15. Jahrgang | Nummer 24 | 26. November 2012

„Bedingt abwehrbereit“ – aber unbedingt angriffswillig (II)

von Korff

Die Spiegel-Affäre nahm ihren Anfang, als die Bundesanwaltschaft am 8. Oktober 1962 die Verlagsbüros des Magazins besetzte und Beschlagnahmen und Verhaftungen vornahm und damit die Veröffentlichung jener noch viel brisanteren Details verhindern wollte (und verhindert hat), die erst jetzt bekannt geworden sind.
Als ab 15. Oktober 1962, also nur wenige Tage danach, die Kuba-Krise eskalierte, weil US-Aufklärer sowjetische Trägerraketen auf Kuba entdeckt hatten, folgte die Kennedy-Administration der Empfehlung hoher Militärs, das Problem „preemptive“ zu lösen, bekanntlich nicht. Das geschah gewiss nicht nur aus Verantwortungsgefühl, sondern auch nach Abwägen der Potenziale und der vom sowjetischen ausgehenden Vergeltungsdrohung für das Territorium der USA. Dennoch zeugt dies von einer vorsichtigeren Herangehensweise als in der Bonner Politik, die ihrerseits nuklearer Vernichtungsplanung als realer Konzeption anhing.
Nun mag mancher sagen: Recht so, – gerade nach dem Mauerbau – nur, man bedenke Matthäus 5, 45: Gott „lässt seine Sonne scheinen auf böse Menschen wie auf gute, und er lässt es regnen auf alle, ob sie ihn verehren oder verachten“. Will sagen: Unter den Millionen deutscher Toten im Falle einer Exekutierung der Straußschen Präemptions-Planung wären dann nicht nur solche gewesen, die nach eigenem Bekenntnis aus der sowjetisch besetzten Zone ein „besseres Deutschland“ machen wollten, sondern auch solche, die dies nach Kräften zu verhindern suchten.
Wenn selbst die Amerikaner im Übrigen ihren deutschen Verbündeten solche Ungeheuerlichkeiten zutrauten – siehe die Kissinger-Aussage im ersten Teil dieses Beitrages –, welche Besorgnis musste da erst in der DDR-Führung herrschen? Auch fünfzig Jahre danach scheint daher die Frage angemessen, wie es denn um den diagnostizierten „Abgrund an Landesverrat“ aus der Sicht der zu vermutenden Profiteure stand, wie man also in dem Teil von Berlin dachte und reagierte, der damals Haupstadt der DDR war. Korff befragte Werner Großmann, den ehemaligen Chef der Auslandsaufklärung der DDR, HV A, die nach seinem Buchtitel „Bonn im Blick“ hatte. Zu jener Zeit, um die es hier geht, wurde er gerade Leiter der Abteilung, die sich mit dem Bundesverteidigungsministerium zu beschäftigen hatte.
Er berichtet, dass es 1962 erst bescheidene Anfänge seines Bereichs gegeben habe, noch ohne eigene Quellen im Ziel oder sich selbst anbietende „Verräter“. Aber ziemlich öffentlich habe es Kenntnisse von solchen Planungen, von Divergenzen zwischen USA und BRD, auch in der NATO, mit den wechselnden Kräfteverhältnissen, gegeben. Wichtig sei gewesen zu erkennen, wie ernst es darum stand, wer was beabsichtigte oder auch nicht. „Wir“, so Großmann, „fühlten uns und waren auch durch Dienstauftrag dazu verpflichtet, unser Staatsvolk zu schützen. Aber was, außer Aufdeckung der Bonner Umtriebe und Förderung der Hoffnung, dass sich in der Bundesrepublik genügend Kräfte durchsetzen würden, um die atomare Aufrüstung oder zumindest die Bestrebungen der Strauß-Fraktion zur eigenen Verfügungsgewalt über nuklear bestückte Waffen zu stoppen – was hatte die DDR dem denn real entgegenzusetzen? Eigentlich nur Vertrauen in die Sowjetunion, Zutrauen in ihre Kraft, auch die militärische, und ihre Kompetenz bei der Lage-Beurteilung.“
