15. Jahrgang | Nummer 10 | 14. Mai 2012

Kooperation statt Konfrontation

von Gabriele Muthesius

Gäbe es ein Ranking der erfolgreichsten außen- und sicherheitspolitischen Konzeptionen des XX. Jahrhunderts, dann hätte Wandel durch Annäherung alle Aussichten auf Platz eins. Im Kern ging es darum, sich dem Osten, vor allem der Sowjetunion, auf neue Weise zu nähern. Diesen Gedanken hatte Egon Bahr (in Abstimmung mit seinem damaligen Chef Willy Brandt) erstmals im Sommer 1963 auf einer Tagung an der Evangelischen Akademie Tutzing öffentlich formuliert. Damals lief der Kalte Krieg auf vollen Touren und hatte eine seiner dramatischsten Zuspitzungen, die Kuba-Krise von 1962, gerade hinter sich. Da wurde der Idee, mit den Russen anders denn scharf konfrontativ umzugehen, der Erfolg zwangsläufig nicht an der Wiege gesungen – im Gegenteil. Zum seinerzeitigen, praktisch durchweg ablehnenden Echo resümiert Bahr in seinem jüngsten Buch*: „Wir […] hatten gar nicht geahnt, dass dies wie eine Bombe wirken würde […] Wenn Brandt nicht seine Hand schützend über mich gehalten hätte, wäre ich wieder Journalist geworden.“
Von der Idee zum Konzept wurde Wandel durch Annäherung in Gestalt der neuen Ostpolitik der Bundesregierung Brandt-Scheel ab 1969 und führte zu den Verträgen zwischen der BRD und der UdSSR, Polen sowie der DDR. Dadurch wurde in entscheidendem Maße das Fundament dafür gelegt, die jahrzehntelange Konfrontation im Ost-West-Verhältnis aufzubrechen, die Entspannung und den KSZE-Prozess in Europa in Gang zu setzen und so langfristig die Rahmenbedingungen für eine Beendigung des Kalten Krieges und damit für die Beseitigung des Vernichtungsrisikos durch eine thermonukleare Auseinandersetzung zwischen NATO und Organisation des Warschauer Vertrages zu schaffen – und zugleich für einen friedlichen gesellschaftlichen Wandel in den Diktaturen des europäischen Ostens, inklusive deutsche Vereinigung. Zu dieser Gesamtentwicklung trug ab Anfang der 80er auch der ebenfalls auf Egon Bahr zurückgehende Gedanke der gemeinsamen Sicherheit zwischen Ost und West maßgeblich bei.
Dieses historische Verdienst wird keinesfalls dadurch geschmälert, dass Wandel durch Annäherung zunächst nicht viel mehr war als ein (aus Verzweiflung geborener?) Reflex auf den Mauerbau. Der hatte Brandt und Bahr in Westberlin die traumatische Erkenntnis beschert: In dieser, den bisherigen Status quo in der geteilten Stadt fundamental zum Nachteil der Berliner verändernden Situation half ihnen niemand – die Amerikaner nicht, die anderen Westalliierten nicht und der knorzige Alte in Bonn schon gar nicht. Sich wegen der Mauer ernsthaft mit der Sowjetunion anlegen? Mitnichten. US-Präsident John F. Kennedy schrieb an Brandt: „Die brutale Schließung der Grenze zeigt eine grundsätzliche Entscheidung, die nur Krieg verändern könnte. Niemand will deshalb einen Krieg beginnen.“
Im Gegensatz zur damaligen politischen Klasse im Westen zogen Bahr und Brandt daraus jedoch, und das war ein historischer Wendepunkt, eine neue Schlussfolgerung: „Die Voraussetzungen zur Wiedervereinigung sind nur mit der Sowjet-Union zu schaffen. Sie sind nicht in Ost-Berlin zu bekommen, nicht gegen die Sowjet-Union, nicht ohne sie.“ Die notwendige Konsequenz war eine, die diametral mit dem vorherrschenden Zeitgeist kollidieren musste: Mit Konfrontation nämlich war ein Miteinander nicht zu haben; das erforderte Kooperation, also eine Abkehr vom Kalten Krieg. (Bahr: „Bis zum Mauerbau waren wir eigentlich alle Kalte Krieger in Berlin – ich war auch einer.“) Bahr nahm dabei nicht zuletzt das Kennedysche Diktum, wonach man den Status quo anerkennen müsse, wenn man ihn ändern wolle, mit in seine Überlegungen auf.
Wirkte die Formulierung Wandel durch Annäherung seinerzeit durch ihre Pointierung auch „wie eine Bombe“, so war sie doch zugleich Resultat eines längeren Denk- und Diskussionsprozesses, der keineswegs nur hinter verschlossenen Türen stattgefunden hatte. Brandt hatte bereits im Oktober 1962 bei einem Vortrag an der Havard-Universität ausgeführt: „Es geht um eine Politik der Transformation. Wirkliche, politische und ideologische Mauern müssen ohne Konflikt nach und nach abgetra­gen werden. Es geht um eine Politik der friedlichen Veränderungen des Konfliktes, um eine Politik der Durchdringung, eine Politik des fried­lichen Risikos; des Risikos deshalb, weil bei dem Wunsch, den Kon­flikt zu transformieren, wir selbst für die Einwirkung der anderen Seite auch offen sind und sein müssen […] Wir können nicht sicher sein, ob wir es schaffen, aber wir sind si­cher, dass wir es schaffen können.“ (Bemerkenswerterweise mutete Brandt seinem amerikanischen Auditorium seinerzeit also auch den Hinweis zu, dass die Systemauseinandersetzung seiner Auffassung nach als offen zu betrachten war.)
