15. Jahrgang | Nummer 3 | 6. Februar 2012

Im Gespräch mit – Dieter Hildebrandt

Das Blättchen startet mit dieser Ausgabe eine neue Rubrik, die künftig – in zwar durchaus unregelmäßigen Abständen – zum festen Inventar unseres Magazins werden soll: Im Gespräch mit … . Den Auftakt macht ein Interview, das mit Dieter Hildebrandt zu führen wir das Vergnügen hatten.

Die Redaktion

Der 1927 im niederschlesischen Bunzlau geborene, langjährige Wahlmünchener Dieter Hildebrandt gilt zu Recht als Nestor des politischen Kabaretts in Deutschland. Seine Laufbahn im Kulturbetrieb begann als Platzanweiser in einem Theater der bayerischen Hauptstadt und erhielt ihre entscheidende Weichenstellung durch die Mitgründung der legendär gewordenen Münchner Lach-und-Schieß-Gesellschaft. Fernsehformate wie die Notizen aus der Provinz und vor allem der Scheibenwischer verhalfen ihm zu einem Millionenpublikum. Seit seinem Abschied als Frontmann des Scheibenwischers im Jahre 2003 ist Dieter Hildebrandt deutschlandweit als Kabarettist mit Soloprogrammen oder Partnern unterwegs. „Nebenher“ hat er bislang neun Bücher veröffentlicht.

***

Herr Hildebrandt, lassen Sie uns mit einer Frage beginnen, die die Nation bewegt: Wäre „In Stahlgewittern“ – Bundespräsident Christian Wulff gebrauchte diesen Begriff Medienberichten zufolge im internen Mitarbeiterkreis zur Beschreibung dessen, was um ihn seit Wochen in der Öffentlichkeit vorgeht, – nicht ein angemessener Titel für eine Autobiographie, sollte Wulff je eine schreiben oder schreiben lassen?
Dieter Hildebrandt:
Nein, ich würde einen anderen Titel vorschlagen – unter Rückgriff auf die große Mimin Therese Giehse. Die gab einem Buch über ihr Leben, das die Journalistin Monika Sperr auf der Basis von Gesprächen mit der Giehse verfasst hatte, den Titel „Ich hab nichts zum Sagen“. Das wäre, glaube ich, ein besserer Titel für Christian Wulff, wobei, was bei der Giehse ihrer sprichwörtlichen Bescheidenheit geschuldet war, bei ihm die reine Wahrheit wäre.
Allein die Verwendung des Begriffs „Stahlgewitter“ ist eine bildungsmäßige Fahrlässigkeit und scheint mir im Übrigen ein Indiz zu sein, dass der Bundespräsident auch in der Literatur nicht sonderlich belesen ist. Wenn er das Buch tatsächlich kennte, dann sollte er sich daran erinnern können, dass es vor allem dieses Buch war, aus dem die Nationalsozialisten später meinten, eine Geistesverwandtschaft des Schriftstellers zu ihrer Bewegung ableiten zu können. Auch von „Stahlgewittern“ sollte man also vielleicht besser den Mund halten, wenn man nicht weiß, wovon man spricht.

