von Heribert Prantl
Es ist so eine Sache mit dem Verfassungsschutz: Seine Arbeit wird ohnehin von vielen kritisch beäugt. Jetzt wurde bekannt, dass er Abgeordnete der Linken im Bundestag überwacht – von den Neonazi-Morden aber will er nichts mitbekommen haben. Wieder einmal beschäftigt sich ein Untersuchungsausschuss mit dem Inlands-Geheimdienst. Doch diesmal geht es um die Daseinsberechtigung des Verfassungsschutzes überhaupt und um die Frage: Ist er nur überflüssig – oder gefährlich?
Der Verfassungsschutz steht zur Verfassung in einem sonderbaren Verhältnis. Das Grundgesetz genießt Vertrauen, es wird geachtet, geschätzt, ja geliebt; die Grundrechte sind den Deutschen so lieb wie die Blumen in ihrem Vorgarten. Die Verfassung hat einen Platz im Herzen der Menschen. Vom Verfassungsschutz kann man das nicht sagen. Er wird nicht geliebt, nicht geschätzt, kaum geachtet, seine Arbeit wird mit Misstrauen beäugt.
Woran liegt es, dass der Verfassungsschutz den meisten Bürgern suspekt ist? An der Verfassung kann es nicht liegen. Es muss also an den Schützern liegen – und daran, dass mit dem Namen etwas nicht stimmt.
Verfassungsschutz: Das ist ein irreführender, ein falscher Name. Falschnamen gehören in die Welt der Geheimdienste. Und Verfassungsschutz ist der Falschname für den deutschen Inlands-Geheimdienst. Man tut damit so, als sei er so etwas Ähnliches wie das Verfassungsgericht. Das ist eine Anmaßung. Alljährlich präsentiert der Bundesinnenminister einen „Verfassungsschutzbericht“, und er tritt dabei auf, als verkünde er ein höchstrichterliches Urteil. Es handelt sich aber nur um die von ihm redigierten Tätigkeitsberichte des Inlandsgeheimdienstes, die man – wie man seit der neonazistischen Mordserie weiß – insoweit auch Untätigkeitsberichte nennen kann.
Der Verfassungsschutz ist kein Verfassungsorgan, sondern ein Behördenkonglomerat, das im Geheimen operiert, von der Regierungspolitik dirigiert wird und von der Justiz nicht kontrolliert werden darf – dessen Überwachungskompetenzen in den vergangenen zehn Jahren aber erheblich ausgeweitet worden sind. Das passt nicht zu der Offenheit, die eine Demokratie auszeichnen soll, und nicht zu der Rechtsstaatlichkeit, deren sich die Bundesrepublik rühmt.
Dafür passt das Agieren des Verfassungsschutzes zu den Vorurteilen, gegen die er sich vergeblich wehrt, weil er sie selber bestätigt: dass er auf dem linken Auge scharf-, aber auf dem rechten fehlsichtig sei. Jüngst ist öffentlich geworden, dass der Verfassungsschutz Abgeordnete der Linken im Bundestag überwacht. Wenige Wochen vorher waren die zehn Morde der Neonazis bekannt geworden, von denen der Verfassungsschutz nichts mitbekommen hat oder nichts mitbekommen haben will. Ein Untersuchungsausschuss des Bundestages, soeben zusammengetreten, soll klären, wie das geschehen konnte.
Es handelt sich um ein Ritual: Mehr als die Hälfte aller Untersuchungsausschüsse, die in der Bundesrepublik eingesetzt wurden, mussten sich mit Geheimdienstskandalen befassen. Diesmal ist es ein Skandal, der die Daseinsberechtigung des Verfassungschutzes insgesamt in Frage stellt.
Entweder er hat von den Neonazi-Morden nichts gewusst – dann ist er überflüssig. Oder er hat davon gewusst und nichts dagegen getan – dann ist er gefährlich. Der Untersuchungsausschuss steht vor einem Abgrund des Versagens, den er aber nicht ausleuchten kann, weil sich seine Zugriffsmöglichkeiten nur auf das Bundesamt für Verfassungschutz, nicht aber auf die 16 Landesämter beziehen.
