15. Jahrgang | Nummer 16 | 6. August 2012

Querbeet (XIII)

von Reinhard Wengierek

Meine Fundstücke im Kunstgestrüpp: Diesmal Anna Netrebko mit Maiskolben, Tristan-Akkord im Kino, ein trällerndes Edelbordell und zwei Familien-Blues.
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Für zarte Gemüter ist sie Furcht erregend, diese langbeinige Göttin schamlosen Krawalls, der trotz feinen Gelispels furiengleich ihrem Schandmaul entweicht. Die Dame Désirée Nick, eine studierte Religionslehrerin, war unheilige Königin im TV-Dschungelcamp sowie heftige Zungenküsserin (etwa mit Berlins Regierendem Wowereit). Die weiß intim Bescheid über Dieter Bohlens Hoden, über Anouschka Renzis Hintern oder Anna Netrebkos Goldkehle („die kann einen Maiskolben bis zum Anschlag …“).
Freunde des guten Geschmacks sollten nicht vorschnell abwinken. Der gar garstige Engel ist nicht nur souverän im Untergriffigen. Die aggressiv Blondierte beherrscht als solide Schauspielerin wie höllisch erfahrene Philosophin auch ganz lässig die bitterbösen wie himmlischen Pointen des Lebens. So stöckelt sie denn als tollkühne Tanz-, Sing- und Spottdrossel den lieben August lang durch ihren verrückten Irrgarten aus Parodie und Pathos. Volkstümliches Motto, natürlich frei von Tümelei: „Ein Mädchen aus dem Volk“. Unwettergeschützt in der entzückend verplüschten und verspiegelten „Bar jeder Vernunft“, Berlins feinster Bonbonschachtel für Shows aus gröbstem Unfug wie durchtriebenstem Hintersinn. Beides gehört schließlich zu jedem besseren Entertainment. Die Nick it’s best!
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Im edlen Palais Lobkowitz wuchert das Wiener Theatermuseum, von dem Berlin noch träumt, mit seinen Schätzen. Gerade läuft die Sonderschau „Welt der Operette“. Noch immer wird diese gern abgetan als provinziell-vermuffter Ausfluss der hehren Oper. Dabei ist sie ein Kontinente umspannendes Phänomen, das Mitte des vorvorigen Jahrhunderts in Paris mit Offenbach als eigenständiges, politisch und erotisch brisantes, obendrein musikalisch brillantes Genre im Unterhaltungsbetrieb seinen schillernden Anfang nahm. Herrlich, wie die kunterbunte Ausstellung gerade seine pornographischen Wurzeln bloßlegt – in Paris war um 1850 ungeniert die Rede vom „singenden, tanzenden Edelbordell“. Und prompt mischte sich in derart sexualrevolutionäre Umtriebigkeit Sozialkritik (gegen Scheinheiligkeit, Doppelmoral, Käuflichkeit). In den besten Werken kam das frivol-lasziv Menschelnde mit den Härten von Geld und Macht melodiös in eins. Das Lobkowitz illustriert diesen Kunstglanz – und daneben die Abgründe aus staatspolitischer Vereinnahmung oder verkitschtem Kommerz.
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Stephen Fry, hoch gewachsen, schwul und mit bemerkenswert schiefer Nase, ist Dichter, Schriftsteller, Regisseur, Journalist und Komiker – und beide zuletzt genannte Professionen waren wohl besonders hilfreich bei der filmischen Feier seiner so heißen wie heiklen Lebensliebe ausgerechnet zu Richard Wagner. Denn: Der klassisch exzentrische Engländer ist jüdisch verwurzelt, sein Angebeteter war glühender Antisemit und NS-Idol. Aber eben auch Exzentriker, auf so geniale wie idiotische Art. Ein Problem, das Fry schließlich zu einem Selbsterfahrungstrip zwang: Also auf zu Wagners Wirkungsstätten, auf nach Bayreuth, nach Wahnfried in die Genie-Bude, Familienhöhle, Judenhass-Zentrale und