Der Spiegel titelte „Der falsche Präsident“. Aber ist die Causa Wulff wirklich so schlimm? Immerhin hat er doch nicht – wie ähnlich prominente CDU-Politiker vor ihm – zur Sache auch noch sein Ehrenwort gegeben …
Hildebrandt:
Was heißt schon schlimm? Die Ursache seiner jetzigen Malaise liegt ja nicht in dem, was Wulff getan hat. Das ist lange bekannt und recherchiert, damit hatten bestimmte Journalisten von bestimmten Medien ihre Schubladen aufmunitioniert, um bei passender Gelegenheit danach greifen zu können. Das ist doch immer so: Kaum wird jemand was, werden kleine Teams losgeschickt, um zu suchen, was man im Ernstfall in der Hand hätte. Und wenn der Betreffende dann unbotmäßig gegenüber dem Blatt ist oder gegenüber dem, was das Blatt vertritt, dann folgt der Gegenschlag. Vielleicht hat Wulff einfach nur den falschen Mann bei der falschen Gelegenheit nicht gegrüßt oder aber was Falsches gesagt. Die sind ja unglaublich empfindlich, was das betrifft. Vielleicht war es ja wirklich nur dieser eine Satz, der in seiner bisherigen Amtszeit von Belang war, – der vom Islam, der auch zu Deutschland gehöre.
Tragikomisch an der Causa ist aber, dass Wulff augenscheinlich meinte, einen Freund bei der Bild-Zeitung zu haben. Auch das war eine Fahrlässigkeit. Ich kenne niemanden, der dergleichen von sich behauptete.
Darf ich darüber hinaus daran erinnern, dass die Bundeskanzlerin, nachdem sie Wulff hatte zum Bundespräsidenten wählen lassen – im dritten Wahlgang hatte es ja doch noch geklappt –, aufgeatmet hat: Nun hätte sie endlich jemanden aus der Politik im Schloss Bellevue. Also wenn jemand, der aus der Politik kommt, sich so verhält, dann hätte sie vielleicht doch besser den Gauck nehmen sollen.
Der Wulff war ja schon zuvor nicht so bedeutend gewesen, dass wir ihn unbedingt auch noch als Präsident gebraucht hätten. Aber er hat natürlich Kriterien erfüllt, ohne die es nicht geht. So konnte beispielsweise der beste und gebildetste Sozialdemokrat, den die Bundesrepublik neben Willy Brandt und Egon Bahr je hatte, Carlo Schmidt, nie Bundespräsident werden, weil – der war nicht verheiratet, der hatte nur eine Geliebte. Das ging gar nicht. Wulff hatte zwar die eine Frau sitzen lassen, ist aber mit der neuen wenigstens ordentlich verheiratet, und weil die Bild-Zeitung das abgenickt hat, war alles in Ordnung. Wulff war damit allerdings schon abhängig, musste in irgendeiner Form Danke sagen und hat das mit der öffentlichen Inszenierung seines Lebens mit Bettina ja auch artig getan. Nur hat er das augenscheinlich für einen Deal auf Gegenseitigkeit gehalten und übersehen, dass das lediglich ein Deal von der Bild-Zeitung Gnaden war. Ich glaube übrigens nicht, dass die schon alle Munition aufgebraucht hat.

Sie rechen damit, dass Wulff doch noch zurücktreten muss?
Hildebrandt:
Nein, die Chance ist vorbei. Zurücktreten kann man nur, wenn man sofort zurücktritt. Je länger er wartet, desto weniger ist er zurückgetreten, selbst wenn er zurücktritt. Seine Würde hat er bereits verloren. Eigentlich schon vor einem dreiviertel Jahr. Er hätte eigentlich in der Nacht zurücktreten müssen, als er zugeben musste, ich habe beim Befehlshaber der Drückerkolonnen auf Mallorca Urlaub gemacht. Als ich die Bilder von dessen Schloss gesehen habe, hat mich im Übrigen, wie ich gestehen muss, ein ungeheurer Neid gepackt. Gott sei Dank habe ich solche Freunde nicht, so dass mir die Versuchung, auch hinzufahren, erspart bleibt. Ich wäre ihr vielleicht nicht gewachsen …
Jetzt wird sich der Wulff sagen, und seine Berater tun das sicher auch, nun musst du durchhalten. Da werden wir ihn wohl weiter haben.

Ist eine Demokratie eigentlich defekt, wenn sie ein Amtsenthebungsverfahren für den höchsten Repräsentanten des Staates gar nicht erst vorsieht?
Hildebrandt:
Jetzt wollen wir doch die Kirche mal im Dorf lassen. Ein zugegeben schöner Privatkredit von einem Unternehmer, der auf Auslandsreisen mitgenommen wurde, wofür andere sich anstellen mussten und auch mal abgelehnt wurden, und ein auch ganz flotter Privatkredit von einer öffentlichen Bank, für die Wulff als Aufsichtsratmitglied von VW von einer so genau nicht zu benennenden Bedeutung war – das ist doch der Stoff, aus dem Provinzpossen gemacht werden, aber keine Watergate-Affäre, die eine Amtsenthebung rechtfertigte. Richtig schwerwiegend ist bisher nur Wulffs Angriff auf die Pressefreiheit, ein hohes Gut des Grundgesetzes. Aber auch da blieb’s beim fahrlässigen Versuch. Deswegen nun einen Mechanismus zur Präsidialenthebung wie das amerikanische Impeachment nach Artikel II, Abschnitt 4 der US-Verfassung einzuführen, wäre vielleicht etwas viel der Ehre. Und nicht zu vergessen – die Bevölkerung ist ja dafür, dass er bleibt.

