von Holger Politt, Warschau
Der 11. November ist in Polen Staatsfeiertag, zusammen mit dem 3. Mai der ranghöchste. Er wurde erstmals 1937 und 1938 gefeiert, 1939 war das Land zu diesem Zeitpunkt bereits okkupiert. Seit 1989 wird wieder staatsfeierlich an diesen Tag erinnert. Denn mit diesem Tag wird an das Eintreffen von Jozef Piłsudski in Warschau erinnert, der aus mehrmonatiger Festungshaft in Magdeburg 1918 nach Polen zurückkehrte. In diesem Tag symbolisiert sich die Wiederherstellung Polens als staatliches Gebilde, die Gründung der sogenannten Zweiten Republik nach über 120 Jahren Fremdherrschaft.
Da der Tag in die dunkle, ungemütliche Jahreszeit fällt, wurde lange Zeit kein großer Umstand gemacht – der Schwerpunkt lag auf Besinnung, also stillem patriotischen Gefühl. Die Staatsoberen legten in Warschau am Grabmahl des Soldaten Kränze nieder, für das Volk gab es einen Traditionszug den alten Königstrakt entlang, bei dem mit nachgestellten Kostümen an die heroischen Seiten der Militärgeschichte erinnert wurde – angefangen von den Kosciuszko-Aufständen bis zu den Schlachten im Zweiten Weltkrieg an allen europäischen Fronten und im Lande selbst. Ein ruhiger Tag, ein kurzer Augenblick des Innehaltens im politischen Tagesgeschäft.
Doch 2011 änderte sich das Bild, schwer bewaffnete Polizisten und eine wütende Meute meistens junger Menschen, die Pflastersteine warfen, beherrschten es. Ein Jahr darauf Wiederholung: Wasserwerfer und Rauch bestimmten das Bild. In beiden Fällen gab es einen sogenannten Unabhängigkeitsmarsch, dessen Initiatoren und meisten Teilnehmer überzeugt waren, erst dieser Marsch verleihe dem Tag seine patriotische Weihe. Der politische Bogen lässt sich spannen von der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS), der stärksten Oppositionspartei im Sejm, bis ganz weit nach rechts – zur Allpolnischen Jugend (Wszechpolacy) und zum offen antisemitischen National-Radikalen Lager (ONR). „Wir befinden uns im Krieg, wir kämpfen um ein unabhängiges Polen, weg mit der Europäischen Union!“, so der Chef der rechtsradikalen Jungpolen zu Beginn des Marsches 2012. Er kündigte die Gründung einer „Nationalen Bewegung“ an, die den Sturz der Runden-Tisch-Republik vollziehen werde.
Den Märschen folgten jeweils knapp 30.000 Menschen – nicht wenig, wenn die umstürzlerischen Parolen richtig bedacht werden. Rätsel indes gibt den Beobachtern PiS auf, denn was treibt namhafte Abgeordnete dazu, sich diesem demokratiefeindlichen Treiben anzuschließen? Hinterher wird zwar immer erklärt, man habe den gesunden Geist des Marsches gegen die wenigen Chaoten unterstützen wollen, doch zurück bleibt ein anderer Eindruck: Es wird mit dem Feuer gespielt.
PiS-Chef Jaroslaw Kaczynski gilt als starker Mann, der zumindest in der Lage sein sollte, den politischen Raum rechts von seiner eigenen Partei einigermaßen unter Kontrolle zu halten. Als er im Oktober 2011 bei den Parlamentswahlen ein zweites Mal Donald Tusk unterlag, erklärte er noch am Wahlabend seinen erstaunten Anhängern, auch in Warschau werde bald Budapest sein. Übersetzt in polnische Verhältnisse also ein Zustand, in dem PiS zumindest die parlamentarische Mehrheit besitzen würde und rechts von sich eine politische Kraft zu sitzen hätte, die neben dem parlamentarischen Standbein auch noch paramilitärische Garden unterhielte, die sich gewissermaßen als Schutzschild einer wie auch immer definierten nationalkonservativen Revolution aufspielten.
Davon sind die heutigen Verhältnisse an der Weichsel zum Glück sehr weit entfernt. Nichts deutet daraufhin, dass Kaczynskis Vision Wirklichkeit werden könnte. Und doch schreckte das Geschehen am 11. November 2012 die Gemüter auf. Staatspräsident Bronisław Komorowski führte nach den offiziellen Kranzniederlegungen einen „Marsch für die Unabhängige“, also für die Republik an. Dabei wurden entsprechende Kränze an Denkmälern niedergelegt: für Pilsudski (zweimal), für Kardinal Wyszynski, für den legendären Bauernführer Wincenty Witos, für General Grot-Rowecki, der seit 1940 Chef der Untergrundarmee im okkupierten Polen gewesen war und Anfang August 1944 im KZ Sachsenhausen ermordet wurde, und für Roman Dmowski, dem großen politischen Gegner Piłsudskis. Gedacht war der Marsch als versöhnende Geste – in Richtung PiS in erster Linie.
Auch Adam Michnik, legendärer Chef der liberalen „Gazeta Wyborcza“ schob versöhnliche Töne nach: Die Nationaldemokratie, also die Partei Dmowskis, sei stets eine Partei für den Staatserhalt und die -sicherheit gewesen. Demzufolge seien die Erben dieser Tradition nicht unter jenen zu finden, die dem Aufruf zum Sturz der bestehenden Republik Beifall spendeten, sondern unter jenen, die sich in den Marsch von Präsident Komorowski eingereiht hätten.
Selbst die Chefs der beiden linksgerichteten Sejm-Gruppierungen, Leszek Miller und Janusz Palikot, beeilten sich, die zwischen beiden in den zurückliegenden Monaten aufgerissenen Gräben zuzuschütten. Beide unterschrieben einen Aufruf „Für Europa, gegen Faschismus“. Darin stellten sie dem steinewerfenden Polen des 11. Novembers ein offenes, tolerantes und vielfarbiges Polen entgegen.
Weil Jarosław Kaczynski im Herbst 2011 ganz offen an Budapest dachte, besteht nun die große Chance, dass die Gegner solcher Verhältnisse, in denen Verfassungen ungeniert nationalkonservativ umgeschrieben werden können, sich an der Linie der Verteidigung bestehender demokratischer Verhältnisse zusammenfinden. Das schließt nicht aus, sich im politischen Alltag oft genug in den Haaren zu liegen.
Schlagwörter: Bronisław Komorowski, Holger Politt, Jarosław Kaczyński, Jozef Piłsudski, Polen, Ungarn