rein in die Archive mit dem Nazi-Wagnertum! Bayreuth und Nürnberg, Tristan-Akkord und Interview in Tel Aviv mit der Cellistin Anita Lasker-Wallfisch, Überlebende des Mädchenorchesters von Auschwitz … Eine tolle Tour, begleitet vom Dokfilmer Patrick McGrady, die grundsätzlich nichts Neues zeigt. Und doch ist „Wagner & Me“ ein umwerfender, hinreißend verrückter Film! Weil er so souverän unverblümt, so überzeugend und ergreifend von einer privaten Leidenschaft erzählt, in die immerfort das Nicht-Private schwappt: Fry verschränkt mit entwaffnendem Charme, lakonischem Humor sowie kühlem Ernst den Wahnsinn des Herrlichen mit dem des Schrecklichen. Spannend für notorische Wagnerfans wie eingefleischte Wagnerfeinde und Leute, denen Wagner schnuppe ist. Eine kokett verführerische, zuweilen komische und doch coole Liebeserklärung – trotz allem!
Also muss man nach Bayreuth? Vielleicht einmal im Leben, wegen der (zwiespältigen!) Aura des Ortes. Frau Wallfisch freilich winkt gelassen ab: „Zu viel Lärm!“ Und überhaupt, in aller Welt wird inzwischen selbst in kleinsten Orchestergräben fleißig gewagnert (allein mit dem „Ring“ gegenwärtig an zehn deutschen Häusern). – Doch eine Neuigkeit hat Bayreuth heuer: Die Ausstellung zur antisemitischen Besetzungspolitik der Festspiele von Beginn an. Der Historiker Hannes Heer hat sie zusammengetragen, wie zuvor schon die Dokumentationen der Schicksale „rassisch“ verfolgter Künstler an Theatern in Berlin, Stuttgart, Darmstadt, Dresden (Querbeet XI). Doch die Privatarchive des verzankten Wagner-Clans blieben auch ihm verschlossen. Obgleich die Festspielchefin und Wagners Urenkelin Katharina stöhnt, in den Kellern steckten „bergeweise Akten“. Aber dem Titelhelden vom „Fliegenden Holländer“ kündigte sie fix vor der Premiere das Engagement. Weil ruchbar wurde, dass der russische Bariton ein inzwischen überstochenes Hakenkreuz-Tattoo hat. Die dämliche Jugendsünde hat der Ex-Punker Evgeny Nikitin längst bereut. Hilft aber nix im ach so korrekten Bayreuth.
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Fünf Gräber auf drei Friedhöfen in drei Stadtbezirken. Für Marion Brasch zum Blümchenbringen immer eine Rundfahrt durch Berlin. Zu den Eltern und den drei Brüdern. Sie und ihre Tochter sind die letzten einer Familie zwischen jüdischer Emigration (nach England), politischer Machtausübung (DDR) und politischer Verfolgung (DDR). Eine Familie – zerfetzt in ideologischen Grabenkämpfen, von Liebe und Hass, Euphorie, Wahn, Verbitterung und Verzweiflung. Und klein Marion einsam zwischen allen Fronten. Davon erzählt sie erregend lapidar. Locker summt sie einen lebensprallen 400-Seiten-Blues, Titel des „Romans meiner fabelhaften Familie“, die eine exemplarische war: „Ab jetzt ist Ruhe“ (S. Fischer Verlag). Ist mir ein Herzensbuch! – Wie das von Irina Liebmann über ihren Vater Rudolf Herrnstadt (Berlin Verlag). Auch eine exemplarisch östlich deutsche Familiensaga unter dem alles sagenden Motto „Wäre es schön? Es wäre schön!“. – Tja, dieser ewige, selig-unselige Konjunktiv.
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Sommer in der Hauptstadt, also raus zum Wannsee. Ins Kulturhaus „Villa Blumenfisch“. Unter Bäumen am Wasser gaukelt das Varieté „Luft und Liebe“; beim richtigen Wetter mit Sonnenuntergangsglühen. Romantischen Tingeltangel täglich bis Ende August. Derweil mach’ ich mal Pause. Bis zum nächsten Querbeet Mitte September.