Lassen Sie uns noch kurz bei der anderen aktuellen Skandalnudel verweilen. Das Blättchen hatte vorgeschlagen, Karl Theodor zu Guttenberg und seiner schönen Angetrauten die Nachfolge von Thomas Gottschalk anzutragen, um KT auf Lebenszeit von der deutschen Politik fern- und deren weiteren Verfall damit vielleicht zumindest temporär aufzuhalten. Der Vorschlag verhallte leider unerhört. Hätten Sie einen besseren?
Hildebrandt:
Sind Sie jeck? Ich bin als Fernsehzuschauer strikt dagegen, dass da jetzt einer käme, der auch das nicht kann. Der Mann geht mir auf die Nerven.

Da sind Sie aber in der Minderheit!
Hildebrandt:
Vorsicht. Zwar sind nach Umfragen 70 Prozent der Bevölkerung dafür, dass KT zurückkommt, aber 77 Prozent sind, auch nach Umfragen, dagegen. Das ist das Schöne an Statistik. Zu verhindern ist seine politische Reanimation im Übrigen absolut nicht, denn sein fränkischer Wahlkreis wartet ja schon auf ihn, und weil politische Parteien ihre Kandidaten hierzulande beliebig auf ihre Wahllisten setzen können, ohne dass es dazu irgendeiner demokratischen Legitimation bedürfte – die wählen sich ja quasi selbst und der Souverän darf das dann nur noch abnicken –, ist er spätestens nach der nächsten Bundestagswahl möglicherweise wieder da. Der Seehofer macht ja auch nix dagegen, weil – der braucht ihn wahrscheinlich gegen den Söder. Damit beide sich nach dem klassischen Motto: divide et impera! gegenseitig in Schach und sich damit zugleich dem Seehofer noch eine Weile vom Halse halten. Der Söder ist zwar ein Intrigant und mauliger Besserwisser, also höchst unsympathisch, ein richtiger bayerischer Malus, aber der Depp, für den ihn manche halten, ist er mitnichten. Dazu ist er jung und fleißig, davon hat’s in der CSU nicht all zu viele. Diese Mischung muss Seehofer im Auge behalten und austarieren. Jedenfalls nach der Ränkelogik einer Partei wie der CSU.

Humor, gar Selbstironie, so will uns scheinen, kommen bei deutschen Politikern, soweit sie öffentlich agieren, nicht vor. War das schon immer so? Oder sind die Zeiten heute ernster?
Hildebrandt:
Es gibt ja verschiedene Formen von Humor. Denken Sie an Franz Josef Strauß, der sich ebenso deftig wie bösartig auf anderer Leute Kosten amüsieren und diese verletzend lächerlich machen konnte. Oder ein anderes bayerisches Beispiel: Wenn ein Politiker krumme Dinger macht, ohne so richtig erwischt zu werden, und dabei lügt und betrügt, wo immer ihm das Vorteile bringt, dabei aber andere mitkommen lässt – hochdeutsch würde man vielleicht sagen: mitnimmt, und Strauß war ein Meister im Mitnehmen, –, die anderen also nicht mehr Schmiere stehen müssen, sondern mit in die Bank dürfen, dann heißt es von diesem: „Aber a Hund isser scho!“ Das ist nicht nur sardonischer Humor, das bringt zugleich höchste bayerische Wertschätzung zum Ausdruck. Noch ein Beispiel? Auf dem Höhepunkt der Spiegel-Affäre 1962, als bereits jedermann wusste, dass Strauß das Parlament belogen hatte, weswegen er dann zurücktreten musste, da stellte sich der damalige Innenminister Herrmann Höcherl (CSU), auch so ein Humor-Spezi, vor den Bundestag und erklärte, es sei ein spanischer Beamter unterwegs, der alles aufklären werde. Der Beamte ist immer noch unterwegs.
Aber Sie haben Recht, auch in dieser Hinsicht hat es seither einen Niedergang gegeben, der nicht zuletzt damit zu tun hat, dass es praktisch nur noch Berufspolitiker gibt. Deren auch wirtschaftliche Existenz hängt davon ab, dass sie immer wieder gewählt werden. Das macht ängstlich. Humor ist ja nicht ungefährlich – es kann einem, schlimmstenfalls, passieren, dass man verstanden und anschließend von den Kollegen geschnitten wird, und dann ist man raus aus dem Geschäft.

