15. Jahrgang | Nummer 19 | 17. September 2012

Querbeet (XIV)

von Reinhard Wengierek

Meine Fundstücke im Kunstgestrüpp: Diesmal viele tausend Euro, Pissoir-Kunst, Kaff-Kunst, Bayreuth ohne Libido und Parsifal mit Skoda.

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Schiller hielt es für „Schmiererei“, was er da als Aufreißer für sein verkaufsschwaches Intellektuellen-Blatt „Thalia“ hinschrieb. Doch „Der Geisterseher“, die Sex-, Drogen- Gangsterstory vom reichen Prinzen, den unerträglicher „Realitätsterror“ ins Ferne treibt, um dort die „Schranken der Gegenwart“ niederzureißen, dieser Youngster-Thriller wurde prompt ein Hit. Weil: Ein wahrlich toller Text über Vernunft, Glaube, Irrsinn, über den Strudel aus Rausch und Erkenntnis, Ratio und Irratio. Ein theatertauglicher Mix, den sich Jungregisseur Antu Romero Nunes vornahm für seine Examensarbeit (Busch-Hochschule Berlin), um ihn – zusammen mit zwei Schauspiel-Absolventen gleichen Instituts (Paul Schröder & Jirka Zett) – ins Berliner Gorki-Theater zu knallen. Das 80-Minuten-Ding wurde ein kleines Theaterwunder, und Nunes auf Anhieb zum Regie-Prinzen. Das rasend umtriebige, fast immer innovative „Gorki“ (mein Berliner Lieblingstheater, ätsch Deutsches Theater!), das gilt ja überhaupt als Kaderschmiede für Bühnenstars. Schröder und Zett scharren an der Startrampe zum Ruhm zwar noch heftig mit den Hufen. Doch immerhin: Der rumpelstilzig trieselnde Paul Schröder, eine Wuchtbrumme von Präsenz, gleichermaßen stark in komödiantischer Überdrehtheit wie tiefernstem Innehalten, der bekam zu Anfang des Sommers den Preis der Gorki-Freunde. Ein Strauß Margeriten plus 2.000 Euro.

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Am Ende des Sommers als Einstieg in die neue Gorki-Saison gleich wieder ein Aufreißer – wieder mit Nunes (ein Jung-Genie ist auszurufen, ja wirklich!). Und mit Schröder plus Michael Klammer (noch ein erster Spieler mit großer Zukunft) sowie mit Aenne Schwarz. Die drei liefern eine virtuose Schiller-Show: „Die Räuber“ nicht nachbuchstabiert und nicht auserzählt. Dafür signifikante Szenen kompakt als drei super Soli für einen zwischen Pathos und Kabarett schillernden Diskurs über Freiheit, Zwang, Gerechtigkeit. Coole Lebenslektionen, dazwischen krachender Theaterdonner. Für verzärtelte Ohren gibt’s – verdammt korrekte Kunst! – Stöpsel im Foyer.

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Und jetzt mein kleines Sommer- Retro: Was blieb hängen im Hirn unterm Strohhut?? –Dass da eine „Sächsische Semmeringbahn“ durch schluchtige Täler schnauft im Elbsandsteingebirge zwischen Bad Schandau und Sebnitz, der „Deutschen Seidenblumenstadt“, wo man seit 1834 in Handarbeit Blümchen bastelt. – Dass der Verein Deutsche Sprache den Karstadt-Chef Jennings zum Sprachpanscher des Jahres kürte für Werbeworte wie „Mideseason Sale“; dazu ein Imperativ der Vereins-Zeitschrift: „Es ist wichtiger, die deutsche Sprache zu retten als den Euro!“ – Dass der Nachwuchs-Kunstpreis „Start 2012“ (30.000 Euro) an den Düsseldorfer Akademie-Absolventen Andreas Schmitten (32) ging, der das zylindrische Treppenhaus des Museums mit Waschbecken und Pissoirs dekorierte, was nach Meinung der Jury beim Betrachter „spannende Reflexionskatalysatoren und filmische Narrative“ auslöse. – Dass unsere Theater nichts als „Kaff-Kunst“ böten; eine „verlorene Kunst in dem Sinn, wie man von einem Kaff am Rand der Welt sagt, es sei verloren“, so unser Groß-Philosoph Peter Sloterdijk im Tagebuch „Zeilen und Tage“. – Dass die Gesamtbesucherzahl aller Theater, Orchester, Festspiele von 31,5 auf 32 Millionen (Saison 2010/2011) gestiegen ist; dass die öffentlichen Zuschüsse (2,3 Milliarden Euro) und die Eigeneinnahmen (497 Millionen Euro) ebenfalls leicht anstiegen. Mehr Leute und mehr Knete für Kaff-Kunst.

