15. Jahrgang | Nummer 12 | 11. Juni 2012

Blick zurück nach vorn

von Korff

Beim Blättern im Blättchen-Forum stieß Korff auf einen Eintrag von „Zitator“, aus dem zu ersehen, was die Junge Freiheit nicht nur vom neuen Bundespräsidenten erwartet, sondern auch, womit sie bei ihm sicher ist: „Sein Plädoyer für Vaterlandsliebe und Freiheitswillen, ein beispielgebender Patriotismus könnten die Normalisierung unserer Nation befördern. Von ihm sind intellektuelle Impulse, geschichtspolitische Akzente zu erwarten, kurz: eine geistig-moralische Führung, zu der das versammelte Bundeskabinett nicht mehr in der Lage ist.“
Dabei fiel Korff ein, dass er unlängst, in Nr. 4 dieses Jahrgangs, in der Betrachtung „Kiesinger, seinesgleichen und die NPD“ die National- und Soldatenzeitung vom 18. Februar 1966 zu Kiesingers Kanzler-Nominierung zitiert hatte. Verblüffend, wie sich Duktus, Struktur, auch Wortwahl und vor allem die Erwartungs- und Gewissheitshaltung in beiden Zitaten ähneln. Damals: „Damit hat der beste Mann der Union eine Chance, das Steuer herumzureißen, die Partei zu retten und – vor allem – den Staat zu stabilisieren […].“
Nun könnte, falls Bedürfnis dazu bestünde, der Bundespräsident erklären lassen, dass er jetzt, als weltlicher Oberhirte der deutschen Gemeinde, den Seinen schlecht verbieten kann, ihn zu loben, zumal er selbst von dieser Wahl als einem (schon fast unverdienten) Glückstreffer der Deutschen überzeugt zu sein scheint. Dies umso mehr, da er bereits als Kandidat mehr Einheit produzierte, als jemals mit einer Regierungskoalition seit Beginn der Bundesrepublik erreicht worden ist, mag sie auch noch so groß gewesen sein.
Ein „schöner Tag“ für unsere Demokratie, dem andere vergleichbare Tage vorausgegangen sind.
„Heute, am 23. Mai, beginnt ein neuer Abschnitt in der Geschichte unseres Volkes. Heute wird nach Unterzeichnung und Verkündung des Grundgesetzes die Bundesrepublik Deutschland  in die Geschichte eintreten.“ So Konrad Adenauer, und das genannte Datum war der 23. Mai 1949.
Die Betonung des genauen Datums hat schon was. Rund fünf Monate später trat die Deutsche Demokratische Republik in die Geschichte ein, wurde aber von der früheren Gründung  lange Zeit ihrer Existenz im besten Kalten-Kriegs-Jargon als „Spalterstaat“ mit „Spalterhymne“ und „Spalterfahne“ apostrophiert. Infolge des Beitritts vom 23. August 1990 nach Art. 23 Grundgesetz (GG) sozusagen im Nachhinein bestätigt, ist die alte bundesdeutsche Betrachtungsweise nun praktisch auch die offizielle neue – als habe es keine historischen Ursachen für die Gründung von zwei Staaten gegeben. Und wer mit der staatlichen Spaltung begann und warum, das ist in diesem Geschichtsbild eine Quantité négligable.
Ganz außen vor bleibt dabei aber auch der eigentlichen Auftrag nach Art.146 GG: „Dieses Grundgesetz, das nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk gilt, verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.“
Ist eigentlich bekannt, wer den Dreh mit dem „Beitritt“ aus dem Hut gezaubert hat? Das muss wohl jemand gewesen sein, dem daran gelegen war, grundlegende Änderungen in der Substanz des Grundgesetzes – etwa im Hinblick auf eine Konkretisierung der Gemeinwohlverpflichtung des Privateigentums (an Produktionsmitteln) – zu verhindern. Jedenfalls war mit dem Beitritt,  von einer Mehrheit der Volkskammerabgeordneten seinerzeit nicht begriffen  der GG-Auftrag zu einer neuen Verfassung für ganz Deutschland obsolet. Soweit in Gesellschaft und Politik Ewigkeiten gelten, wird es also keine neue gesamtdeutsche Verfassung geben. Die Festlegungen vom 23. Mai 1949 für die drei Westzonen, zwar Grundgesetz genannt, aber nach dem Willen ihrer (überwiegend) Väter  ein Provisorium, wurden so zum „letzten Wort“.
Bleiben wir noch kurz bei dem Akt von 1949 – fürs Gemüt: Nach Adenauers Worten setzte das Orchester ganz sanft ein, und dann standen die Gründer langsam gerührt auf und sangen, teils mit Inbrunst:

„Ich hab’ mich ergeben,
mit Herz und mit Hand
Dir, Land voll Lieb’ und Leben,
mein deutsches Vaterland“.

Bis zur sechsten Strophe, bei der die Phalanx der Mitsänger schon deutlich ausgedünnt war:

„Laß Kraft mich erwerben
in Herz und in Hand,
zu Leben und zu sterben
fürs heil’ge Vaterland“.

