15. Jahrgang | Nummer 16 | 6. August 2012

„Die Reichen kaufen sich das System.“
Im Gespräch – mit Heiner Flassbeck

Heiner Flassbeck war nach Studium und Promotion (zum Thema „Preise, Zins und Wechselkurs. Zur Theorie der offenen Volkswirtschaft bei flexiblen Wechselkursen“) von 1980 bis 1986 im Bundeswirtschaftsministerium tätig und wechselte dann zum Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin. Dort arbeitete er an Arbeitsmarkt- und Konjunkturanalysen und über wirtschaftspolitische Konzepte; 1990 übernahm er die Leitung der Abteilung Konjunktur.
1998 wurde er zum Staatssekretär im Bundesministerium der Finanzen berufen und war enger Mitarbeiter des damaligen Bundesfinanzministers Oskar Lafontaine bei dessen Vorhaben, eine keynesianische Finanz- und Währungspolitik auf europäischer Ebene zu etablieren sowie das Weltwährungssystem zu reformieren.
Seit Januar 2003 ist er Chef-Volkswirt der der UN-Organisation für Handel und Entwicklung (UNCTAD).
Heiner Flassbeck ist regelmäßiger Gastautor im
Blättchen.

Die Redaktion

Herr Flassbeck, Sie beklagen, dass bei den politisch verantwortlich Handelnden in Europa, Amerika und Fernost seit Ausbruch der derzeitigen Finanz- und Wirtschaftskrise 2008 keinerlei Bemühen erkennbar sei, die Ursachen des Desasters zu analysieren. Statt dessen sei – vor allem in Europa – erst die Fed, die US-Notenbank, mit ihrer langjährigen Politik des billigen Geldes als Krisenverursacher an den Pranger gestellt und anschließend die Krisenursache von den Kritikern zum Haupttherapeutikum erkoren worden: Die Europäische Zentralbank flutete die Finanzmärkte mit noch billigerem Geld und befeuerte das Casino erneut. Worin liegen die Ursachen der gegenwärtigen Krise?
Heiner Flassbeck: Es gibt aktuell zwei Krisen, die sich überlappen. Da ist zum einen die allgemeine Finanzkrise, deren Ursache in der nahezu kompletten Deregulierung der Finanzmärkte liegt, die die Politik seit Ende der 80er Jahre – beginnend unter Margret Thatcher und Ronald Reagan – herbeigeführt hat. Die Folge war eine Loslösung dieser Märkte von der Realwirtschaft und das Überschießen in einen Casinokapitalismus, in Spekulationsgeschäfte mit irrationalen Wetten und artifiziellen Finanzprodukten in immer aberwitzigeren Dimensionen. All dies zielte allein darauf, die Gier der Anleger zu anzustacheln, damit Banken, Hedgefonds sowie andere Finanzjongleure und vor allem deren Spitzenmanager daran unglaubliche Summen verdienen konnten. Dieser Entwicklung hat die Politik auch nach dem Crash von 2008 keinen wirksamen Riegel vorgeschoben.
Daneben haben wir eine Euro-Krise, die nicht ursächlich mit der Finanzkrise zusammenhängt, aber durch diese ausgelöst wurde. Die Euro-Krise resultiert aus einem Geburtsfehler der Währungsunion, der von der Politik bis heute nicht richtig begriffen worden ist. Zwischen Staaten mit unterschiedlichen Währungen können wirtschaftliche Ungleichgewichte durch Währungsauf- oder -abwertungen ausgeglichen werden. So hat Argentinien vor Jahren den Weg aus der Staatspleite zu neuer Prosperität gefunden. In einem einheitlichen Währungsraum steht dieses Instrumentarium aber nicht zur Verfügung. So ein Raum funktioniert daher nur, wenn die Wettbewerbsfähigkeit der Teilnehmerländer nicht zu weit auseinanderklafft und wenn ein gemeinsames Inflationsziel definiert und eingehalten wird. Letzteres aber nicht nur beim Start einer Währungsunion, wie man zurzeit der entscheidenden Weichenstellungen für den Euro Ende der 90er Jahre glaubte, sondern permanent. Das wiederum setzt eine gemeinsame Wirtschafts- und Finanzpolitik voraus. Die gibt es aber bis heute nicht, und das gemeinsame Inflationsziel hat vor allem Deutschland durch seine langjährige Politik der Lohnzurückhaltung und des Sparens massiv unterlaufen und damit die wirtschaftlichen Disproportionen im Euro-Raum außerordentlich verstärkt. Dadurch hat Deutschland zugleich massiv an Wettbewerbsfähigkeit gewonnen, die südeuropäischen Euro-Ländern haben ebenso massiv verloren, und das Mittel, über Veränderung der Währungsrelationen steuernd eingreifen zu können und relativ rasch Wirkung zu erzielen, gibt es nicht mehr. Die diversen Rettungsschirme lösen dieses Problem gerade nicht. Alles zusammen hat das internationale Vertrauen in die Gemeinschaftswährung und ihren Bestand stark erschüttert.