Politiker reden „Verschleierungssprache“, um einen von Ihnen geprägten Begriff aufzugreifen. Protagonisten des politischen Kabaretts wie etwa Georg Schramm, Volker Pispers, Dieter Hildebrandt und andere sprechen demgegenüber „Entschleierungssprache“ und betreiben oft nur noch der Präsentationsform nach Kabarett – textlich sprechen die genannten puren, logischen und sachfundierten Klartext. Teilen Sie diesen Eindruck?
Hildebrandt:
In der Tat. Das hat aber nicht nur damit zu tun, dass Politiker, die wiedergewählt werden wollen, keinesfalls erkennen lassen dürfen, was alles Gegenteiliges im Vergleich zu Wahlkampfversprechen verzapft wurde, was alles schief ging oder zwar versprochen, aber gar nicht erst angepackt wurde. Das funktioniert umso besser, je länger und verschwurbelter, garniert mit möglichst unverständlichen termini technici, man um eine Sache herumredet. Das Publikum ist rasch gelangweilt und ermüdet womöglich noch schneller. Dann schaltet es ab und vergisst oder sagt sich: Wird schon stimmen …
Die Geschäftgrundlage von Kabarettisten ist eine gänzlich andere. Die locken die Leute mit dem Versprechen an, wenn ihr kommt und euren Eintritt bezahlt, dann werde ich euch zwei Stunden nicht langweilen. Ich werde zumindest mein Bestes versuchen. Der daraus resultierende Unterhaltungsauftrag lässt gar keine Zeit, um nicht sofort zum Kern einer Sache zu kommen, denn sollte sich rumsprechen, dass der Kabarettist sein Versprechen nicht hält, dann kommt das Publikum nicht mehr. Bei Schramm und Pispers, da Sie diese Namen nun schon mal genannt haben, kommt noch hinzu, dass die auch noch hervorragend formulieren können. Solche gediegenen Rhetoriker, wo finden Sie die in Parlamenten heute noch? Außer Gysi will mir da auf die Schnelle gar keiner einfallen.
Welche Schlussfolgerungen aus all dem für die Auswahl und Wahl unserer Politiker gezogen werden könnten, daran arbeite ich noch.

Von der beleuchteten Bühne aus, ist es schwierig, das Publikum im dunklen Saal zu taxieren. Befindet man sich aber inmitten dessen, sieht man sich in klarer Mehrheit von 45 plus-Jährigen umzingelt. Die Jugend zieht´s weitgehend zu Mario Barth und Kollegen. Haben Sie die Hoffnung, dass dies ein alters- und damit reifebedingtes Durchgangstadium ist oder fürchten Sie gleich uns, dass sich darin auch der Bildungs- und Kulturverfall ausdrückt, den man in vielerlei Hinsicht beobachten kann?
Hildebrandt:
Ob Mario Barth unbedingt der Mann nur für die jungen Leute ist, das bezweifle ich. Dort finden sich generell Menschen ein, die die schnelle Unterhaltung bevorzugen, den leicht verdaulichen Spaß, und deren Ansprüchen dies genügt. Barth ist geistiges Fast Food. Solche Leute hat’s immer gegeben. Daran ist nichts neu. Die eher plumpen werden nach ihrer Zeit dann auch rasch zu recht wieder vergessen. Die Texte derer, die es demgegenüber ernst meinen mit dem Publikum, die werden auch später noch gelesen.
Dass junge Leute heute nicht mehr so das Vergnügen am Wortspiel und an der intellektuellen Anstrengung haben, hat natürlich auch mit den neuen Medien zu tun, die viel und viel zu häufig vielleicht sogar die ganze Aufmerksamkeit absorbieren und in sehr kurzen Abständen immer neuen Häppchen-Input liefern, der völlig ohne Anstrengung konsumiert werden kann. Mich wundert ja schon, dass Menschen, die den Blick nur noch auf ihre Apparate geheftet haben, auf der Straße nicht dauern zusammenstoßen. Zu Hause besteht das Risiko zwar nicht, aber auch dort ist der Apparatekontakt ein dauernder. Das hält Bildungs- und Kulturverfall ganz sicher nicht auf.
Im Übrigen finde ich es ganz normal, dass mein Publikum inzwischen auch zwischen 50 und 80 chargiert. Man nimmt sein Publikum ja mit über die Jahre, selbst ins Alter. Erfreulicherweise kommen aber immer wieder auch junge Leute und drücken dann beim Signieren ihre Überraschung aus, wie gut sie sich unterhalten haben.