Journalisten, professionsbedingt eher kaltschnäuzig als gerührt, fühlten sich bei dieser Zeremonie an die Theatralik des Rütli-Schwures erinnert. Aber was soll’s? So begann er halt, der „neue[…) Abschnitt in der Geschichte unseres Volkes“.
Nur zwei Personen waren demonstrativ sitzen geblieben: Max Reimann und Heinz Renner, die kommunistischen Vertreter im Parlamentarischen Rat. Sie hatten zuvor in den Debatten vor dem Ausschluss der „Sowjetisch besetzten Zone (SBZ)“ gewarnt und die Einheit Deutschlands beschworen. In einer Grundsatzrede hatte Reimann zudem auf Auswirkungen dieses Grundgesetzes für die innere Entwicklung verwiesen: „Die Gesetzgeber […] werden im Verlauf ihrer volksfeindlichen Politik ihr eigenes Gesetz brechen. Wir Kommunisten aber werden die im Grundgesetz verankerten wenigen demokratischen Rechte gegen die Verfasser des Grundgesetzes verteidigen“. Und nur der Vollständigkeit halber: Man kann Gesetze auch dadurch brechen, dass man sie ergänzt; das gilt auch für GG, und wurde mehrfach praktiziert – von den Notstandsgesetzen der späten 60er Jahre bis zu diversen Sicherheitsgesetzen unserer Tage.
In der alten Bundesrepublik wurde den Schwarzsehern jegliche Kritik bald untersagt: Am 17. August 1956 wurde die Kommunistische Partei verboten und mit ihr nicht nur zahlreiche Einheits- und Friedensorganisationen; de facto wurde auch ein Meinungsverbot für als „kommunistisch“ verifiziertes Gedankengut installiert und durchgesetzt. Der Antikommunismus wurde so zur Staatsräson; für ein neues demokratisches Deutschland eine ziemlich schwache und enge Basis. Zumal kein anderes westeuropäisches Land diesem Vorbild folgte, hatten doch die meisten von ihnen gerade gemeinsam mit der Sowjetunion erfolgreich Krieg gegen Nazi-Deutschland geführt, dass seinerseits den Antikommunismus als militantes Vernichtungsvehikel benutzt hatte. Aber die ungebrochene Kontinuität brauner Funktionseliten in der neuen Demokratie bewirkte halt das ihrige.
Unter des Grundgesetz-Himmels entwickelte sich eine überbordende Parteiendemokratie, nicht zuletzt weil das Grundgesetz Volkes unmittelbare Stimme an die kurze Leine legte und zum Beispiel Volksentscheide weitgehend ausschloss und -schließt. Statt dessen ausgeübt wird die mittelbare, genannt auch repräsentative Demokratie in Gestalt des Rechtes zur Wahl von – zugelassenen – Parteien.
Diese nehmen mit größter Selbstverständlichkeit Funktionen und Rechte wahr, die ihnen laut GG nicht zustehen. Sie sollen beziehungsweise dürfen an der politischen Willensbildung lediglich „mitwirken“ – aber nicht quasi oligarchisch über die Politik bestimmen, an sich auch nicht über das politische Personal. Doch das ficht die Parteien seit 60 Jahren nicht an, nicht einmal in einer Zeit, wo in Umfragen und durch Wahlergebnisse bestätigt wird, dass diese Praxis längst nicht mehr mehrheitlich konsensfähig ist. Neben einem seit langem anwachsenden Nichtwählerpotenzial sind ist der Zulauf zu den Piraten das jüngste Achtungssignal in dieser Richtung.
Weil die politischen Parteien sich aber so verhalten, als verkörperten sie die eigentliche Demokratie, kam es nun erstmals auch zu einem „Einheitskandidaten“ der großen Mehrheit – der Parteien! Dass es selbst in der repräsentativen Demokratie durchaus anders geht, zeigt ein Rückblick auf die Bundesversammlung von 1969. Die hatte die Wahl zwischen zwei auf ihre jeweilige Weise bemerkenswerten Persönlichkeiten: Gerhard Schröder für die CDU/CSU und Gustav Heinemann für die SPD, beide auch als Minister erprobt und für unterschiedliche Staatsauffassungen stehend. Ergebnis erst im dritten Wahlgang: 512 zu 506 Stimmen für Heinemann. Das war jedenfalls noch eine Abstimmung und keine Akklamation, wie dieses Mal.
Ist Erinnerung an dergleichen Vergangenes heute noch angemessen? Korff hat seine Zweifel; aber er erinnert – sowohl sich als auch andere. Auch das gehört zum Erbe, das man nicht nur nicht ausschlagen, sondern produktiv machen sollte, wenn man nicht zu den letzten Sargnägeln der Demokratie hierzulande gezählt werden will.
Apropos Erbe und Demokratie: Könnte nicht ein so richtig gesamtdeutscher Bundespräsident die „Einheit und Freiheit“ soweit reanimieren helfen, dass „das deutsche Volk in freier Entscheidung“ doch noch eine gemeinsame Verfassung erhält?
Solcher Art Erwartung angesichts des neuen Amtsinhabers zu hegen, mag mancher und manchem vermessen erscheinen. Aber wer ließe sich nicht gern hin und wieder eines Besseren belehren?!