Es sollte nach der Tutzinger Tagung zwar noch 16 Jahre dauern, bis diese strategischen Überlegungen in tatsächliche Bonner Politik münden konnten, dann jedoch zögerten Brandt, Bahr und ihre Mitstreiter praktisch keinen Tag. (Siehe dazu auch den Beitrag von H.-P. Götz, „Der gestörte Kanal“, in dieser Ausgabe. – Anm. d. Red.)
In geraffter chronologischer Abfolge und in dem für ihn so typischen ebenso lebendigen wie lakonischen Stil nachzulesen sind all diese historischen Entwicklungen in „Ostwärts“.
Einen konzeptionellen Schritt weiter in Richtung einer höheren Stufe von Ost-West-Kooperation ging Bahr, als er von Brandt für die 1980 im Auftrag des UN-Generalsekretärs gebildete Palme-Kommission benannt wurde, die über Sicherheit in Europa beraten sollte. Mit Bahrs eigenen Worten: Palme „bat mich, über die Frage nachzudenken: Was ist eigentlich Sicherheit im atomaren Zeital­ter? Meine Ergebnisse stimmten überhaupt nicht überein mit der Über­zeugung der damaligen Zeit, nämlich dass Sicherheit nur durch Rüs­tung, durch Abschreckung und militärische Überlegenheit hergestellt werden kann. Ich kam zu dem Ergebnis, dass im Zeitalter der gesicher­ten Zweitschlagsfähigkeit nur gemeinsame Sicherheit mit dem Gegner möglich ist. Das hieß also Kooperation […].“ Der Bericht der Kommmission erhielt schließlich den Titel: „Common Security“.
Diese neue Grundüberlegung – gemeinsame Sicherheit – wurde ebenfalls zu einer wichtigen Wegscheide im Ost-West-Verhältnis und prägte in den nachfolgenden Jahren nicht zuletzt auch den sicherheitspolitischen Diskurs in der DDR. Dabei traf der Ansatz Bahrs überwiegend auf Zustimmung: „Die Begründung für den von Bahr geäußerten kategorischen Imperativ gemeinsamer Sicherheit im Kernzeitalter durch Maßnahmen der Rüstungsbegrenzung und Abrüstung ist einfach und schlüssig: Wenn der Atomkrieg weder führbar noch gewinnbar ist, müssen jegliche Fortsetzung des Wettrüstens und die Anhäufung neuer Waffensysteme das Ausmaß der Bedrohung durch eine nukleare Katastrophe vergrößern.“ (IPW-Berichte, 12/1984) Gemeinsame Sicherheit wurde zum Ausgangspunkt sowie später, nach dem Machtwechsel zu M. Gorbatschow in der UdSSR, zum Nukleus systematischer sicherheitspolitischer Überlegungen in der Sowjetunion wie auch in der DDR.
Im Fazit seines Buches hält Egon Bahr – durchaus im Sinne des Rates eines Elder Statesman an die heutige Generation politischer Verantwortungsträger – fest: „Meine Erfahrung ist: Bitte keine Politik des Exports von Demokra­tie und unseren anderen Werten. Ich habe dankbar registriert, dass kein Kommunist je versucht hat, mich zu bekehren. Ich habe das auch unterlassen. Zu dem Wort des Alten Fritz, jeder solle nach seiner Fasson selig werden, gehört der Respekt vor anderen Kulturen, anderen Religionen und anderen Traditionen. Das gilt übrigens auch gegenüber unerbetenen Ratschlägen, wie die Länder Nordafrikas mit ihrem Islam umgehen. Die Hoffnung auf eine friedliche Welt verlangt neben dem Stolz auf den eigenen Weg die Demut gegenüber allen, die eine andere politische Struktur und einen anderen Weg gehen wollen.“
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P.S. – Der Kalte Krieg trieb viele, auch makabre Blüten. Bei Egon Bahr findet sich diese: „De Gaulle hat ‚seine’ Atomwaffe mit seinem Misstrauen gegenüber den USA begründet. Er sei nicht sicher, ob Amerika sich im Falle eines Angriffs aus dem Osten entsprechend verhalten und damit seine eigene Existenz aufs Spiel set­zen würde. Notfalls wollte De Gaulle Amerika in den Atomkrieg zwin­gen, denn die Russen würden nicht unterscheiden, von wo die Atom­raketen kommen, die bei ihnen explodieren.
Ich hatte einen guten Freund im Pentagon, dem habe ich gesagt: Das ist die Rückversicherung des Generals, um die amerikanische Bündnis­treue erzwingen zu können. Er erwiderte: Hör mal, wenn Du mein bes­ter Freund bist, und wir gehen in einen Keller, und im Keller liegt Pulver und Du willst Dir eine Zigarette anzünden, werde ich Dir das Feuer­zeug aus der Hand schlagen. Gegenfrage: Heißt das, ihr würdet durch entsprechende Schläge verhindern, dass Frankreich seine Atomwaffe einsetzen kann? Antwort: Ja […].“

* – Egon Bahr: Ostwärts und nicht vergessen! Kooperation statt Konfrontation, VSA: Verlag Hamburg, Hamburg 2012, 198 Seiten, 16,80 Euro