In der Begründung für die Verleihung des Adolf-Grimme-Preises 2004, das war Ihr vierter, und den erhielten Sie für Ihr Lebenswerk, hieß es, dass mit Ihrem Abschied vom Bildschirm 2003 „eine ganze Ära des politischen TV-Kabaretts zu Ende“ ginge. Aus heutiger Sicht: War dem so?
Hildebrandt:
Bei dem Wort Ära zucke ich natürlich sofort zusammen und fühle mich schuldig: Da nimmt einer die Ära mit nach Hause und bahrt sie auf … Es war aber lediglich das Ende meiner ganz persönlichen Zeit im Fernsehen, und das war ganz in Ordnung. Wissen Sie, Fernsehen macht einen ja nicht jünger, und schöner auch nicht. Wenn ich jetzt live auftrete, sagen die Leute: Sie sehen ja viel besser aus als im Fernsehen.
Im Übrigen war, als ich den Scheibenwischer verließ, dort ein tadelloses Ensemble zur Fortführung der Sendung beisammen. Das waren der Schramm und der Jonas und der, der immer die Leute nachmacht. Da liefen weiter herrliche Sendungen, bis die sich dann leider selber zerstörten, weil sie in verschiedene Richtungen liefen.

Nicht nur Journalisten sondern durchaus auch Kabarettisten in der DDR wurde – oft genug noch vor der professionellen Qualifikation – vor allem „Parteilichkeit“ abverlangt – im Westen ein Pfui-Wort für Intellektuelle. Von Ihrem Scheibenwischer-Kollegen, der immer die Leute nachmacht, ist Ihnen mal nachgesagt worden, Sie „könnten nur parteipolitisch“ und seien deshalb „zu Objektivität nicht in der Lage“. Hmm, denkt und fragt sich da unsereins: Was ist Objektivität im Leben und im Kabarett?
Hildebrandt:
Das ist ein Zwilling des auch sehr gelobten Wortes Ausgewogenheit. Allerdings ist ein ausgewogener Kabarettist eigentlich ungenießbar, denn wenn der nach der einen Seite austeilt und auf der anderen keinen findet für die Ausgewogenheit, dann muss er sich einen malen und wird ganz schnell zum Hampelmann, wenn Sie mal an dessen typischen Bewegungsablauf denken.
Die Parteilichkeit bei mir würde ich eher Beharrlichkeit nennen. Ich bleibe bei etwas, das man Meinung nennt, und das kann sich manchmal auch mit den Zielen einer Partei treffen – wie es bei mir und der SPD zu Zeiten der neuen Ostpolitik und der Entspannung von Willy Brandt und Egon Bahr der Fall war. Die SPD hatte damals aus meiner Sicht den besten Ansatz zur Realisierung dessen, was im Hinblick auf Deutschland als Ganzes im Grundgesetz steht, Verpflichtungen, an denen etwa der erste Bundeskanzler so gar kein praktisches Interesse hatte. Adenauer hatte Angst, dass bei Wiedervereinigung die Protestanten im Lande eine Mehrheit hätten und wiederum mehrheitlich zur SPD neigen könnten. Hätte der geahnt, dass die Bevölkerung der DDR am 18. März 1990 der SPD einen derartigen Strich durch die Rechnung machen und so verkehrt wählen würde, wie sie’s getan hat, wobei nicht Kohl und die CDU, sondern Mercedes, Banane und Westmark den Ausschlag gaben, dann hätte Adenauer die Wiedervereinigung wohl selbst auf die Tagesordnung gesetzt. So aber bot nur die Ostpolitik der SPD einen Ansatz für Veränderungen, und daher habe ich dafür Wahlkampf gemacht, wie auch Günter Grass. Im Übrigen hielt und halte ich die SPD immer noch für eine Partei, der man mehr Sympathien entgegenbringen kann als anderen. Es kommt ja immer auf den Vergleich an. Die SPD war nicht zuletzt – neben den Kommunisten selbstverständlich – die einzige Partei in Deutschland, die nach 1945 ihren Namen nicht ändern musste. Alle anderen hatten den Makel der Hitler-Nähe und mussten sich umtaufen, damit das Volk nicht merkt, wen es wählt.