Man liest auch immer wieder, dass die deutschen Außenhandelsüberschüsse zum Teil die Schulden der heutigen südeuropäischen Krisenstaaten seien. Ein „Exportweltmeister“ mit Überschüssen ist Deutschland aber seit Jahrzehnten. Ist die jetzige Schuldzuweisung da nicht etwas weit hergeholt?
Flassbeck: Dass Deutschland auch in vielen Jahren vor der Einführung des Euro Exportüberschüsse erzielte, steht außer Frage. Dass die sehr groß gewesen wären, ist allerdings ein – verbreiteter – Irrtum. Im Vergleich zu heute, und das ist der springende Punkt, waren frühere Überschüsse verschwindend gering, und die südeuropäischen Staaten waren keineswegs dauernden Defizitländer. Die heutige Situation konnte sich überhaupt erst unter den Bedingungen einer Währungsunion  herausbilden, weil es keine Auf- und Abwertung mehr gibt. Zu einem Ausgleich ist es ja vor allem deswegen nicht gekommen, weil vor allem Deutschland eine Linie des national interests first verfolgte, um seiner Wirtschaft einseitige Vorteile zu verschaffen. Das hat in Deutschland die Binnennachfrage zerstört und die Exporte explodieren lassen und das System an seine Grenzen gebracht. Trotzdem fokussiert sich die Politik weiter völlig einseitig auf die Staatsschulden, die überhaupt nicht der Kern des Problems sind.

In Ihrem Buch „Die Marktwirtschaft des 21. Jahrhunderts“ schreiben Sie sinngemäß, dass die Grundvoraussetzung eines funktionierenden Weltwirtschaftssystems eine internationale Geldordnung sei. Bitte skizzieren Sie die Essentials einer solchen Ordnung.
Flassbeck: Eine internationale Geldordnung hat es ja bereits einmal gegeben. Das war das im Wesentlichen von John Maynard Keynes erdachte System von Bretton Woods mit dem an einen Goldstandard gebundenen US-Dollar als Leitwährung und mit vereinbarten festen Wechselkursen. Allerdings war es schon im Rahmen dieses Systems nicht gelungen – ebenso wenig wie jetzt im Euro-Raum –, die Inflationsraten der Teilnehmerländer dauerhaft aneinander anzupassen, was Auf- und Abwertungen verlangte, die politisch schwer umzusetzen waren. Das war auch einer der maßgeblichen Faktoren, die zum Scheitern von Bretton Woods führten. Ich favorisiere daher ein internationales System mit floatenden Wechselkursen, die jeweils an die Inflationsraten der einzelnen Länder angepasst werden: Länder mit hoher Inflation werten ab, Länder mit niedriger werten auf. Im Zeitalter digital abgewickelter internationaler Finanzbeziehungen könnte man damit virtuos arbeiten und Angleichungen jeweils in kürzester Zeit vornehmen. Verhindern könnte man damit massive außenwirtschaftliche Ungleichgewichte zwischen Staaten und damit aus dem Ruder laufende Verschuldungsprozesse.

Das ginge aber nicht im Euro-Raum.
Flassbeck: Nein, da greift dieses Instrumentarium nicht mehr. Das hatten wir ja bereits. Mein Ansatz ist ein Lösungsvorschlag für die übrige Welt, aber auch für die Beziehungen zwischen dem Euro-Raum und der übrigen Welt. Vor allem bin ich dafür, die Wechselkurse nicht länger den Spekulanten auf den Finanzmärkten zu überlassen, sondern wieder staatlich beziehungsweise zwischenstaatlich zu steuern. Schauen Sie sich doch das aktuelle Beispiel Brasilien an. Dessen Währung ist durch zielgerichtete Aktivitäten großer privater Finanzjongleure ein ums andere Mal aufgewertet worden, obwohl das Land eine relativ hohe Inflationsrate hat. Die Akteure verdienen damit kurzfristig eine Menge Geld. Die Folge für die Wirtschaft des Landes ist allerdings ein signifikanter Verlust an Wettbewerbsfähigkeit, was die brasilianische Industrie und Landwirtschaft nachhaltig schwächt.

