15. Jahrgang | Nummer 13 | 25. Juni 2012

Bemerkungen

Ernst Schumacher – ein Nachruf

Es gab viele Gründe, in der DDR Tageszeitungen nicht zu lesen. Es gab Gründe, die Berliner Zeitung zu lesen. Zu den wesentlichen gehörten die Theaterkritiken Ernst Schumachers. Seit 1964 erschienen sie über fast vier Jahrzehnte regelmäßig in diesem Blatte. Schumacher entwickelte sich zu einem der bedeutenden Berliner Kritiker – gewissermaßen ein Ostberliner Pendant zur legendären „Stimme der Kritik“ des RIAS. Ebenso wie Friedrich Luft kommentierte Ernst Schumacher nicht nur Theater, er schrieb im besten Sinne des Wortes Theatergeschichte. Woche für Woche. Ein Komprimat der Texte beider ergäbe eine faszinierende Geschichte des Berliner Theaters der mauergespaltenen Stadt, deren Hälften sich dennoch in Permanenz aneinander rieben und maßen. Auf Schumachers Urteil war Verlass – auch wenn man manche seiner Urteile nicht zu teilen vermochte. Eine von Ernst Schumacher besprochene Inszenierung lohnte auf jeden Fall einen Besuch – selbst (oder gerade) im Falle eines Verrisses. Auch die waren immer wohl begründet.
Schumacher war zudem einer der sachkundigsten Theaterwissenschaftler der DDR. Er unterrichtete am Institut für Theaterwissenschaft der Humboldt-Universität Theorie der darstellenden Künste. Nicht ganz erfolglos: Zu seinen Schülern gehörte zum Beispiel ein gewisser Frank Castorf. Als Brecht-Spezialist immer ein wenig im Schatten von Werner Mittenzwei und Werner Hecht, legte er dennoch 1955 bei Rütten & Loening ein immer noch gültiges Werk über den jungen Brecht vor: „Die dramatischen Versuche Bertolt Brechts 1918–1933“. Das Buch ist nichts anderes als seine Dissertation, mit der er 1953 bei Ernst Bloch und Hans Mayer promovierte. Während seine beiden Lehrer, die ihn nachhaltig prägten, 1961 beziehungsweise 1963 in den Westen gingen, wählte Ernst Schumacher den umgekehrten Weg und übersiedelte 1962 infolge politischer Verfolgung in der Bundesrepublik, er war Kommunist, in die DDR. 1978 gab er zusammen mit seiner Frau Renate im Henschel-Verlag (der Band erschien zeitgleich bei Suhrkamp) „Leben Brechts in Wort und Bild“. Der im gesamten deutschsprachigen Raum anerkannte und respektierte Wissenschaftler und Publizist war seit 1972 Mitglied der Sektion Darstellende Kunst der Akademie der DDR. Die warf ihn noch im Jahre 1991 raus. Einer der vielen Akte der Unkultur beim in so manchem misslungenen Zusammenwachsen der geteilten Stadt Berlin.
2007 erschien bei Oldenbourg ein von Micheal Schwartz ediertes dokumentarisches Erinnerungsbuch Schumachers. Frank Hörnigk betreut eine Ausgabe der Tagebücher Ernst Schumachers, die noch in diesem Jahr erscheinen soll. Ich bin mir sicher, dass dieser Band für weitere Beunruhigungen scheinbar in sich ruhender Bewertungskonstrukte sorgen wird. Schumacher würde dies mit dialektisch-genüsslichem Lächeln registrieren und unverdrossen weiter schreiben. Leider kann er dies nicht mehr. Er starb am 7. Juni im brandenburgischen Schwerin bei Teupitz.

