von Jan Schönfelder / Rainer Erices
Mit der Bundestagswahl vom 28. September 1969 waren die Weichen für den ersten sozialdemokratischen Bundeskanzler in der Geschichte der BRD, für Willy Brandt, gestellt worden. Rasch nach Regierungsübernahme wurden gegenüber der UdSSR, aber auch der DDR Schritte zu einer Normalisierung der Beziehungen nach über 20 Jahren von Konfrontation gekennzeichnetem Kaltem Krieg unternommen. Im Zuge dieser Bemühungen fand bereits am 19. März 1970 das erste deutsch-deutsche Gipfeltreffen zwischen Brandt und dem Vorsitzenden des Ministerrates der DDR, Willi Stoph, statt.
Vorgeschichte, Verlauf und Bewertung des Treffens zeichnet das bereits 2010 erschienene Buch von Jan Schönfelder und Rainer Erices „Willy Brandt in Erfurt“ – unter Rückgriff auf die heute zugänglichen Quellen und Akten – minutiös nach. Für Interessenten an geschichtlichen Abläufen schlagen Bücher wie dieses jeden politischen Thriller – einfach weil sie tatsächliches Geschehen wiedergeben.
Dem Treffen waren schwierige Vorverhandlungen vorausgegangen, die das Projekt mehrfach an den Rand des Scheiterns brachten.
So wollte die DDR keine An- oder Abreise Brandt über Westberlin gestatten, das die BRD als Teil der Bundesrepublik reklamierte, die DDR aber als besondere politische Einheit auf ihrem Territorium betrachtete. So wurde das Treffen schließlich nach Erfurt verlegt. Einflussnahme aus Moskau auf die Führung der DDR, das Treffen an dieser Frage nicht scheitern zu lassen, spielte dabei eine maßgebliche Rolle.
Die BRD wiederum wollte alles vermeiden, was als Akzeptanz des Bestrebens der DDR nach voller völkerrechtlicher Anerkennung durch die Bundesrepublik hätte gewertet werden können. Nach deren Auffassung war die DDR kein normales Ausland sondern der zweite Staat in Deutschland, die Beziehungen zwischen beiden Seiten daher von besonderem Charakter. Daher sollte das bei solchen Gipfeltreffen international übliche diplomatische Zeremoniell – Abschreiten militärischer Ehrenformationen, Abspielen der Nationalhymnen – vermieden werden. Diese Konzession musste sich die DDR für das Treffen selbst abhandeln lassen.
Die Vorverhandlungen waren erst am 12. März 1970 beendet. Doch dann kam es noch zu einem nachgeschobenen Wunsch aus Bonn: Willy Brandt wollte die Gedenkstätte des KZ Buchenwald besuchen. Die DDR stimmte kurzfristig zu. Allerdings versäumte es die Bonner Seite, die DDR für diesen Abstecher ebenfalls auf den Verzicht auf jedes diplomatische Zeremoniell festzulegen. Das war aus Bonner Sicht nicht nötig, denn der Abstecher war Teil des Brandt-Besuches, und für den war alles geregelt. Die DDR interpretierte das Bonner Versäumnis jedoch auf ihre Weise und konfrontierte Brandt in Buchenwald doch noch mit dem diplomatischen Zeremoniell inklusive Ehrenformation und Abspielen der Hymnen. Brandt hatte die Größe, diese Brüskierung im Interesse der Sache hinzunehmen, und er bekannte auch Jahre später, wie die Autoren dokumentieren: „Ich bedauere nicht, daß ich den Besuch in Buchenwald vorgeschlagen hatte.“
Doch der Vorschlag stammte ursprünglich nicht von Willy Brandt selbst, wie die Autoren in einem gesonderten Kapitel – „Nachverhandlung Buchenwald“ – schildern.
Hans-Peter Götz
Am Freitag, dem 13. März, verfasste ein Mitarbeiter des Kanzleramtes einen Vermerk an Kanzleramtsminister Horst Ehmke. Der Mann aus dem Referat III/4 machte den Minister ungefragt darauf aufmerksam, dass in dem nur 20 Kilometer von Erfurt entfernten einstigen Konzentrationslager Buchenwald am 28. August 1944 der frühere SPD-Vorsitzende Rudolf Breitscheid umgebracht worden sei. Er schlug vor: „Es würde meiner Ansicht nach besonders im Ostblock sehr beachtet und positiv aufgenommen werden, wenn der Bundeskanzler dort am Mahnmal Buchenwald einen Kranz niederlegen würde.“ Unterschrift: Guillaume. Der neu installierte Topspion der DDR-Staatssicherheit im Kanzleramt fädelte einen Coup ein: Im Auftrag oder aus eigenem Antrieb half er der DDR, die mühsam ausgehandelten protokollarischen Abmachungen zu unterlaufen.