Das System von Bretton Woods ist 1971 endgültig zusammengebrochen. Oder besser gesagt – es ist von USA systematisch zerstört worden. Nach einer jahrzehntelangen Verschuldungspolitik, die sich Washington dank seiner ökonomischen, militärischen und politischen Vormachtstellung in der Welt leisten konnte, war das allgemeine Vertrauen in die US-Wirtschafts- und Finanzpolitik geschwunden und Präsident Nixon zog die Notbremse. Er hob die Golddeckung des Dollars auf, um den Abfluss der amerikanischen Goldreserven zur Tilgung der Auslandsschulden zu verhindern. Wie könnte man sich künftig gegen derartige Entwicklungen wappnen?
Flassbeck: Nur der Vollständigkeit halber – es waren damals nicht nur die USA. Auch andere westliche Industriestaaten gehörten zu den Totengräbern von Bretton Woods.
Was Ihre Frage anbetrifft, so läuft die darauf hinaus, ob man sich gegen Dummheit wappnen kann, und diese Frage muss leider verneint werden. Daher wäre ein System vonnöten, dass durch die jeweils aktuelle Politik der Staaten nicht oder nur so wenig wie möglich beeinflusst werden kann. Ich habe das in unserem Trade and Development Report bereits 2011 vorgeschlagen.* Die Crux besteht darin, dass es, um solch ein System zu schaffen, eines Konsenses der großen Wirtschafts- und Finanzmächte der Welt bedarf, die derzeit zwar gern die besonders negativen Auswirkungen der Finanzkrise in den Griff bekämen, aber nicht bereit sind, sich mit den Finanzmärkten anzulegen.  Wenn die politischen und wirtschaftlichen Eliten der Staaten nicht begreifen, dass ökonomischer Raubtierwettbewerb der Nationen gegeneinander – um möglichst viel eigenen materiellen Reichtum zu generieren – letztlich das Gesamtsystem des Kapitalismus gefährdet, dann werden notwendige Veränderungen kaum zu erreichen sein. Vom massiven Widerstand der Finanzmarktteilnehmer einmal ganz abgesehen, deren Gewinn daran hängt, dass Währungs-, Rohstoff- und andere Spekulationen nicht unterbunden werden, dass die Casinomärkte munter weiter rotieren können.

Konkret nachgefragt: Wenn man eine Systemsanierung hinbekommen wollte, führte dann ein Weg vorbei an der Vergesellschaftung der Finanzindustrie und ihrer Reorganisation beziehungsweise Beschränkung auf die Funktion eines Dienstleisters für die Realwirtschaft, am generellen Verbot von Spekulationsgeschäften, an der Zerlegung der Finanzgiganten in Einheiten von nichtsystemrelevanter Größe – weg vom heutigen „to big to fail“ – und an der Abschaffung der Ratingagenturen, die auf einem finanzwissenschaftlichen Niveau agieren, das noch unter dem der antiken Beschau von Vogelkaldaunen liegt?
Flassbeck: Das unproduktive Eigenleben der sogenannten Finanzindustrie beenden und sie wieder in Dienst des Gemeinwesens stellen ist ein absolut zeitgemäßer Gedanke, und wenn sich eine Regierung fände, die den Mut dazu aufbrächte, es mit dem dagegen stehende Machtkartell aufzunehmen, wäre ich auf deren Seite. Heute ist die Welt ja so einfach strukturiert, wie Josef Stiglitz das kürzlich mal für die USA formuliert hat: „Das Weiße Haus hat nichts zu sagen, den Ton gibt das Treasury an. Zu sagen hat das aber auch nichts, denn der Bestimmer ist Wall Street.“ Da mag Stiglitz übertrieben haben. Aber höchstens ein bisschen.
Ich bin absolut dafür, Spekulationsgeschäfte mit Nahrungsmitteln- und Rohstoffen grundsätzlich zu verbieten, da sie keinerlei volkswirtschaftlich sinnvolle Funktion erfüllen, sondern Schaden anrichten. In diesen Bereichen hat sich die Preisbildung völlig vom Zusammenhang von Angebot und Nachfrage gelöst – mit fatalen volkswirtschaftlichen und, was Nahrungsmittel anbetrifft, sozialen Folgen, vor allem in der Dritten Welt. Dort steigt der Hunger inzwischen wieder dramatisch an. Oder nehmen Sie den Ölmarkt, der heute der am höchsten finanzialisierte Markt überhaupt ist. Auf dem ist der Preis nur noch ein Instrument zur Schaffung von Spekulationsgewinnen und hat fast nichts mehr mit Angebot und Nachfrage zu tun. Und wir alle zahlen die Rechnung dafür – an den Zapfsäulen und bei zahllosen anderen Produkten, in deren Herstellungsprozess Erdöl eine Rolle spielt. Das ist eine komplette Pervertierung der Marktwirtschaft, die all deren Parteigänger eigentlich auf die Barrikaden treiben müsste.
Gegen die Notwendigkeit einer Zerlegung von Finanzgiganten in volkswirtschaftlich beherrschbare Größen kann niemand mit klarem Verstand ernsthafte Gegenargumente vorbringen. Und die Abschaffung der privaten Ratingagenturen ist spätestens seit dem Crash von 2008 überfällig.
All die von Ihnen genannten Punkte wären wichtige Schritte zu einer grundlegenden Reform des Systems. Ich befürchte allerdings, dass es weiterer und schlimmerer Krisen bedarf, um die verantwortlichen Akteure nachhaltig auf einen entsprechenden Kurs zu bringen. Denn bisher zeigt sich leider immer wieder, dass die Fiktion von der „Weisheit der Märkte“, die es letztlich schon richten werden, wie ein ideologisches Brett vor dem Kopf wirkt, das den Blick auf die Realität und ihre Erfordernisse vollständig blockiert.