Wolfgang Brauer

Teile und Herrsche

Divide et impera – Unsereiner versteht unter dieser Formel üblicherweise das schon von den Römern überlieferte und bis heute gültige Erfolgsrezept von politisch Dominierenden zur Beherrschung und – sofern erforderlich – Atomisierung des politischen Gegners. Teile und herrsche kann aber auch eine ganz andere Bedeutung haben, und das erleben wir grade wieder einmal. Soeben nämlich haben sich zwei Tycoons der amerikanischen Wirtschaft, die Rockefellers und Rothschilds, mithin der Finanzadel höchst selbst und ewige Konkurrenten, zusammengetan. Sie halten also, indem sie teilen, per Zusammenschluss an Macht aufrecht, was ihnen als Einzelnen nicht mehr sicher ist. Es dürfte dies ein Paradebeispiel dafür sein, wie viel von Macht und deren Bewahrung die Granden der Bourgeoisie verstehen und wie wenig die der aufbegehrenden oppositionellen Parteien wie zum Beispiel und nicht zuletzt die deutschen Linken. Dort, wo klar ist, dass es mehr und mehr um’s Eingemachte geht, setzt man sich zur Not auch über einstige Konkurrenz hinweg und bündelt seine Kraft. Dort, wo man verändern will, zerlegt man sich in seine unversöhnlichen Bestandteile.
Ich fürchte, die Bourgeoisie hat keine Ahnung davon, wie wenig sie zumindest auf der Ebene der Parteiendemokratie wirklich bedroht ist. Da werden es wohl schon die „Massen“ selbst richten müssen – aber auch diesbezüglich sieht es nicht danach aus, als müssten auf dem Tanker des Kapitals die Alarmsirenen ausgelöst werden.

Hella Jülich

WeltTrends aktuell

Der Diskurs um globale Ernährungssicherung hat über Jahr­zehnte in der nationalen und internationalen Politik und in der Wissenschaft nur ein Schattendasein geführt. National beziehungsweise europaweit stand Ernährung mehr für den Überfluss an Lebensmitteln, die vernichtet oder zu Dumpingpreisen auf dem Weltmarkt entsorgt werden mussten. Dieses hat sich mit dem einsetzenden starken Preisanstieg seit Ende 2007 schlagartig verändert: Landwirtschaft ist zurück! Investitionen in Land, Wasser und in die Landwirtschaft allgemein sind weltweit lukrativ geworden. Das Menschenrecht auf angemessene Ernährung für jeden, welches Jahrzehnte stark vernachlässigt wurde, wird ernster genommen – auch wegen der potenziellen Gefahren politischer Instabilität durch bürgerkriegsähnliche Unruhen aufgrund von signifikanten Preissteigerungen bei Grundnahrungsmitteln. Agrarwirtschaft erfährt auch deshalb eine Renaissance, da Alternativen für die vielen Öl basierten Produkte in Zukunft vom Acker geerntet werden sollen. Neben Lebens- und Futtermitteln wird die Produktion von Energie und industriellen Rohprodukten sowie die Bereitstellung von ökologischen Funktionen an Bedeutung gewinnen. Dieses macht die Landwirtschaft interessanter für den Handel – aber auch für Spekulationen.
Kleinbauern, die Mehrheit der Landwirte weltweit, zählen zu der größten Gruppe der Unterernährten und haben in den vergangenen Jahren erhöhte Aufmerksamkeit erhalten. Jedoch hat der Preisanstieg bisher den Unterernährten und eben auch diesen Kleinbauern mehr geschadet als geholfen. Es besteht trotzdem die theoretische Möglichkeit und die praktische Hoffnung, dass die erhöhten Preise mittel- bis langfristig eine nachhaltige Produktionssteigerung induzieren werden, welche letztlich auch den Hungernden zugute kommen könnte. Dabei bleiben die Fragen nach der ausreichenden und nachhaltigen Produktion insgesamt und der ausgleichenden Verteilung – der Produkte sowie der Produktionsmittel – als entscheidende gesellschaftliche und internationale Herausforderung bestehen.