Günter Guillaume, Deckname „Hansen“, der sich rückblickend als „Wegweiser zum Ettersberg“ sah, bezeichnete den Vorschlag als „erste bedeutende Amtshandlung“ mit einer von ihm „überhaupt nicht beabsichtigten Fernwirkung“. Sein Vorschlag, so behauptete er später, sei von Brandts Büroleiter Ritzel „mit einer kurzen Parade abgeschmettert“ worden. Ritzel habe die ganze Richtung von Guillaumes Vorschlag nicht gepasst und habe mit Verweis auf das bereits feststehende Besuchsprogramm abgelehnt. Erst bei einem späteren gemeinsamen Flug sei es Guillaume gelungen, den Kanzler von seinem Vorschlag zu überzeugen. Brandt habe gesagt: „Ja, das klingt alles sehr vernünftig. Ich werde doch noch mal mit Ehmke und Bahr reden.“
Nach Aktenlage wurde Guillaumes Vorschlag allerdings vom Kanzleramtsminister sofort aufgegriffen und dem Kanzler übermittelt. Er entsprach Brandts Sinn für die große politische Geste. In einer KZ-Gedenkstätte konnte der Kanzler zeigen, dass der Widerstand gegen den Nationalsozialismus kein Privileg der Kommunisten ist. Die Frage des Besuches wurde bereits am Sonntagabend in einer kleinen Runde in Brandts Privatwohnung diskutiert. Chefunterhändler Sahm notierte stichpunktartig in sein Tagebuch, dass „ein diesbezüglicher Vorschlag eines Mitarbeiters im Bundeskanzleramt, Guillaume“, vorliege. Die Runde zeigte sich offen und beschloss, dass geprüft werden solle, „ob und in welchem Umfang das Lager nach dem Kriege benutzt worden ist“. Brandt werde dann am Montag entscheiden, ob er die Gedenkstätte besuche. Wenn er es beabsichtige, solle Ehmke den Wunsch des Kanzlers, einen Kranz in Buchenwald niederzulegen, per Telegramm an DDR-Staatssekretär Kohl übermitteln. Gleichzeitig erhielt der Bundesnachrichtendienst den Auftrag, „zu prüfen, ob Stoph persönlich Verantwortung für Verbrechen in Buchenwald nach 1945 trägt“.
Am Montagmorgen hatte sich Brandt entschieden. Er wollte nach Buchenwald. In der morgendlichen „Lage“ im Kanzleramt verlangte er bereits Textentwürfe für die Kranzschleife. Für den Kanzler und früheren Widerstandskämpfer war Buchenwald mehr als eine Pflichtübung. Buchenwald war für ihn „ein Teil der gemeinsamen Vergangenheit, an der keiner vorbei kann und die eben nicht 1949 begonnen hat“. Der Besuch in der Gedenkstätte sollte somit auch eine Antwort auf die Aussage Ulbrichts sein, dass Bonn und Ost-Berlin jetzt bei der „Stunde null“ beginnen müssten. Mit Brandts Entscheidung begann nach Abschluss der „technischen Vorgespräche“ und parallel zu den hektischen Vorbereitungen in Ost und West ein neues deutsch-deutsches Tauziehen.
Noch am Vormittag formulierte das Bundeskanzleramt ein Telegramm an das Büro des Ministerratsvorsitzenden in Ost-Berlin. Sahm schrieb an Schüßler, dass Brandt „beabsichtigt“, nach seiner Ankunft in Erfurt und vor Beginn der Besprechungen in Buchenwald einen Kranz niederzulegen. Das Wort „beabsichtigt“ strich Brandt offenbar durch und fügte handschriftlich hinzu: „hat den Wunsch“. Die Ankunft des Sonderzuges müsse deshalb vorverlegt werden, damit das Gespräch trotzdem um 10.30 Uhr beginnen könne. Außerdem fragte Sahm, ob die DDR Autos für die Fahrt in die Gedenkstätte zur Verfügung stellen könne. Abschließend schrieb Sahm, dass Brandt es sehr begrüßen würde, wenn Stoph an der Kranzniederlegung teilnehme. Diese Passage wurde von Brandt offenbar ebenfalls gestrichen.