Das kennen wir; wir stammen aus einem System, das unter anderem in Folge allgegenwärtigen Realitätsverlustes von der Spitze bis hinein in seine tragenden Säulen zusammengebrochen ist.
Im Hinblick auf Vorschläge zur Re-Regulierung der Finanzmärkte hört man immer wieder, da müssten sich zumindest die EU-Staaten einig sein, am besten aber gleich alle Weltfinanzzentren. Vorpreschen einzelner Länder würde nur deren Konkurrenzfähigkeit unterminieren, denn die Finanzindustrie würde dann in andere Länder ausweichen …
Flassbeck: Auch daran ist wenig richtig. Ich würde die Investmentbanker, die großen Zocker, wenn die denn wollen, einfach ziehen lassen. Das mag ein paar Arbeitsplätze kosten, aber die daraus sich ergebende finanzielle Last ist, im Vergleich zu dem, was wir an Bankenrettung bereits erlebt haben, wirklich aus der Portokasse zu bezahlen. Wenn im Falle Deutschlands der private Bankensektor geschlossen nach London oder auf die Caymans „emigrieren“ würde, dann müssten, wenn die nächste von dieser Art Institute hoch gepuschte Blase platzt, halt die die gesamte Rettung übernehmen. Da wollen wir mal schauen, wie das dann funktioniert.
Und bevor jetzt der Einwurf kommt: Aber die volkswirtschaftliche Funktion der Banken … – die muss und kann von wirklichen Banken, einschließlich der Sparkassen und Genossenschaftsbanken wahrgenommen werden. Das ist ja einer der Gründe, warum die privaten Banken gegen das dreigliedrige Finanzsystem in Deutschland seit Jahrzehnten opponieren.