Die innere Situation der DDR, die Angst der Menschen in Ost und West vor atomaren Auseinandersetzungen, so Großmann weiter, das eigene militärisches Potenzial und die Wirkung gegnerischer Propaganda gehörten dabei mit ins Lagebild. Ziel sei gewesen, Klarheit zu gewinnen. „Wir waren aber nie die ,Politiker’, die daraus ,Politik’ abzuleiten hatten, weder national noch international.“
Und grundsätzlich: „Wir waren nicht auf, Unterminierung’ der BRD oder ideologische Missionierung aus, sondern auf Kriegsverhütung. Wobei uns zunehmend sowohl eigene Staatsbürger aus allen gesellschaftlichen Schichten unterstützten, als auch Verbündete in der BRD, auch in hohen Positionen. Sie, wie wir, nahmen die Sache sehr ernst, und das war sie auch. Dabei war ein Spezifikum unserer Aufgabe zu beachten: Das war die besondere Situation in und um Westberlin – auch im Selbstverständnis dortiger Politiker –, wenn zum Beispiel daran gedacht wird, welchen Stellenwert Westberlin in Verbindung mit der Kubakrise zusätzlich gewann und behielt. Um es deutlich zu sagen: Die Zusage Washingtons, Kuba nicht mehr anzugreifen, bedeutete umgekehrt auch die eingehaltene Absichtserklärung der Sowjetunion, den Status von Westberlin nicht einseitig zu verändern. Daraus leiteten wir die Aufgabe ab, Provokationen zu verhindern, damit dieses fragile Gesamtgefüge nicht bricht. Damit waren wir, wenn auch nur am Rande, an dem Sicherheitssystem beteiligt, das die Großmächte unter Beihilfe ihrer Geheimdienste installiert hatten. Der eigenständige deutsch-deutsche Dialog, den wir aktiv, unkonventionell und ideenreich unterstützten, hatte dabei sein Gewicht – mit sensiblen Besonderheiten, sowohl innenpolitisch als auch im jeweiligen Bündnis.“
In die sowjetischen Konzeptionen zur Zeit der Kubakrise sei die HV A allerdings wohl nur wenig einbezogen gewesen: „Das kann ich jedoch aus meiner damaligen Position nicht voll beurteilen. Aber auch ohne dies waren wir mit zunehmendem Erfolg bemüht, möglichst vorurteilslos zu erforschen und zu bewerten, was die andere Seite macht, sowohl real, als manchmal auch nur zur Verschleierung. Im Ergebnis unserer verbesserten Leistungsfähigkeit und guter Ergebnisse gab es zunehmend taktisch-aktuelle und in größeren Abständen, fest vereinbart, wirkungsvolle strategische Abstimmungen mit den sowjetischen Kollegen. Besonders nützlich waren wir für unser Bündnis bei der ,Begleitung’ aller NATO-Übungen mit atomarem Einsatz, bereits in der Vorbereitung und dann während der Ausführung, worüber wir Moskau aus erster Hand informieren konnten. Zunehmend auch, um insbesondere gezielte ‚Tests’, sprich Provokationen, als solche zu erkennen und damit mögliche Fehlbewertungen zu verhindern. Das mag zwar nur ein mittelbarer Aspekt der Kriegsverhütung gewesen sein; bei extremer Konfrontation aber war das existenziell – und dies nicht nur für beide deutsche Staaten, in diesem Fall auch für die Bündnissysteme.“
Die aktuell bekannt gewordenen Dokumente bestätigen fünfzig Jahre danach die Berechtigung seinerzeitiger Befürchtungen, trotz damals lückenhafter Erkenntnisse: Der atomare Präventivschlag war für Strauß und einen Teil der Bundeswehrführung eine ernstgenommene Konzeption, die glücklicherweise nicht zum Zuge kam – auch, weil Strauß damals über die Spiegel-Affäre stürzte; vor allem aber, weil sich die Weltlage dramatisch veränderte.
Vielleicht verhilft die späte Bestätigung solcher historischen Vorgänge und Überlegungen heute zu differenzierterem Nachdenken über  Zusammenhänge, Ursachen, Wirkungen und die Einordnung des einzelnen Geschehens ins umfassende Zeitgeschehen.