Am Morgen des 17. März 1970 veröffentlichte Dettmar Cramer in der „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ einen kleinen Kommentar zum bevorstehenden Erfurter Treffen. Der Tenor unterschied sich nicht von anderen Einschätzungen: Die Hoffnungen der Menschen auf Ergebnisse beim anstehenden Spitzentreffen sollten weiter reduziert und Skepsis großgeschrieben werden. Ungewöhnlich war der Schluss des kurzen Artikels: Es sei wünschenswert, dass die DDR einen Besuch des Bundeskanzlers im ehemaligen Konzentrationslager Buchenwald möglich mache, um „das Grab“ des dort umgekommenen Sozialdemokraten Rudolf Breitscheid zu besuchen. Der ehemalige Reichstagsabgeordnete und Unterstützer der Stresemann’schen Versöhnungspolitik, so die Zeitung, rage aus dem „Grau der Weimarer Republik“ heraus. Ein von der DDR-Seite ermöglichter Besuch des Kanzlers in Buchenwald sei deshalb „ein Zeichen der Humanität“. Damit war der Wunsch des Kanzlers öffentlich. Womöglich handelte Cramer dabei im Auftrag der Bundesregierung.
Einen Tag später beschäftigte sich die Zeitung noch einmal mit dem möglichen Buchenwald-Besuch des Kanzlers. Wenn Brandt und Stoph gemeinsam einen Kranz in der Gedenkstätte niederlegten, würden sie damit „ein gemeinsames Zeugnis“ über die „gemeinsam zu verantwortende unselige Vergangenheit“ ablegen. In einem solchen Augenblick würde sich möglicherweise die Bedeutung des Treffens verdichten. „Ost-Berlin, das mit seiner Geschichtsschreibung gern erst im Jahre 1949 beginnt und alles andere einseitig der Bundesrepublik anlastet, wird in Buchenwald unvermittelt mit in die Geschichte des ganzen Landes gestellt werden.“
Am 17. März war in der morgendlichen „Lage“ im Kanzleramt Buchenwald erneut Thema. Zu Gast war Gerhard Wessel, der Präsident des Bundesnachrichtendienstes. Er legte die Ergebnisse seiner Recherchen vor. Wessel versicherte, „daß Buchenwald nach 1945 nur von Sowjets als Internierungslager benutzt worden und Stoph nicht für Greueltaten verantwortlich sei“.
Fast zur gleichen Zeit wurde im SED-Politbüro über den Wunsch des Kanzlers gesprochen. Für die DDR-Führung war Buchenwald ein besonderer Ort. Das frühere Konzentrationslager war mehr als eine Erinnerungsstätte, es war ein Ort der Selbstlegitimation. Die angebliche Selbstbefreiung und die angebliche Erfüllung des „Buchenwaldschwurs“ in der DDR wurden für eine moralische Selbstbeglückwünschung und eine antiwestliche Stimmung genutzt. Die Gedenkstätte spielte deshalb eine Schlüsselrolle bei der forcierten nationalen Identitätsbildung der DDR. Das Lager war zur Gedenkstätte umgewandelt worden, nachdem das spätere sowjetische Speziallager 1950 aufgelöst worden war. Auf den Ettersberg bei Weimar pflegten die DDR-Oberen ihre Gäste zu führen, um vorzuführen, wie die DDR der 50 000 ermordeten Antifaschisten gedenke und dass ihr Vermächtnis erfüllt sei. Offenbar ahnte im Politbüro niemand, woher der Wunsch Brandts stammte. Grundsätzlich stimmten die Genossen dem Wunsch des Kanzlers zu. Sie sahen ihn als Chance: „Die Kranzniederlegung ist so zu gestalten, daß Brandt wie jeder andere ausländische Regierungschef der DDR die gebührenden Ehrenbezeugungen erweist.“
Detailliert wurde der Ablauf festgelegt: Außenminister Winzer sollte zusammen mit Brandt in einem Tschaika sitzen. Am Auto sollten die Stander der beiden deutschen Staaten gesetzt sein. Sieben Motorräder der Nationalen Volksarmee sollten den Kanzlerwagen eskortieren, Unteroffiziere sollten Kränze niederlegen, Arbeiter- und Kampflieder, aber auch „je eine Strophe der Hymnen der BRD und der DDR intoniert“ werden. Außerdem wurde festgelegt, dass Brandt und seine Begleiter Blumen nicht nur für Breitscheid, sondern auch für den einstigen KPD-Chef Ernst Thälmann niederlegen sollten. In der anschließenden Presseberichterstattung sei „hervorzuheben, daß Brandt mit seinem Besuch in Buchenwald auch der Tatsache Rechnung tragen mußte, daß das Vermächtnis der Opfer des Faschismus in der DDR in Ehren gehalten und erfüllt wird. […] Zugleich ist die tiefe Widersprüchlichkeit in der Haltung Brandts aufzuzeigen, der zwar in der DDR eine Gedenkstätte für die Opfer des deutschen Faschismus besucht, aber in der Bundesrepublik selbst keine Maßnahmen gegen die neonazistischen Umtriebe, z. B. der NPD, und gegen die revanchistische und militaristische Verseuchung der Bevölkerung ergreift.“
Mit dieser Entscheidung widersetzte sich das Politbüro eindeutig dem von Brandt gewünschten Charakter eines Arbeitsbesuches. In einem späteren Ablaufplan wurde außerdem ausdrücklich festgelegt, es sei zu gewährleisten, „daß von unserer Seite vor allem gutes Bildmaterial aufgenommen wird und die Ausführungen des Ratsvorsitzenden, des Leiters der Mahn- und Gedenkstätte und evtl. Brandts mitgeschnitten werden“.