Stichwortwechsel: Sie werden nicht müde, den rigorosen Kurs des Sparens und des Schuldenabbaus, mit dem sich insbesondere unseren Bundeskanzlerin zwar international keine Freunde gemacht, aber weitgehend durchgesetzt hat, als den völlig falschen Ansatz zur Krisenbewältigung zu geißeln. Was ist verkehrt daran, den nächsten Generationen keine ruinösen Schulden hinterlassen zu wollen?
Flassbeck: Wenn Sie diese Frage als Privathaushalt stellen, dann ist daran überhaupt nichts Falsches. Leider tun die Politiker fast durchgängig so – und die Medien plappern das nach –, als ob eine Gesellschaft genau so funktioniert wie ein Privathaushalt. Das klingt schlüssig, ist aber kompletter Unsinn. Ohne Schulden gibt es nämlich auch kein Sparen. Keine Schulden machen heißt, den Leuten auch das Sparen zu verbieten. Denn wenn niemand Kredite in Anspruch nimmt, um in Wirtschaft, Infrastruktur, Bildung und so weiter zu investieren, kann auch nicht gespart werden. Ohne Sparen und Investitionen aber ist der Niedergang vorprogrammiert, was wir in Deutschland zum Beispiel an einer großen Zahl verrottender Schulen und aus allen Nähten platzender Universitäten sehen.
Und was das angeblich ruinöse Ausmaß der staatlichen Schulden anbetrifft, so geht dies in erheblichem Maße auf das Konto der Politik. Die hat die großen Unternehmen im Lande im Hinblick auf Steuern und Abgaben über viele Jahre dermaßen entlastet, dass die heute zum erheblichen Teil in dem Geld schwimmen, das dem Staat fehlt. Das ist umso unsinniger, weil es unmittelbar dazu führt, dass die Schuldner für die deutschen Sparer (Gläubiger) praktisch nur im Ausland zu finden sind. Das haben wir aber zu großen Teilen gerade für Pleite erklärt. Folglich sind unsere Ersparnisse auch weg. Hinzu kommt: Zu „fetten“ Unternehmen geht der Motivationsdruck verloren, durch ständige Investitionen und Innovationen nach Nettogewinnen zu streben.
Hilfreich ist hier ein Blick in die jüngere Geschichte – in die Periode des so genannten Wirtschaftswunders in der Frühzeit der Bundesrepublik. Damals waren die Unternehmen die großen Schuldner im Lande. Die nahmen Kredite auf, investierten ohne Ende und erwirtschafteten so die Gewinne, mit denen sie auch ihren Schuldendienst beglichen. Das war ein Wirtschaftsmodell, das der Gesellschaft zu einer beispiellosen Prosperität verholfen hat. Davon sind wir heute meilenweit entfernt. Unsere Unternehmen sind Nettosparer, und die Investitionsquote ist historisch niedrig. Diesen Skandal hat die Politik durch das permanente Setzen völlig falscher Anreize für die Wirtschaft maßgeblich mit angerichtet.
Ein weiterer falscher Anreiz war die Unterstützung der Politik für den Kurs der Wirtschaft, von Tarifrunde zu Tarifrunde immer wieder auf Lohnzurückhaltung zu drängen. Seit 15 Jahren sind die Reallöhne in Deutschland nicht mehr gestiegen. Ein entsprechender Rückgang der Binnennachfrage war die Folge, von sozialen Verwerfungen ganz abgesehen. Die Regierung müsste auf massive Erhöhungen der Löhne und Gehälter drängen und bei den Staatsangestellten mit gutem Beispiel vorangehen. Das würde die Nachfrage ankurbeln und so Investitionsanreize schaffen, und zugleich müssten sich die Unternehmen mehr anstrengen, um Gewinne zu machen – und zwar in der Realwirtschaft, wenn nämlich zugleich weit reichende Finanzmarktregulierungen durchgesetzt würden.

Und was ist mit der Staatsschuldenkrise?
Flassbeck: Ja, von der spricht die Politik sehr gern, weil sie die wirklichen Zusammenhänge in der Regel nicht begreift. Und die Akteure auf den Finanzmärkten sprechen auch davon – die aber, um diese Zusammenhänge zu verschleiern. Eine Staatsschuldenkrise gibt es nicht. Staatsschulden sind ein notwendiges Instrument zum Ausgleich der privaten Sparneigung und das besonders derzeit, wo alle Privaten zu sparen versuchen, weswegen wir eine schwache Konjunktur haben und Rezession in Europa. Wer die Probleme lösen will, muss an die Nettoersparnisse der Unternehmen ran, was heißt, die Steuern für Unternehmen wieder auf einen normalen Stand zu bringen, eine Vermögenssteuer einzuführen und die Löhne zu erhöhen.

Und was halten Sie von David Graebers Plädoyer gegen den Mythos von der moralischen Verpflichtung, seine Schulden stets zurückzahlen zu müssen? Für Graeber sind Schulden ein Instrument zur Bewahrung von Herrschaftsverhältnissen, zum Beispiel des Westens gegenüber der Dritten Welt, und schon damit quasi moralisch delegitimiert. Graeber meint, dass der Gläubiger ja im Übrigen bereits durch die Zinsen eine Kompensation dafür erhalte, sein Geld eben auch mal nicht zurückzubekommen …
Flassbeck: Das ist schon sehr platt und ich kann damit nichts anfangen. Wenn viele Schuldner, insbesondere die Staaten, ihren Schuldendienst zur gleichen Zeit einstellen, dann kollabiert die Weltwirtschaft. Und Schulden, die Ersparnis reflektieren und Investitionen finanzieren, sind das einzige Mittel die volkswirtschaftliche Leistungskraft erhöhen. Die ganze Schuldenphobie ist absurd und lächerlich.
Viel wichtiger als die Schuld- und die Schuldenfrage ist immer, wie man die Wirtschaft wieder zum Laufen bringt. Es gibt eine alte volkswirtschaftliche Regel, die heißt: Ströme sind immer wichtiger als Bestände! Anders gesagt, der ganze Schuldenwahn und das Operieren an den Schulden ist sinnlos, wenn die Wirtschaft nicht läuft. Ein wirksames Mittel in der Krise sind deswegen, ich kommen noch einmal darauf zurück, Währungsabwertungen. Auf diese Weise hat Argentinien seine existentiellen Probleme vor Jahren gemeistert – Abwertung in einer Größenordnung von über 60 Prozent gegenüber dem Rest der Welt. Die nationalen Produkte wurden auf einen Schlag wieder exportfähig, das Wirtschaftswachstum zog weit überdurchschnittlich an. Da war der parallele Schuldenschnitt zweifellos nützlich, spielte aber nicht die entscheidende Rolle.