Detlef Virchow

Aus: WeltTrends. Zeitschrift für internationale Politik, Nr. 84 – Mai / Juni 2012 (Schwerpuntthema: Ernährung garantiert?), Potsdam / Poznan, 9,50 Euro (für Bezieher des Newsletters: 6,- Euro) plus Porto

Stéphane Hessel und Edgar Morins Ideen für eine bessere Welt

Die kapitalismus- und globalisierungskritischen Schriften „Empört Euch!“ und „Engagiert Euch!“ Stéphane Hessels sind kaum gelesen und diskutiert, da folgt ein weiteres politisches Manifest. Das hat der Mittneunziger Hessel mit seinem Freund, dem französischen Philosophen Edgar Morin, verfasst. Der 91-jährige Morin gilt in unserem Nachbarland als einer der wichtigsten zeitgenössischen Philosophen. Seine Co-Autorschaft an diesem Buch möge dazu beitragen, ihn auch hierzulande stärker wahrzunehmen. Mit „Das Rätsel des Humanen: Grundfragen einer neuen Anthropologie“ und „Die sieben Fundamente des Wissens: Für eine Erziehung der Zukunft“ liegen zwei Hauptwerke Morins seit langem auch in deutscher Übersetzung vor.
Unabhängig von der Gangbarkeit jener „Wege der Hoffnung“, die die beiden Autoren in ihrem Buch weisen, ist es erstaunlich, dass es zwei über 90-jährige Greise sind, die Visionen von der Welt von morgen haben und diese dem Publikum ganz unaufgeregt mitteilen. Derweil andere Gelehrte in diesem Alter mit dem Leben hadern und vielleicht meinen, dass früher alles besser war, liegt Hessel und Morin das Wohl der Menschheit am Herzen, obwohl sie doch das Recht hätten, sich zurückzulehnen und den Blick auf ihr Lebenswerk zu genießen. Stéphane Hessel und Edgar Morin hätten das Buch aber nicht geschrieben, wenn beide nicht den grenzenlosen Optimismus teilen würden, dass eine gerechte Weltordnung möglich ist.
In den kurzen Abschnitten werden politisch-gesellschaftliche Kernthemen angeschnitten: Als größte Probleme am Beginn des 21. Jahrhunderts erkennen beide den Finanzkapitalismus und Fundamentalismen aller Art. Der Wirtschaftsliberalismus, der Nachfolger der Ideologien sein wollte, entpuppte sich, so Hessel/Morin, seinerseits als Ideologie, die inzwischen kurz vor dem Bankrott steht. Ihm gilt es ebenso Einhalt zu gebieten wie dem „Fetisch Wachstum“.
Unserer multipolar gewordenen Welt halten sie den Anspruch entgegen, das vereinte Europa weiter zu festigen. Und gegen den Neoliberalismus helfe nur eine „pluralistische Wirtschaft“. Die Jugend sollte gefördert und das Bildungswesen umfassend reformiert werden. Zuletzt empfehlen Hessel und Morin den politischen Parteien, die ihres Erachtens „erschöpft und unbeweglich“ geworden sind, die Auflösung, Besinnung und Neufindung. Erneuerung in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens, die auch einhergehen müsse mit der Schaffung neuer moralischer Prinzipien. Dafür sollte ein „staatlicher Ethikrat“ eingesetzt werden. Das sind allesamt hehre Ziele. Wenn nur ein Bruchteil dessen umgesetzt werden könnte, was Hessel und Morin altersweise-engagiert skizzieren, wäre die Welt um ein Vielfaches besser.

Kai Agthe

Stéphane Hessel / Edgar Morin: Wege der Hoffnung, Ullstein-Verlag, Berlin 2012, 69 S., 9,99 Euro

Dem Leben musikalisch auf den Grund gehen…

Das Leben bietet uns viele Gelegenheiten, bei denen uns der sprichwörtliche Geduldsfaden reißen kann: die verspätete S-Bahn, die Anleitungen zum Aufbauen von Möbelstücken oder zum Installieren technischer Geräte, die pubertären Allüren und Allmachtsphantasien des Nachwuchses und vieles andere mehr. Und Ungeduld kann man natürlich auch sich selbst gegenüber zeigen. Dass dies die betroffene Person regelrecht in den Wahnsinn treiben kann, darüber singt Randi Tytingvåg im Lied „Impatience“. Es ist eines von elf Liedern auf der soeben erschienenen CD „Grounding“. Sämtliche Lieder wurden von ihr komponiert und getextet. Es sind keine intellektuellen Kopfgeburten, die sie uns offeriert. Vielmehr geht sie mit Witz und Tiefgang ihrem Leben auf den Grund. „Grounding“ als künstlerisches Ergründen des eigenen Lebens. Ihre Stimme klingt frisch und unverbraucht, stilistisch bewegt sie sich zwischen den Genres Pop, Chanson, Jazz und Rockballaden. Und der Abschluss von „Grounding“ ist dann keine Bestandsaufnahme oder kein Blick zurück, sondern ein „Future Song“ – ein wunderschönes Liebeslied, das nur von einem Banjo begleitet wird. Und es heißt hier:
„I need this contact to be
A future song in me.“
Man könnte fast neidisch werden auf Christian. Diesem Mann hat sie als „important part of my grounding“ das Album gewidmet. Immerhin bietet die CD „Grounding“ die Gelegenheit, mit einer bemerkenswerten norwegischen Musikerin in Kontakt zu kommen.

