von Gerd Kaiser
Das im Impressum erwähnte Museum fördert seit einigen Jahren Ergebnisse wissenschaftlicher Forschungen zur Vorgeschichte, zum Verlauf und den Folgen des II. Weltkrieges. Unter ihnen 2010 eine chronologisch und thematisch begrenzte Geschichte von Thomas Chincinski zur Diversion Deutschlands 1939 in Polen, die unter dem Titel „Forpoczta Hitlera. Niemiecka dywersja w Polsce w 1939 roku“ in Polnisch erschienen ist.
Marek Kornats Studien zur polnischen Außenpolitik sind anders angelegt: Sie umfassen einen längeren Zeitabschnitt und behandeln „weiße Flecken“ der polnischen Außenpolitik vornehmlich in Ostmitteleuropa. Dabei fassen seine eigens für den deutschsprachigen Leser geschriebenen Studien die bisherigen Überlegungen des Autors, veröffentlicht in zahlreichen Publikationen, zusammen. Allein im Jahrzehnt seit 2000 veröffentlichte Marek Kurnat nahezu Jahr für Jahr ein Buch zur polnischen Zwischenkriegsgeschichte, die für das Land eher eine Nachkriegs- und Vorkriegsgeschichte im Spannungsfeld zwischen Sowjetrussland und Deutschland und Polen vielmehr ein Objekt denn ein Subjekt der internationalen Beziehungen in Europa zwischen Versailler Vertrag und 1939 war.
Allerdings wurde die archivarische Basis der Studien durch die Nutzung vielfältiger Quellen unter anderem im Außenpolitischen Archiv Russland s (der Litwinow-Nachlass), im Staatsarchiv Russlands für Sozial-Politische Forschungen (der Nachlass Stalins), das Politische Archiv des Auswärtigen Amtes der BRD sowie vielfältige polnische Archive in Polen und anderen Staaten wesentlich verbreitert.
Damit füllen die Studien eine Lücke, denn bisher fehlt in der deutschsprachigen Literatur eine Überblicksdarstellung, in der die wichtigsten Dilemmata der polnischen Diplomatie in den zwei Jahrzehnten von 1918 bis 1939 zur Sprache gebracht worden wären.
Dies allerdings vor dem historiographischen Hintergrund, dass die deutsch-polnischen, wie auch die polnisch-französischen und die polnisch-britischen außenpolitischen Beziehungen ebenso wie die Beziehungen Polens zu den Nachbarstaaten Litauen und der Tschechoslowakischen Republik zwar vielfältig erforscht sind, die Ergebnisse dieser polnischen bzw. in Polen veröffentlichten Forschungen jedoch vom deutschen Leser, nicht zuletzt aus sprachlichen Gründen, nur selten zur Kenntnis genommen worden sind. Dem Berlin-Brandenburger Verlag be.bra ist deshalb für sein verlegerisches Engagement zu danken; das Manko der ansonsten untadeligen Übersetzung, die eine Reihe vom Verfasser genutzter Veröffentlichungen nicht nach den vorhandenen deutschsprachigen Publikationen sondern nach Veröffentlichungen in polnischer und in weiteren Sprachen zitiert, ist zu verschmerzen.
Die vorliegende Publikation widmet sich den komplexen Schwierigkeiten, mit denen die Außenpolitik des 1918 wieder erstandenen Staatswesens Polen konfrontiert war.
In ihnen sowie in seinen Vorträgen anlässlich internationaler wissenschaftlicher Veranstaltungen untersucht Marek Kornat die Handlungsoptionen der polnischen Außenpolitik vom Abschluss des Versailler Vertrages bis hin zum Pakt zwischen dem Deutschen Reich und der UdSSR, den die Außenminister Wjatscheslaw Molotow für die UdSSR und Joachim von Ribbentrop für Hitlerdeutschland am 23. August 1939 in Moskau unterzeichnet haben. Dabei bewegen sich die Überlegungen des Autors im Grenzbereich zwischen Diplomatiegeschichte und zeitgenössischen gesellschaftspolitischen Debatten in Polen. Diese dauern bis zum heutigen Tage an. Dabei geht der Autor auch auf den Historikerstreit in Polen ein, der über die inkorporativen Lösungen von Seiten der polnischen Nationaldemokraten, der Anhänger Roman Dmowskis und die föderativen Konzepte eines Jozef Pilsudskis, dessen Mann in der Außenpolitik Minister Jozef Beck war, geführt werden. Dabei geht es unter anderem um beschönigend genannte „Erwerbungen“, um das so genannte Grenzland, die „Kresy“, das heißt litauische, weißrussische und ukrainische Landstriche unter der Vormacht der politischen Titularmacht. An diesem politisch geprägten Historikerstreit um die wesentlichen Elemente und die Konsequenzen der außenpolitischen Grundkonzepte (eine Auflistung derselben und deren Charakterisierung siehe bei Marek Kurnat, S. 107 ff.), nehmen bis auf den heutigen Tag vor allem polnische, aber auch französische Historiker wie Daniel Beauvois und Publizisten wie Adam Michnik teil (Siehe z. B. Gazeta wyborcza, Warszawa, 8./9. September 2012. S. 32 f.).
Die Studien sind klar gegliedert und gut zu lesen. Nachdem in der ersten Hälfte der zwanziger Jahre eine für das politische Denken in Polen wichtige Debatte über die fundamentale Ausrichtung der Außenpolitik Polens stattgefunden hatte, bestimmte nach dem Staatsstreich Jozef Pilsudskis (1926) dessen Orientierung die Außenpolitik Polens zwischen dem Nichtangriffsvertrag Polens und der UdSSR von 1932 und den deutsch-polnischen Absprachen vom 26. Januar 1934. Die polnische Politik suchte die prekären Grenzfragen im Westen wie im Osten vor allem durch bilaterale Abkommen zu sichern, gesamteuropäische Garantien für Polens Existenz kamen nicht zustande.
Ein Zusammenschluss der ideologisch verfeindeten Staatswesen Deutschland und Sowjetunion, und sei es auch nur für eine historisch kurze Zeit, wurde von polnischer Regierungsseite nicht für möglich gehalten. Deren Außenpolitik scheiterte letztendlich 1939 mangels Alternativen durch die Aggressionen vom 01. und vom 17. September 1939, als Truppen der Aggressionsmächte sowohl vom Westen als auch von Osten und unter Bruch der gültigen internationalen Vereinbarungen in Polen einmarschierten.
Marek Kornat: Polen zwischen Hitler und Stalin. Studien zur polnischen Außenpolitik in der Zwischenkriegszeit, be.bra verlag. / Muzeum II Wojny Swiatowej (Museum des II. Weltkrieges), Berlin 2012, 303 Seiten, 19,95 Euro
Schlagwörter: be.bra verlag, Gerd Kaiser, Hitler, Litwinow, Marek Kornat, Molotow, Pilsudski, Polen, Ribbentrop, Stalin