der Anarchisten-Film „Wolz“ sei in einer liberalen „Phase nach dem VIII. Parteitag der SPD“ möglich geworden. Man weiß nicht so genau, was die SPD mit der DEFA zu tun hatte. Auch bin ich mit der Zählung der Parteitage nicht vertraut. Gab es den VIII. Parteitag noch zu Bebels Zeiten? Oder wurde bei Herbert Wehner neu gezählt? Auf jeden Fall sollte man sich „Wolz“ mal ansehen.

Fabian Ärmel