Thomas Rüger

Randi Tytingvåg: Grounding, Ozella Music, 2012

Nazi-Sprech 2012

Das Reichspropagandaministerium hätte seine wahre Freude gehabt: „Die dreckige Seite Russlands“ titelte dieser Tage der Berliner Kurier einen Bericht über die Ausschreitungen vornehmlich russischer Hooligans in Breslau. Dass solche Vorfälle zur Berichterstattung einer solchen Veranstaltung wie der Fußball-EM gehört, ist unbenommen, dass das gewalttätige Pack als solches bezeichnet wird, geht auch in Ordnung. Nur – was sich in Breslau abgespielt hat, hat laut Kurier-Headliner „Die dreckige Seite Russlands“ widergespiegelt, nicht weniger. Keine Frage, das ist Nazi-Sprech à la 2012. Die üblich martialischen Fußball-Berichterstattungsvokabeln von den schussstarken „Bombern“ mit ihren „Killerinstikten“ haben dagegen schon fast einen kuscheligen Charme.
Man stelle sich vor, die russische Presse hätte bei einer Berichterstattung über zum Beispiel das Relegationsspiel in Düsseldorf mit all seinen widerlichen Begleitumständen mit „Die dreckige Seite Deutschlands“ getitelt. Nicht, dass so etwas ausgeschlossen gewesen wäre – aber die empörten Reaktionen von Kurier und Co. kann man sich leicht ausmalen; samt dem – dann ja auch berechtigten – Vorwurf von  Nationalismus und Volksverhetzung. Ach, Max Liebermann, man muss keinen Fackelzug der Nazis vor Augen haben, um festzustellen, dass man gar nicht so viel fressen kann, wie man kotzen möchte. Ein Blick in deutsche Boulevardzeitungen unserer Tage genügt. Das Ergebnis, besser e i n Ergebnis dieser Manipulierung „deutschen Denkens“ ist mir bei der letzten Fußball-WM in Gestalt eines Mittvierzigers auf dem Züricher Flughafen begegnet. In der Lounge das Spiel Deutschland gegen England verfolgend, schrie der Mann nach dem vierten Tor für die mit 4:1 siegreichen Deutschen laut durch die Halle: „Das ist die Rache für Wembley“. Gemeint war ein 1966 im WM-Endspielsieg der Briten gegen Deutschland zumindest fragwürdiges und bis heute nicht restlos aufzuklärendes Tor der Engländer. Der durchaus seriös wirkende Mann in Zürich lief seinerzeit bestenfalls noch mit der Trommel um den Weihnachtsbaum, wenn er denn überhaupt bereits geboren war – dass der Sieg der Deutschen im Jahr 2010 eine „Rache“ war, ist ihm immerhin verlässlich verinnerlicht worden.
Ich kann mich nicht erinnern, dass in der aufgeregten öffentlichen Debatte über dieses Tor und den damit verbundenen Spielausgang damals eine Zeitungsüberschrift „Die dreckige Seite der Briten“ erschienen wäre. Nicht einmal eine über die der Russen, immerhin war es ja ein sowjetischer Linienrichter, der das besagte Tor als rechtens anerkannt hatte. Heute geht so etwas. Mal sehen, was die EM noch an Unerfreulichkeiten, schlimmstenfalls auch weiteren Ungerechtigkeiten gegen die DFB-Elf beschert. Und mal sehen, mit welchen Schlagzeilen das dann begleitet wird.