Sie haben in Ihrer jüngsten Schrift „Zehn Mythen der Krise“ geschrieben: „Diese Welt bräuchte eigentlich eine ungeheuer komplexe Regulierung, um halbwegs zu funktionieren.“ Was schwebt Ihnen da vor? Das chinesische Modell mit seiner marktwirtschaftlichen Reformpolitik einerseits und seiner strikten zentralstaatlichen Wirtschaftspolitik andererseits?
Flassbeck: Das chinesische Modell zeigt sehr schön, dass man mit einem sehr starken Staat sehr erfolgreich sein kann. Es zeigt auch, dass man sich über einige sakrosankte Glaubenssätze der „reinen“ Marktwirtschaft nicht nur hinwegsetzen kann, sondern geradezu sollte, um erfolgreich zu sein. In China ist der gesamte Finanzmarkt nahezu überhaupt nicht liberalisiert. Vor allem ist die Koppelung des Finanzsektors an die Realwirtschaft nicht aufgehoben, so dass dieser dort seine Geschäfte machen muss und dementsprechend investorenfreundlich ist. Auch an den internationalen Devisenmärkten hat sich China vom spekulativen Bereich überwiegend fern gehalten. All das ist volkswirtschaftlich sehr vernünftig. Das gilt auch für die derzeitige Politik staatlich induzierter erheblicher Lohnsteigerungen von real zehn bis 15 Prozent pro Jahr, was eine entsprechende Dynamik der Binnennachfrage zur Folge hat.

Wenn Sie die Kernaspekte einer zukunftsfähigen Marktwirtschaft des 21. Jahrhunderts zu benennen hätten, welche wären das?
Flassbeck: Was die Marktwirtschaft in den ersten zwei Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg so extrem erfolgreich gemacht hat, das waren die Grundsätze von Keynes. Der war übrigens auch der Vater des deutschen Wirtschaftswunders; Ludwig Erhard hat dazu – entgegen der landläufigen Meinung – nur sehr wenig beigetragen.
Es geht um eine Rückkehr zu Keynes – natürlich unter den heutigen Bedingungen. Seit dem Ende des Systems von Bretton Woods läuft die Entwicklung der entscheidenden makroökonomischen Determinanten der Marktwirtschaft westlichen Zuschnitts systematisch falsch; das betrifft Währungsrelationen, Löhne, Zinsen und Rohstoffpreise. Diese Determinanten dürfen nicht dem Markt überlassen (Währungen, Löhne, Rohstoffpreise) oder nach neoliberalen Kriterien festgesetzt (Zinsen) werden, sondern müssen konsequenter staatlicher und internationaler Regulierung unterliegen, damit die Märkte funktionieren. Und bevor ich mir hier unsinnige Gegenargumente im Hinblick auf die Löhne einhandle, will ich gleich noch anfügen, dass es darum geht, dass deren Entwicklung – und dafür muss der Staat sorgen – nicht von jener der Produktivität abgekoppelt wird. Das versucht die Wirtschaft natürlich, wenn man sie lässt, obwohl sie sich am Ende damit selbst schadet.

Da schaut dann rasch wieder die hässliche Fratze der Ausbeutung durch?
Flassbeck: Wenn Sie es so ausdrücken wollen. In den vier genannten kardinalen Bereichen muss die Marktwirtschaft wieder auf die richtige Schiene gesetzt werden, um sie zukunftsfähig zu machen. Das ist sie derzeit ganz eindeutig nicht.