Es gibt ja einen Sozialdemokraten im aktuelle Kabarett, der Zeit Lebens in der SPD war und darunter, wofür sie heute steht bzw. was sie nicht mehr ist, in einer im Wortsinne erbarmungswürdigen Weise leidet – das ist Georg Schramms großartige Figur des Druckers August …
Hildebrandt:
Der lockt mir auch die Tränen heraus. Das ist eine so erschütternde Figur, deren Ansichten genau meine auch sind. Ich neige – wie August – zu tiefer Melancholie, wenn ich sehe, was die Sozialdemokraten so mit sich machen lassen, aber auch was manche in dieser Partei selbst so machen. Die jämmerliche Rolle der SPD etwa in Bayern ist mir schon relativ früh bewusst geworden, und deshalb habe ich den Genossen schon vor vielen Jahren ins Stammbuch geschrieben: Man kann nicht mit der Faust auf den Tisch hauen, wenn man die Finger überall drin hat. Und die hinreichend häufig geballte Faust, die vermisse ich bei der SPD bis heute. Das tut mit leid, und darunter leide ich. Wie August.

Immer wieder sind Kabarettisten gefragt worden, wie sie denn damit klarkämen, dass die per Spott entlarvte Clique der Mächtigen sich allenfalls ebenso amüsiert wie sonstiges Publikum, und dass Kabarettauftritte im Übrigen folgenlos blieben oder sogar eher ein systemstabilisierendes Ventil darstellten. Anders gefragt: Wie motiviert sich der Kabarettist, wenn er nichts bewirkt außer Lachen? Repetiert er allmorgendlich seinen Luther, den mit dem Apfelbäumchen?
Hildebrandt:
Das mit dem Luther ist nicht schlecht. Wenn man den in sich hat, muss man zwar aufpassen, dass man den Antisemiten nicht mit erwischt, aber dies vorausgeschickt halte ich den kämpferischen Luther als Vorbild für gut. Vieles, was ich sehe, nötigt mir die Verpflichtung auf, mich nicht gehen zu lassen – im Gegenteil, die, die sich engagieren, schreiben und so weiter, die müssten mehr werden. Da kann man doch nicht einen weniger machen, indem man keine Lust mehr hat. Aber, ich will ehrlich sein: Da gibt es auch etwas, das mir die Sache leicht macht – ich habe nach wie vor Spielfreude und führe mich gern auf.
Manchmal allerdings denke ich, man hat gar keine Chance. Man kann in die Leute hineinreden, ihnen die Wahrheit sagen, man hat sogar meist die Lacher auf seiner Seite. Aber dann stehen die Leute auf und wählen trotzdem falsch. Da komme ich gar nicht darüber hinweg, wenn Menschen das Fünkchen Intelligenz fehlt, das es braucht, nicht auch noch das eigene Unheil zu wählen.
Es fehlt allerdings auch die richtige linke Partei im Lande. Die heutige SPD ist es nicht, und die Linke ist zu belastet und zerstritten, um es sein zu können.

Sie werden oft und zu Recht als eine „moralische Instanz“ charakterisiert. Ist das eine Bürde angesichts gesellschaftlicher Verhältnisse, unter denen Moral im Alltag eine immer geringere Rolle zu spielen scheint und ein Berliner Zwölf-Tage-Senator, ohne dass ihm die politische Klasse in die Parade führe, behaupten darf, dass wir bei Wildwest landeten, „wenn wir bei Rechtsfragen die Moral einführen“?
Hildebrandt:
Also beim Begriff „moralische Instanz“, da schrecke ich auch zusammen, weil man da sofort an Moralin denkt und an grämliche Besserwisserei. Gutes Kabarett arbeitet mit den Mitteln von Loriot und Wilhelm Busch, ist subversiv, im Interesse der Sache auch mal intellektuell hinterlistig. Das passt nicht recht zu „moralischer Instanz“ – oder?