Helfried Menke

Medien-Mosaik

„Lutz im Glück und was sonst noch schief ging“ war vor zehn Jahren ein erfrischend selbstironischer Rückblick auf das Leben eines der beliebtesten Entertainer der DDR. Lutz Jahoda verband hier Unterhaltung mit Aufklärung. Dass ihm die Geschichtsaufarbeitung am Herzen liegt, bewies er vor zwei Jahren mit der erstaunlich genauen und berührenden Romantrilogie „Der Irrtum“, einer Familiengeschichte aus dem Protektorat Böhmen und Mähren vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkrieges. Hier arbeitete der in Brünn und Wien aufgewachsene Künstler eigene Jugenderlebnisse auf spannende Weise auf. Jetzt, im Zeichen seines 85. Geburtstages vor wenigen Tagen, hat er sein Leben noch einmal aufgeschrieben, es diesmal aber vor allem in die politischen Zeitläufte eingebunden, mit historischen Exkursen, die im k.u.k. Kaiserreich beginnen und bis in die heutige Zeit führen. Sicherlich erzählt er in UP & DOWN von seinem Werdegang, von Kollegen, mit denen er ein Stück Weges ging, auch viele Fotos mit teils launigen Erläuterungen findet der Leser. In einem ausführlichen Interview-Teil – ein literarischer Kniff, um eine große Unmittelbarkeit herzustellen – erläutert er seine Gedanken zur Zeit und schont sich im Rückblick auch selbst nicht.

Lutz Jahoda, UP&DOWN, edition lithaus, Berlin 2012, 362 S. mit zahlr. Abb., 16,90 Euro

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Ein leiser, verhalten komischer Film will den Zuschauer auf falsche Fährten locken. Holidays by the Sea nennt der Verleih den französischen Film Ni à vendre ni à louer von Pascal Rabaté, weil heute eben alles einen englischen Namen braucht. „Zu verkaufen oder zu vermieten“ würde der Film auf Deutsch heißen, aber vielleicht will das niemand wissen. Schauspieler wie Maria de Medeiros, Dominique Pinon und Jacques Gamblin agieren in absurden Situationen mit komödiantischem Charme. Die etwas unmotiviert ineinander verschachtelten Episoden mit verschiedenen Typen an einem äußerst tristen Badeort erinnern entfernt an die Ferien des Monsieur Hulot von Jacques Tati, ohne jedoch diesem unerreichbaren Vorbild das (Meer-)Wasser reichen zu können. Wie Tati verzichtet auch Rabaté fast völlig auf Dialoge, was aber zu gewollt wirkt. Trotzdem ist man froh, wieder einmal eine Filmsprache zu erleben, die abseits der eingefahrenen Hollywood-Pfade etwas ausprobiert.