Hart ins Gericht gehen Sie auch mit Ihrer Zunft, der der Ökonomen, mit deren Unfähigkeit, „die Welt angemessen zu deuten“. Woher rührt diese Unfähigkeit? Ist es Dummheit oder ideologisch bedingtes Kalkül?
Flassbeck: Das ist im Einzelfalle nicht immer leicht zu entscheiden. Fakt ist, dass die vorherrschende neoliberale Lehre der letzen 30 Jahre zu einer Radikalität auch in der theoretischen Arbeit geführt hat, die ich nicht für möglich gehalten hätte. In dieser Lehre ist jegliche Regulierung des Teufels, und der Markt ist der Fetisch, der stets alles ins Lot bringt. Dieser Grundsatz führt direkt zu einer geradezu pathologischen Dichotomie von Staat – der unfähig ist zu wirtschaften, ineffizient, tödlich für die kreativen Kräfte des Kapitalismus – und Markt, der absolut perfekt ist und das allgemeine Heil bringt. Der Markt, vor allem der Finanzmarkt, ist zum Götzen gemacht worden, dem jedes Opfer zu bringen ist, und Gewinn, ganz gleich wie kurzfristig, wurde zum einzigen Maßstab für Sinn und Erfolg jeglicher wirtschaftlicher Aktivität. Ein Kollateralschaden dessen war die totale Ökonomisierung der Gesellschaft. Selbst Krankenhäuser und Universitäten werden heute wie Wirtschaftsunternehmen geführt, deren Hauptfunktion nicht mehr ihre gesellschaftliche ist, sondern Geld zu verdienen oder zumindest öffentliche Ausgaben zu sparen. Und all das war nicht das Werk von intellektuellen Spinnern. Vielmehr sind von den interessierten Kreisen in den vergangenen 30 Jahren immense Summen in die Wirtschaftswissenschaften gesteckt worden, allen voran in den USA, um die neo- beziehungsweise radikalliberale Lehre auch theoretisch zu begründen und zur allein vorherrschenden mit quasi-religiösen Zügen zu machen. Und das ist gelungen.

In den „Zehn Mythen“ schreiben Sie, „dass ‚die Wirtschaft’ bzw. ‚der Kapitalismus’ […] nur Instrumente sein dürfen, die die Gesellschaft einsetzt, um ihre Bedürfnisse zu befriedigen“. Da fragt sich allerdings nicht nur der marxistische Skeptiker, ob dies schon jemals in der Geschichte des Kapitalismus so funktioniert hat? Oder galt dies nicht nur teil- und ausnahmsweise in der Periode der Systemauseinandersetzung von 1945 – 90, als der Westen dem Osten eine materiell attraktivere Alternative gegenüberstellen wollte? Sind privates, also nichtgesellschaftliches Eigentum an den Produktionsmitteln, und Befriedigung gesellschaftlicher Bedürfnisse nicht ein Widerspruch in sich?
Flassbeck: Roosevelts Politik des New Deal in den USA und die Periode nach 1945 in breiterem Maßstab haben gezeigt, dass soziale Marktwirtschaft möglich ist und dass Gesellschaften unter solchen Bedingungen prosperieren. Aber der Gegensatz von Privateigentum und gesellschaftlicher Bedürfnisbefriedigung war auch zu jener Zeit nicht aufgehoben, ja sollte gar nicht aufgehoben werden, denn das Privateigentum hat einen historisch beispiellosen Wohlstand hervorgebracht. Dazu war, wenn dieser Einschub gestattet ist, die Planwirtschaft sowjetischen Zuschnitts nicht im Entferntesten in der Lage. Allerdings waren massive Eingriffe des Staates notwendig, um den Kapitalismus für die gesamte Gesellschaft produktiv zu machen und nicht nur für eine dünne Oberschicht.
Hinzu getreten ist bereits vor Jahrzehnten die ökologische Dimension, die hemmungsloses Wirtschaften verbietet. Auch damit hätte sich der Unternehmer nicht auseinandergesetzt, weil es einzelwirtschaftlich dazu keinen Anreiz gibt. Auch hier  muss und kann der Staat der Wirtschaft einen neuen Rahmen setzen. Die weltweiten CO2-Emmissionen sind anders als durch staatliche und zwischenstaatliche Eingriffe nicht in den Griff zu bekommen.
Und, was heute in den Köpfen der Menschen völlig verschüttet ist, es bedarf vor allem am Arbeitsmarkt einer massiven staatlichen Regulierung, damit die Marktwirtschaft sich überhaupt voll entfalten kann. Investitionsgetriebene Marktwirtschaft funktioniert nur bei gleichem Lohn für gleiche Arbeit und bei Reallöhnen, die der Produktivität jederzeit folgen. Dazu braucht man starke Gewerkschaften. Nur wenn alle Arbeiter in einer Branche die gleichen Löhne erhalten, ist der Wettbewerb ein Wettbewerb um die höchste Produktivität und nicht einer um die Krone im Dumping gegenüber einer individualisierten Arbeitnehmerschaft. Und nur dann gibt es einen ständigen Anreiz für die Unternehmen, sich auf produktive Weise anzustrengen und die Potenziale des Systems auszuschöpfen. Wenn aber Gewinnsteigerungen durch Verringerung der Lohnkosten erzielt werden können und durch Druck auf die Arbeitnehmer infolge immer weiter flexibilisierter Arbeitsmärkte, wie sie von unserer Politik seit langem favorisiert werden, dann schlafft dieser Anreiz spürbar ab und die Investitionen stagnieren.

