15. Jahrgang | Nummer 14 | 9. Juli 2012

Querbeet (XI)

von Reinhard Wengierek

Meine Fundstücke im Kunstgestrüpp: Diesmal Madonna-Superstar, braunes Elbflorenz, Moskauer Coke-Rausch und Wienereien in Berlin.

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Die „lieben Dräsdner“, so tätschelte einst Richard Strauss die zarten Seelen der eitel Sachsen-Residenzler, die lieben Dresdner haben mal wieder Weltbedeutendes zu feiern: nämlich den 500. Geburtstag ihrer Sixtinischen Madonna. Als König August III. das Altarbild für sehr, sehr viel Geld kaufte – Raffael hatte es im päpstlichen Auftrag fürs Kloster San Sisto in Piacenza gemalt – da war die großformatige Muttergottes in Öl auf Leinwand bereits 240 Jahre alt. Aber erst in der Dresdner Galerie entfaltete sich ihr Weltruhm. Jetzt, zum Halbjahrtausend-Jubiläum, wurde sie kostbar neu gerahmt. Und eine Sonderausstellung breitet das zuweilen sensationelle Tamtam um den Superstar genüsslich aus.
Ein Ereignis so ganz im Sinn der Dräsdner: Spektakulärer Glanz, glorioses Elbflorenz – eine Insel der Herrlichkeit jenseits all des Schlimmen in der Welt, das man gern ausblendet im verzückt angebeteten Musennest voller Monstranzen der Hochkultur. Da mag man von unangenehmen Tatsachen nicht gestört werden. Etwa, dass Anfang der 1930er Jahre Dresden nach Breslau die Stadt mit den meisten NSDAP-Mitgliedern war. Dass es 1932 schon 780 sächsische Nazi-Ortsgruppen gab. Dass zu den Reichstagswahlen 1932 die Hitlerianer 41,2 Prozent der Stimmen erzielten. Dass sich 1933 das Elysium des Bildungsbürgertums darum riss, hier die erste Bücherverbrennung im Reich zu veranstalten sowie die erste Ausstellung „Entartete Kunst“ – das neumodische Zeugs „passt nicht zu uns“ (heißt es oft bis heute).
So kehrt man bis jetzt gschamig die ungeheuerliche Bürger-Begeisterung fürs Braune unter den goldenen Elbflorenz-Teppich. Und auch, dass sich – einmalig in Deutschland! – im Dezember 1930 an den Sächsischen Staatsbühnen eine „Theaterfachgruppe NSDAP“ gründete, die gegen „alle zersetzende Kräfte der Kunst sowie die alten Erbfeinde deutschen Wesens“ ankämpfte. Von dieser speziellen Unrühmlichkeit ist nun die Rede in der denkwürdigen Ausstellung „Verstummte Stimmen“, veranstaltet von Semperoper und Staatsschauspiel, die zwar beide (!) glanzvoll strahlen, aber mit diversen Vernebelungen der Geschichte absolut nichts am Hut haben. So erfahren wir: Was da Ende 1930 mit elf Ensemblemitgliedern aus Oper und Schauspiel begann, das hatte im Februar 1933 bereits 275 Mitglieder. Ein rücksichtsloser, von der Mehrheit gelassen akzeptierter Sturmtrupp, der gemeinsam mit der sonderlich aggressiven Sachsen-NSDAP die „rassische“ und politische Säuberung der Dresdner Theater erfolgreich eifernd vorantrieb. Die erschütternd aufklärerische Ausstellung von Hannes Heer (Verschweigen und Verdrängen erschwerten seine Recherchen) dokumentiert die brutale Hatz der gutbürgerlichen Täter (die nach ’45 flink von Braun auf Rot umschalteten und im Amt blieben). Sowie die Schicksale ihrer Opfer, die ins Berufsverbot oder in die Emigration, schlimmstenfalls in die Vernichtungslager gejagt wurden. Soviel zur bis heute im Elbtal gern beschworenen Legende vom unschuldig „heiteren Morgenstern“ Dresden.