Holidays by the Sea, ab 5. Juli in zahlreichen Kinos

bebe

Margarete Mitscherlich

Mit 94 Jahren ist die Psychoanalytikerin Margarete Mitscherlich verstorben. Das psychoanalytische Werk, das sie und ihr Gatte Alexander hinterlassen haben, ist keineswegs unumstritten, dennoch aber fast unverzichtbar für den, der sich dafür interessiert, wie kollektives Verhalten erfasst und verstanden werden kann. Besonders berühmt geworden ist beider 1967 erschienenes Buch „Die Unfähigkeit zu trauern“. Den von Matthias Krauß im Blättchen 11/2012 erhobenen Vorwurf, bei diesem Titel handele es sich um eine „unsinnige“ These, da es nicht um Unfähigkeit der deutschen Nachkriegsgesellschaft zur Trauer über die Mitverantwortung an den Verbrechen des „Dritten Reiches“ ginge, sondern um deren fehlenden Willen, vermag ich nicht nachzuvollziehen, da das Buch selbst bereits im Vorwort davon spricht, dass es im Kern um Verleugnungen ginge. Nicht, dass man über dieses Buch auch heute nicht kritisch sprechen sollte – aber eine Feststellung wie die von Kraus hat eine Paulschalentwertung in ihrem Gefolge, der gegenüber sich vorsichtig verhalten sollte, wer zum Beispiel aus dem DDR-Glashaus kommt, dort aber – völlig zu Recht – Gerechtigkeit und Differenzierung erwartet und einfordert. Ich jedenfalls verdanke Mitscherlichs viele Erkenntnisse, beziehungsweise die Bestätigung eigener Erfahrungen. Darunter eine, deren Wirkungsbereich freilich nicht auf den Realsozialismus reduziert werden kann, in Bezug zu diesem aber eben leider besonders aufschlussreich ist. Die Rede ist von dem, was die Mitscherlichs „Sozialgehorsam“ genannt hatten. „In Erinnerung der unbequemen Einsicht, dass man sich hier zunächst mit relativ ungenauen Einsichten begnügen muß, wagen wir die Annäherungsaussage, daß der Sozialgehorsam immer mit der gleichen Taktik erzwungen wird (und dies in Kulturgruppen, die sonst dem Erscheinungsbild nach wenig Ähnlichkeit bieten). Die Erziehungsmethoden befleißigen sich von einem bestimmten Punkt an, Denkhemmungen zu setzen; sie tabuieren also gewisse zentrale, welche die Ordnung der jeweiligen Gruppe garantieren. Das mögen einmal Respektbezeugungen vor Ahnen oder göttlichen Wesen, das andere Mal mehr irdische Besitz und Herrschaftsordnungen sein. Ihnen gegenüber hört die Toleranz auf, und hier beginnt die harte Sanktion für Verstöße.“

Heinz W. Konrad

Hilfe!

Es gibt keine musikfreie Zone mehr. Centralpunkt des Geräuschterrors ist der Supermarkt. Da ist die Musik eingewickelt in die Sonderangebote von Rinderhack und Halsgrat vom Schwein, wird jäh durch Fanfaren unterbrochen und eine Stimme brüllt: „Für Sie haben wir noch einmal die Feile an unsere Preise gelegt: Die Diätleber für Ihren vierbeinigen Freund! Wir hassen unsere Preise, ein Schuss fällt und eine triumphierende Stimme schreit: Wir haben soeben unseren Preisgestalter erschossen.“ Ave Maria gesungen von den drei Tenören!

Dieter Hildebrandt

…der Plumpsack geht um

Man hatte darauf warten können: die öffentliche Debatte darüber, ob und wie die Krankenversicherten an den derzeitig überreichlichen Überschüssen bei den Kassen partizipieren sollen und/oder können, hat prompt die tiefbesorgten Warner auf den Plan gerufen. Ersatzkassen und Allgemeine Ortskrankenkassen, die zusammen gut zwei Drittel des Marktes abdecken, kommen laut FAZ derzeit zusammen auf ein Plus von mehr als 1,1 Milliarden Euro. Aber bald, ganz bald, so nun die lobbyistisch lancierten Schreckensmeldungen, könne sich das wieder in tiefrote Zahlen verwandeln, samt neuer Zuzahlungsnotwendigkeiten durch die Versicherten. Mindestens dann sei dies sicher, wenn wirklich eine Rückzahlung an letztere ins Auge gefasst werden sollte … Der Kabarettist Hagen Rether führt das Wirkungsprinzip dieser „Warnungen“ gelegentlich in seinen Programmen vor. Eine Spiegelausgabe nach der anderen ins Publikum haltend, plakatiert er, dass permanente Angstmache ein wohlverstandener und kalkuliert eingesetzter Herrschaftsmechanismus ist; nicht mehr und nicht weniger. Ein permanent verängstigtes und verunsichertes Volk, dazu mehrheitlich verblödet durch Bild-„Bildung“ – darauf können Regenten halt bauen. Zumal auch die „Qualitätsmedien“ – mal mehr, mal weniger – im Boot sind.

Holger Kersten

Wirsing

Ein Fotograf hat das Filmsternchen Lindsay Lohan verklagt, weil sie ihn vor zwei Jahren aus Wut angefahren haben soll. Der Teletext von N24 bastelt zu der Meldung die Überschrift: „Paparazzo zehrt Lilo vor Gericht“. Tucholsky meinte es allerdings ironisch, als er forderte: „Schreib, wie du sprichst!“

Fabian Ärmel