Herr Flassbeck, Sie liefern seit Jahren Ideen für die Rückkehr zu einer sozialen Marktwirtschaft und damit gegen ein Taumeln des Kapitalismus von einer Krise in die nächste, die jeweils – zumindest seit dem Zusammenbruch der New Economy im Jahr 2000 – auch immer näher an den Abgrund führt. Aber wie ist ein Paradigmenwechsel hinzubekommen mit einer politischen Klasse, der geradezu ins Stammbuch gehört, was Sie in den „Zehn Mythen“ sehr pointiert auf den Punkt gebracht haben: „Wer einmal die Logik auf dem Altar der eigenen Ideologie geopfert hat, verliert damit auch die Urteilskraft, um den eigenen Untergang zu verhindern.“?
Flassbeck: Das scheint in der Tat ein Kampf gegen Windmühlenflügel zu sein. Denn obwohl ich mich über Resonanz im Einzelnen – auf Tagungen, Podiumsveranstaltungen, nach Pressebeiträgen, auch von politischer Seite – nicht beklagen kann, ist es bisher nicht gelungen, die politischen Verantwortungsträger in Deutschland und anderswo wenigstens zum Umdenken, geschweige denn zum Umlenken zu veranlassen. Nicht einmal in Ansätzen. Das zeigt eine Lernunfähigkeit, die ist frustrierend. Der Brüningsche Fehler, praktisch ausschließlich auf Sparmaßnahmen zu setzen, wird von Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble gerade mit Nachdruck wiederholt, und praktisch die gesamte politische Klasse mit Ausnahme der Linken, die Medien und der überwiegende Teil der wirtschaftswissenschaftlichen Elite trotten unter gebetsmühlenartiger Wiederholung ihres Mantras von der vorgeblichen Notwendigkeit marktkonformen Agierens wie in Trance hinterher und werden nur munter, wenn jemand Alternativen auch nur zur Debatte stellen will. Nicht, um zuzuhören, sondern um den Ketzer kollektiv mit dem Totschlagsargument „alternativlos“ zum Schweigen zu bringen.

In den „Zehn Mythen“ schreiben Sie, dass man den Kapitalismus, „wenn wir erkennen, dass wir ihn nicht beherrschen und er in einer bestimmten Form mehr schadet als nutzt, […] ändern“ könne, „solange die Demokratie noch besteht“. Wir befürchten, dass für die Demokratie eher gilt, was über Wahlen schon lange als Bonmot im Umlauf wird: Wenn die etwas änderten, würden sie verboten. Jedenfalls beweisen China und andere Länder, dass ein besonders dynamischer Kapitalismus sehr gut ohne Demokratie westlichen Zuschnitts auskommt …
Flassbeck: Das ist in China zweifellos der Fall. Aber auch in Europa und in Amerika bewegt sich die Demokratie auf eine gefährliche Linie zu oder hat sie vielleicht schon überschritten. Wenn Sie sich erinnern, hatten wir vor Jahren noch eine Neiddebatte. Jedem, der für mehr Verteilungsgerechtigkeit eintrat, wurde Sozialneid unterstellt, und das treffliche Gegenargument lautete: Lasst die Reichen doch ruhig reicher werden, dann geben sie auch mehr für Charity und gesellschaftlich nützliche Zwecke. Hasso Plattner und ein paar andere tun das tatsächlich, aber gesamtgesellschaftlich passiert ganz etwas anderes: Die Reichen und Superreichen kaufen sich die politische Macht und das ganze System! Wenn man sieht, wie heute in Amerika Wahlkämpfe gewonnen werden, nämlich mit zig-Millionen Dollar, dann zeigt das, wie weit die Demokratie bereits pervertiert ist.

Warren Buffett, der zweitreichste Mann der USA, der sich allerdings vom Casinokapitalismus immer fern gehalten und sich überdies verpflichtet hat, fast sein gesamtes Vermögen wohltätigen Zwecken zu stiften, hat dies so ausgedrückt. „There’s class warfare, all right, but it’s my class, the rich class, that’s making war, and we’re winning.”
Flassbeck: Ich will Buffet nicht widersprechen.

Das Gespräch für Das Blättchen führten Heerke Hummel und Wolfgang Schwarz am 29. Juni 2012.

* – Der Report kann heruntergeladen werden unter: http://unctad.org/en/pages/PublicationArchive.aspx?publicationid=2186