Mitte der 1980er Jahre haben Sie eine viel zitierte Definition formuliert, der zufolge Politik jener kleine Spielraum sei, den die Wirtschaft ihr lässt. Standen wir damals bildlich also schon vor einem Abgrund, so sind wir merkwürdigerweise ein Vierteljahrhundert später – wiederum bildlich – noch immer nicht in demselben gelandet. Ist´s das kreative Beharrungsvermögen des Kapitals, die Kollaborationsbereitschaft der Politik, das manipulierte Desinteresse der Massen – oder alles zusammen, was das bewirkt hat?
Hildebrandt:
Das muss man nicht auf Einzelaspekte herunterbrechen, weil der Kausalzusammenhang ganz einfach ist: Wo die größere Geldmenge ist, dort ist die größere Macht. Mir hat mal der wackere Gewerkschaftsmann Heinz Kluncker auf die Frage, wie lange die Gewerkschaften einen Generalstreik finanziell durchhalten könnten, geantwortet: „Ungefähr zwei bis drei Wochen.“ Und die Arbeitgeber? „Vier Jahre.“ Unter solchen Verhältnissen hat man nur Chancen, wenn man die Mehrheit überzeugt und die dann anders wählt. Andere Mittel hat die Demokratie nicht. Leute in diesem Sinne überzeugen kann zum Beispiel Lafontaine. Davon brauchte es viele, und die müssten am gleichen Strick ziehen.

Ein ob der Prägnanz einer Zustandsbeschreibung allein unsererseits massenhaft mündlich verbreitetes Aperçu von Ihnen lautet: „Mit zunehmendem Alter verdingst sich das Leben.“ Ist in Ihrer Wohnung eigentlich noch irgendwo Platz, um neue Merkzettel anzupinnen? Oder wie – zum Teufel – bekommen Sie alles nach wie vor so wunderbar für Ihre Programme und Bücher geordnet?
Hildebrandt:
Also, wenn der Wind kommt, wird’s gefährlich. Ansonsten gibt es Menschen, bei denen gibt es Orte, da liegen Dinge unordentlich herum, und das ist dann das System. Ich kenne in der Regel die Richtung auf meinem Schreibtisch, wo welcher Haufen – Rechnungen, Post und so weiter – zu suchen ist. Damit komme ich die meiste Zeit klar. Wenn das Chaos allerdings über mich hereinbricht und ich gar nicht mehr weiter weiß, dann kriege ich manchmal einen Wutanfall und dann fege ich alles in den Papierkorb. Anschließend kann ich nur lügen: „Hab’ ich nicht bekommen.“

Ein Kollege von uns hat einmal gesagt: „Viele Dinge erledigen sich durch konsequente Vernachlässigung.“
Hildebrandt:
Ein sehr schöner Satz. Wenn Sie mir von dem die Quelle schicken könnten …

Nach neun geschriebenen Büchern haben Sie ironisch festgestellt, dass Sie „immer dasselbe Buch schreiben“. Sitzen Sie am zehnten selben Buch?
Hildebrandt:
Noch nicht konkret. Aber alle meine Bücher haben ja mit meinem Leben zu tun, und da bin ich jetzt am Überlegen, ob mein derzeitiges vielleicht nicht mein einziges war. Ich könnte zum Beispiel H.P. Kerkeling folgen, der von sich sagt, er habe bereits dreimal gelebt. Ich könnte also etwa derjenige gewesen sein, der Heinrich dem Vierten, als er tagelang durch den Schnee um Canossa schlich, hin und wieder, wenn er vorbei kam, einen Tee gekocht hat, und dessen Leben – also das des Teekochers – könnte ich dann erzählen.

„Ich kann mir leisten aufzutreten, sofern noch Leute kommen“, haben Sie auf die Frage, wie lange Sie noch auf Bühnen gehen wollen, geantwortet. Das macht uns Hoffnung, doch noch irgendwann Karten für einen Ihrer Live-Abende ergattern zu können. Herr Hildebrandt, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

—–

Das Gespräch für Das Blättchen führten Heinz Jakubowski und Wolfgang Schwarz am 14. Januar 2012 vor einem Auftritt Dieter Hildebrandts im romantisch gelegenen, sehr schönen historischen Wirtshaus Moorlake an der Havel zwischen Berlin und Potsdam (www.moorlake.de), dessen Inhabern für das gastfreundliche Ambiente herzlich gedankt sei.
Joachim Donath hat beim Gespräch fotografiert (www.donath-photographie.de/bilder.php?lang=de&id=130#Leute).