Um 16.12 Uhr traf im Bonner Kanzleramt die positive Antwort aus Ost-Berlin ein: Dem Wunsch des Kanzlers könne in der Weise entsprochen werden, hieß es da verschleiernd, „daß der Besuch und die Kranzniederlegung im üblichen protokollarischen Rahmen am Nachmittag erfolgt“. Wie der „protokollarische Rahmen“ aussehen würde, wurde nicht erläutert.
Gegenüber einem bundesdeutschen Vortrupp unter Leitung von Ministerialrat Ernst-Günter Stern, der sich inzwischen in Erfurt aufhielt, gab sich die DDR wortkarg. Der heikle Punkt des Protokolls sollte möglichst umschifft werden. In einer internen Sprachregelung war vorab festgelegt worden, Stern könnte mitgeteilt werden, dass Brandt Buchenwald besuchen dürfe. Mit Details sollte bei Nachfragen zurückhaltend umgegangen werden. Lediglich die Begleitung des Kanzlers sollte bekannt gegeben werden: DDR-Außenminister Winzer, Kohl und Protokollchef Hain. Der Vorsitzende des Rates des Bezirkes Erfurt und der Gedenkstättenleiter würden Brandt begrüßen. „Wenn weitere Fragen gestellt werden über den protokollarischen Ablauf über den Besuch in Buchenwald“, so besagte die interne Regelung, „sollte darauf hingewiesen werden, die Sache wird so protokollarisch durchgeführt, wie es üblich ist.“
Wie vorhergesehen sprach Stern den geplanten Besuch des Kanzlers in Buchenwald an. Zunächst ging es um den Zeitpunkt. Die DDR-Seite hatte den Gedenkstättenbesuch für 16 Uhr terminiert und deshalb als Gesprächsbeginn 10 Uhr vorgeschlagen. Letztendlich einigten sich beide Seiten auf diesen Zeitplan, obwohl Brandt lieber vor Gesprächsbeginn in die Gedenkstätte gefahren wäre. Weniger leicht waren dagegen die protokollarischen Absprachen über den Gedenkstättenbesuch an sich. Die DDR-Unterhändler notierten: „Die Seite der BRD brachte zum Ausdruck, daß sie noch am Mittwoch über die Modalitäten des protokollarischen Verfahrens über die Kranzniederlegung genau informiert werden möchte. Man möchte einem Wunsch des Bundeskanzlers entsprechen, das Verfahren so schlicht wie möglich zu halten.“
Nach dem Gespräch meldete sich Stern aus Erfurt. Er teilte dem Kanzleramt in Bonn mit, dass Brandt am Nachmittag des 19. März Buchenwald besuchen könne. Er werde dabei von Außenminister Otto Winzer begleitet. Details des Protokolls konnte Stern nicht nennen. Die Funktionäre hatten wie angewiesen geschwiegen. Brandt war mit der Mitteilung einverstanden, obwohl er lieber, wie ursprünglich gewünscht, am Beginn des Besuches die Gedenkstätte besucht hätte.