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Immerzu rascheln in ganz Theaterdeutschland flink zu Festivals erhobene Märkte für Neues aus den Schubladen der massenhaft dampfenden Stückeschreibstuben. Mal ist Brauchbares dabei, meist nicht. Nur Claus Peymann, unser super kritischer Konservative vom Berliner Ensemble, der nur wenig Neues gelten lässt, tut nicht mit bei solch Novitäten-Happenings. Der macht am BE alternativ seine eigene Extra-Show: Das „Erste Wien-Festival“. Statt unausgegorener Laptop-Ergüsse gibt’s wochenlang Weltliteratur: etwa Arthur Schnitzler satt zu dessen 150. Geburtstag (Lesungen, Filme). Dazu mehrere Thomas Bernhards mit Gert Voss sowie „Jandls Humanisten“ als irritierend-erhellendes Konzert der Sprach-Verrücktheiten (Regie Philip Tiedemann – Wahnsinn!). Und obendrein gleich zwei Neu-Inszenierungen: Molnars „Liliom“, Horvaths „Geschichten aus dem Wiener Wald“, zwei große Stücke, die – schade, schade! – nicht so groß über die Rampe kamen. Obgleich Angela Winkler als unendlich zarte, unendlich aasige Trafikantin beim Horvath endlich mal wieder für einen unvergesslichen Aufreger sorgt. Dann der Höhepunkt: Gastspiel Burgtheater mit David Böschs aus innigster Liebe und tiefster Traurigkeit gemischter Inszenierung der bitteren Einsamkeitstragödie „Stallerhof“ von Franz Xaver Kroetz. Daneben viele feine Soli austriakischer Größen der Zunft sowie als Schmankerl „Wiener Lieder“ unter Bäumen bei Heurigem auf der BE-Hofbühne. Also allerhand herzzerreißend Schönes. Und doch kein seliges Vorbeimogeln am Menschenleid.

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Etwa ein Jahrzehnt lang steuerte Generalintendant Stephan Märki das Deutsche Nationaltheater Weimar. Und schützte es vor Spartenabwicklung, Kranksparen, Fusionen, bewahrte also seinen stolzen Status als souveränes Dreispartenhaus sowie seinen weltberühmten Traditionstitel. Das DNT erlebte unter Märki singuläre Solidaritätskundgebungen der Bevölkerung (Montagsdemos gegen kulturpolitisch dumme Einschnürungsprogramme) sowie eine feinfühlige Hinführung zu Inszenierungsformen, die eher jenseits dessen stehen, was man in Thüringischer Althergebrachtheit für gut und schön hält. Jetzt steht das Theater Goethes und Schillers fest gefügt und strahlt auf der Höhe der Zeit – Märki kann es getrost verlassen, um zurück in seine Schweizer Heimat zu ziehen. Dort soll er das bräsige Hauptstadt-Theater zu Bern ordentlich aufmischen. Doch vorm Kofferpacken gab’s noch einen donnernden Schlussakkord mit Andrea Moses‘ Inszenierung von Mussorgskis monumentalem Russen-Historical „Chowanschtschina“.
Moses, neuerdings fest an der Stuttgarter Oper und eine anerkannte Könnerin im kühn krassen Durchtränken alter, ferner Stoffe mit Gegenwärtigkeit, Andrea Moses lädt die von des Volkes Masse aufgeschäumten Szenen politisch-religiöser Machtkämpfe aus dem alten Russland hurtig auf mit suggestiven Bildern aus dem heutigen, giftig schillernden Moskau des Coca-Cola-Glanz-und-Elends. Also kein düster dräuender, im mottigen Bärenfell mystisch raunender Tschapka-Russen-Schinken, sondern ein postsowjetisches Jetzt grell illuminierendes Drama voller Leidenschaft und Depression, das die Protagonisten aufreibt, die Massen schüttelt. Was trotz manch plakativer Effekte beunruhigende Assoziationen auslöst – auch für mich im Hierbeiuns. Bravo für Moses. Und zum Abschied für Märki.

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Zum Schluss ein Wutausbruch: Der Filmtitel „Deutschland von oben“ ist völlig irreführend! Man stürzt ins Kino in der Verheißung, die liebe Heimat mal aus der Luft zu inspizieren. Stattdessen bekommt man vor allem sich wiederholende Draufsichten auf Bayrische Berge nebst herum hopsenden Steinböcken sowie auf Wattenmeerschlick mit dort sich suhlenden Robben. Und akribisch kommentierte, unendliche Langstrecken-Vogelzüge. Sicher, auch Störche gehören zu Deutschland. Und sonst? – Klapper-klapper bis zum nächsten Querbeet.