15. Jahrgang | Nummer 3 | 6. Februar 2012

Querbeet (VI)

von Reinhard Wengierek

Meine Fundstücke im Kunstgestrüpp: Diesmal – frostgestützt reiseunlustig am hauptstädtisch heimischen Herd – theatralische Keckheiten als Sitcom-Serie oder Krimi-Soap; ein Jung-Star sowie die aufs Neue hinreißende Corinna Kirchhoff. Obendrein zwei Opern-Verwurstungen: Brettl-witzig, Regietheater-doof.

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Herrlich! Hab‘ mich halb tot gelacht ins neue Jahr; aber erst zwei Wochen nach Silvester. Macht nix, gute Laune ist jederzeit brauchbar. Und die garantiert das Prime Time Theater; ein geistreich gestörter Szenebetrieb im Berliner „Problem“-Kiez Wedding. Vor genau acht Jahren erfunden von Constanze Behrends, dem ironiedoofen Blondchen auf kilometerlangen Beinen. Und von Oliver Tautorat, dem mopsigen Superstriese, der den in Kopp und Gliedern gelenkigen Obermacker macht. Ein Familienunternehmen, das vom Zusammenleben quatscht und alle daran Beteiligten (inclusive Publikum) durch den kochenden Kakao zieht. Dass solch einer Heißbehandlung die öffentliche „Basisförderung“ verweigert wird, macht nix. 95 Prozent Platzauslastung zeigen: Die intellektuelle, proletische, migrationshintergründige Basis strömt in Massen. Und hat also verstanden, was da allabendlich Punkt 20.15 Uhr auf 14 Quadratmetern Bühne abgeht in der längst kultigen Sitcom-Serie „Gutes Wedding, schlechtes Wedding“: Döner, Boulette, Frühlingsrolle hemmungslos verhackstückt; Privates und Politisches real-absurd verrührt mit Pop und Klamauk. Das Ragout kommt über schamlose Rampensauerei unters Volk. Es hat daran zu kauen und zu kichern. Die Köche bekamen dafür den 2012er BZ-Kulturpreis! Und köcheln bereits an der demnächst 76. GWSW-Folge: In Männerstillgruppe“ wird das zwar korrekte, aber gleichfalls nicht basisgeförderte Frauenverstehertum vorgeführt. Das rief religionsunabhängig und geschmackssicher eine Baby-Stillgruppe für Kerle ins Leben …

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Was das Weddinger Plebejer-Bühnchen treibt, leistet sich längst auch ein Hochkulturbetrieb wie die Berliner Schaubühne; wer da bei wem abguckt, sei dahin gestellt. Also dort, am problemarmen Kurfürstendamm-Kiez, toben seit knapp zwei Jahren die „beiden berühmtesten Cops der Weltbühne“ durch die Krimi-Reihe „Zack’n’Dave“. Diesmal jagen der große dicke Bulle Zack (Sebastian Schwarz) und der kleine dicke Bulle Dave (David Ruhland) durch die Schweizer Alpen, um die in einer zauberbergischen Hustenburg mordende Organklau-Mafia zu stellen. Ein leicht hintersinniger, schwer alberner, natürlich professionell gewerkelter Comic voll schwarzem Humor, weltliterarischer Verballhornung, Musik-und-Sex-Blödelei. Zum „Gäste“-Casting drängeln sich mittlerweile honorigste Schaubühnenstars; Motto: gern mal in saftiger Schmiere austoben. Die Bude immer voll. Kult! Sogar im GWSW-Wedding sind Gastspiele angesagt.

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Auch wenn ehrwürdige Kollegen das anders sehen: Sartres kommunistischer Parteidisziplin-Thriller „Die schmutzigen Hände“ geht mir bis heute an die Nieren. Denn noch immer tummelt sich die Ums-Verrecken-Weltverbesserung unter einer verzweifelten Menschheit. Jetzt bringt die bewundernswerte Regisseurin Jette Steckel das Wahn-satte Drama aus Politik und Privatem, aasigem Pragmatismus und höllischer Ungeduld so grauenvoll wie glasklar (all)gegenwärtig ins Deutsche Theater Berlin. Ein elend herrlicher Taumel zwischen Lebensgier und Sucht nach daseinserhöhendem Sinn, die sich in Blutbädern erfüllen will-soll. Wie Ulrich Matthes den schillernden Polit-Zampano macht, ist voll cool. Aber hinreißend ist Katharina Marie Schubert, die als Jessica jenseits von allem Polit-Hickhack und aller (vermeintlichen) Sinnstifterei als ideologiefrei frisches Girlie nichts weniger als das eine verkörpert: Daseinslust! Wunderbar und wundersam. A star was born.

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Ein sozusagen Alt-Star des Theaters ist – gleichsam taufrisch – im Berliner Ensemble zu bewundern: Corinna Kirchhoff! In Lessings sarkastischem Mann-zwischen-zwei-Frauen-Drama „Miss Sara Sampson“ (die eine jung, die andere, die Kirchhoff als Marwood, war es). Regisseur Günter Krämer filtert daraus so frech wie klug einen heutigen Klassiker-Boulevard für die Kirchhoff, auf dem sie sauschlau und stutenbissig rast. Eine Sitzengelassene. Eine aufs Glück geile Furie. Eine Schlagende und Geschlagene; Weib und Weibchen. So komisch wie schmerzlich. Eben wahnsinnig.

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In Berlins Off-Oper Neukölln gibt es „Aida“. Aber die äthiopische Sklavin ist eine griechische Praktikantin in der EZB, die nicht Radames, sondern den deutschen Sparkommissar Rainer Mess los schickt, um die hellenische Wirtschaft zu sanieren. Verdi adaptiert von Studioband und Euro-Krise; geht überraschenderweise musikalisch gut. Dramatisch ist es ein Herbeitrommeln von Aktualität. Schadet aber keinem, auch Verdi nicht (hält einiges aus). Hat Bums und super Sänger. Prima Unterhaltung. – In Berlins Komischer Oper Berlin wird gleichfalls umgemodelt. Der Katalane Calixto Bieito, geifernd erpicht auf Pflege seines Rufs als geiler Blutspritz-Regisseur mit zeitgenössischem Skandal-Blick, der macht aus Webers „Freischütz“, aus dem Utopie-Stück vom Sieg des göttlich Guten über das irdisch Ungute, flugs eine apokalyptische Hardcore-Show. Weltuntergang im deutschen Wald voller Stiefel, Menschenzerfleischung, Miss-Piggy-Weibern. Auch ein lebendes Hausschwein grunzt. Und ein nackter Hauptdarsteller hüpft mit der Knarre ballernd affenartig durchs gefällte Holz. Also Waldsterben, Regression und alles im Orkus. Mies gesungen wird auch noch.

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Selbst wenn mein “Quer” heute zu lang wird, ich muss sie los werden: Noch eine sehr spezielle Anverwandlung einer Vorlage (diesmal der deutschen Sprache), hängend im Wartezimmer meines Orthopäden. Gerahmt unter Glas die krumme Handschrift einer expressiven Zweitklässlerin: „Der Ferd had vier beiner an jeder Seite einer und hatt es mal keiner Umfallt.“ Das als Motto fürs neue Jahr – oder bis zum nächsten Querbeet.