Den Diplomaten im Kanzleramt musste klar sein, dass das, was bisher erfolgreich verhindert werden konnte, nun drohte: Die DDR konnte den „protokollarischen Rahmen“ selbst bestimmen. Für Nachverhandlungen gab es kaum noch Zeit und keinen Spielraum. Das Zeremoniell für Buchenwald wurde in den letzten Einzelheiten nicht besprochen. Lediglich den Aufdruck auf den Schleifen des Kranzes konnte das Kanzleramt mitbestimmen. Ministerialrat Stern schlug vor: „Willy Brandt. Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland“. Als zusätzlichen Text auf der Schleife empfahl er: „Den Opfern der Gewaltherrschaft“ oder „Den Opfern der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft“. Doch Brandt wollte es schlichter. Auf der Schleife sollte lediglich „Willy Brandt. Bundesrepublik Deutschland“ stehen. Mit dem Verzicht auf den Amtstitel konnte er den gewünschten niedrigen protokollarischen Status betonen. Mit dem Verzicht auf die Nennung der Opfer ging er sowohl Angriffen aus Ost wie aus West aus dem Weg. Ein eingeschränktes Gedenken an die Opfer der „nationalsozialistischen“ Gewaltherrschaft hätte ihm im Westen die Kritik eingehandelt, dass er die Opfer des sowjetischen Speziallagers nach 1945 ignoriere. Ein allgemeines Gedenken hätte womöglich Vorwürfe aus dem Osten provoziert, dass er Kriegsverbrecher und Nationalsozialisten mit den Opfern der Hitler-Diktatur in einen Topf werfe.
Das sowjetische Speziallager bereitete den Bonner Beamten trotzdem Kopfzerbrechen. Keinesfalls durfte Brandt in Buchenwald in eine Situation geraten, die dieses von der sowjetischen Besatzungsmacht geführte Lager in irgendeiner Weise rechtfertigte. Ministerialrat Stern ließ den Bundesnachrichtendienst recherchieren. Der Geheimdienst konnte nur mitteilen, dass von 1945 bis 1950 in Buchenwald ein Speziallager bestanden hatte. Seit 1958 gebe es im früheren Konzentrationslager eine „nationale“ Gedenkstätte. Der BND schickte noch einen Lageplan und eine „nähere Darstellung über die nunmehrige Ausgestaltung der Gedenkstätte“ ins Kanzleramt. Die Dokumente hatte der Geheimdienst dem „Stadtführer Weimar“ von 1969 entnommen. Das war scheinbar alles, was der BND in der Kürze der Zeit ermitteln konnte.
Dass Brandt in die Gedenkstätte fahren würde, registrierte auch die „Vereinigung der Opfer des Stalinismus“. Umgehend schickte der Bundesvorstand ein ausführliches Telegramm an den Bundeskanzler. Darin hieß es: „Wir achten Ihre Geste und gedenken mit Ihnen der zahllosen Opfer des Nationalsozialismus.“ Der Opferverband fügte hinzu: „Wir erinnern daran, daß das Konzentrationslager Buchenwald noch 5 Jahre nach Kriegsende bestanden hat und dort Tausende von politischen Gefangenen der sowjetischen Besatzungsmacht umgekommen sind, von deren Tod kein Mahnmal kündet.“ Das Telegramm endete mit den Worten: „Bitte, schließen Sie in Ihr Gedenken auch diese Opfer politischer Diktatur ein.“ Dieser Bitte schlossen sich auch ehemalige Häftlinge an, deren Leserbriefe allerdings erst nach dem Erfurter Treffen in der bundesdeutschen Presse abgedruckt wurden.
Am 19. März meldete die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, dass Brandt „die Anregung aus seinem Mitarbeiterkreis“ aufgegriffen habe und nach Buchenwald fahre. Der Preis für die Fahrt sei die Begleitung durch DDR-Außenminister Otto Winzer. Eine militärische Zeremonie sei aber nicht vorgesehen. Das „Neue Deutschland“ berichtete nur in einer kurzen Notiz über den bevorstehenden Gedenkstättenbesuch.
Nach der Entscheidung begannen in der Gedenkstätte Buchenwald die Vorbereitungen. Eine Parteiversammlung wurde angesetzt, in der alle Genossen „die notwendigen Informationen und Instruktionen“ erhielten. Das „Auftreten und Verhalten“ der Mitarbeiter nach außen wurde festgelegt, „insbesondere auch, daß sie über die mit dem Kanzlerbesuch zusammenhängenden Fragen ‚nichts wissen’“. Außerdem wurde als Sprachregelung verbreitet, „daß der Direktor, Genosse Trostorff, ab sofort nicht mehr ‚anwesend’ ist“.
Übernahme mit freundlicher Genehmigung des Christoph Links Verlages. Auf die Wiedergabe der Fußnoten wurde verzichtet.
Jan Schönfelder / Rainer Erices: Willy Brandt in Erfurt, Christoph Links Verlag, Berlin 2010, 332 Seiten, 24,90 Euro
Schlagwörter: BRD, DDR, Erfurt, Jan Schönfelder, Ostpolitik, Rainer Erices, Willi Stoph, Willy Brandt