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Ach ja, dann noch Bayreuth. Es gibt dort einen hübsch lehrreichen Jean-Paul-Spazierweg. Aber vor allem: Im Festspielhaus butterweiche Klappsessel mit rotem Samt, Armlehnen und orthopädisch großzügiger Beinfreiheit – in den Logen an der Rückwand (im Parkett: alles Folterstühle). Eine Entdeckung, hat aber ihren Preis: 230 Euro, die weh taten. Denn Regisseur Christoph Marthaler aktivierte seine Folterwerkzeuge ausgerechnet an der Wahnsinnsliebe zwischen Tristan und Isolde. Sie musste ausfallen, die Libido war weggeätzt. Und die beiden erotisch Uninteressierten traten auf in versiffter Bude und schäbiger Kluft wie zwei müde Mitarbeiter einer kommunalen Wasserversorgungsbehörde, die singend über Abrechnungen brüten.

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Vor zehn Jahren war der Jura-Student Henryk Wichmann CDU-Jungpolitiker, konnte jedoch trotz tapferen Groß-Einsatzes den Wahlkreis Uckermark/Oberbarnim nicht gewinnen. Aus diesem Wie-verrückt-Wahlkampf im CDU-fernen Brandenburg machte damals der Regisseur Andreas Dresen einen herzbewegenden Dokfilm über einen von christlicher Nächstenliebe befeuerten Idealisten, für den Politik nichts Zynisches, nichts Verlogenes ist. Wichmann sozusagen – wie Parsifal – der reine Tor. Inzwischen sitzt er als Nachrücker in der dritten Reihe vom Potsdamer Landesparlament. Da meldet sich Dresen zurück und dreht den Film „Herr Wichmann aus der dritten Reihe“. Eine so distanziert lakonische wie ungeniert liebevolle Hymne auf die stillen Helden des politischen Alltags. Herr Wichmann als Weltverbesserer. Für den Familienvater ist das (zunächst) der Dauerkampf gegen den Frust der Bürger in der Welt seines Wahlkreises. Unentwegt ist der Landtagsabgeordnete mit dem Kreuz an der Wand seiner Bürgerbüros im Skoda auf Achse im Clinch mit der oft bis ins Absurde getriebenen Bürokratie. Und mit Einwohnern, die immer bloß meckern „über bekloppte Politiker, die nichts tun“. Herr Wichmann tut und tut. Und ich frage mich, ob wir alle nicht selbst als notorische Meckerfritzen die Bekloppten sind. Doch da sehen wir den nie kleinkariert kümmerlichen Kümmerer schon wieder in den Höllen lebensferner Verwaltungen, um zu löschen, was zu löschen geht. Solche Männer braucht das Land! Und solche Filme.

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Zum Schluss ein Dialog von vergangener Woche: Sagt Sidneys anglikanischer Erzbischof Jensen, Homosexualität sei gefährlicher als Rauchen. Antwortet die Labour-Senatorin Crossen, das kränke Menschen, die geraucht und deswegen Krebs bekommen haben. Bis zum nächsten Querbeet.