Der Beginn der Arbeit des Untersuchungsausschusses fällt zusammen mit einem Jubiläum, das eine der Antworten darauf gibt, warum der Ruf des Verfassungsschutzes so schlecht ist. Vor vierzig Jahren, am 28. Januar 1972, veröffentlichte Bundeskanzler Willy Brandt zusammen mit den Ministerpräsidenten der Länder den „Radikalenerlass“; es handelte sich um „Grundsätze über die Mitgliedschaft von Beamten in extremen Organisationen“.
Aus der Grundidee, dass Leute wie der RAF-Terrorist Andreas Baader nicht Lehrer werden sollen, wurde eine automatische Anfrage der Behörden beim Verfassungsschutz zu jeder Person, die sich für den öffentlichen Dienst bewarb. Der Verfassungsschutz präparierte sich für diese Regelanfrage mit Zigtausenden „Dossiers“; er schickte seine Leute zu diesem Zweck in Veranstaltungen an den Unis.
Rolf Lamprecht, damals Karlsruher Korrespondent des Spiegel, erinnert sich mit grimmigem Spott so: „Manche dieser Horcher waren offenkundig intellektuell überfordert, Kritik an den Regierenden fiel bei ihnen stets unter die Kategorie ,staatsfeindliche Umtriebe’.“ Es war eine Gesinnungsschnüffelei sondergleichen, für die sich Brandt vier Jahre später genierte: „Ich habe mich geirrt.“ Aber dieser Irrtum galoppierte fast zwanzig Jahre lang wie verrückt durch Deutschland.
Als der Bund den Radikalenerlass außer Kraft setzte, praktizierten ihn die Länder weiter. Von einer „Hexenjagd auf junge Menschen“ sprach in Bayern Karl-Heinz Hiersemann, der Chef der SPD-Landtagsfraktion, und bat den Ministerpräsidenten Strauß händeringend und vergeblich darum, damit aufzuhören.
Was war passiert? Die Verfassungsschutzämter hatten auf der Basis des Radikalenerlasses einen gigantischen Apparat aufgebaut: Sie überprüften eineinhalb Millionen Menschen, mindestens 20.000 erniedrigende „Anhörungen“ fanden statt, tausenden jungen Leuten wurde der Eintritt in den öffentlichen Dienst verwehrt, betroffen waren Beamte jeden Ranges – Postboten, Löschmeister, vor allem aber junge Lehrer; für sie bedeutete eine Ablehnung Berufsverbot.
Wer sich mit ihnen in Zeitungsanzeigen solidarisierte, wurde selber verfolgt. Die absolute Zahl der Opfer war gar nicht so hoch – aber es entstand ein vergiftetes Klima. Der Begriff „Freiheitliche demokratische Grundordnung“ verkam zum Schimpfwort „FDGO“. Die Berufsverbote führten dazu, dass eine ganze Generation auf Distanz zum Staat ging; der Verfassungsschutz hatte daran wesentlichen Anteil.
Die Erinnerung an diese fatale Großschnüffelei wird nun bei den Überwachungsaktionen gegen Abgeordnete der Linken wieder wach. Diesmal sind es nicht Hunderttausende, über die Dossiers angelegt werden, sondern nur ein paar Dutzend. Aber die sind gewählte Parlamentarier: Diese Abgeordneten, die laut Grundgesetz „nur ihrem Gewissen unterworfen“ sein sollen, sind also, weil das Bundesinnenministerium das so angeordnet hat, auch demVerfassungsschutz unterworfen. Das steht nicht in der Verfassung, sondern auf der Agenda der CDU/CSU. Auf diese Weise wird die politische Befangenheit des Verfassungsschutzes deutlich.
Er hat aber nicht die Aufgabe, Regierungsparteien vor ihr unbequemen Abgeordneten und vor deren Wählern zu schützen; er ist kein Regierungsschutz, und er darf auch keine Zentralstelle zur geheimen Registrierung missliebiger politischer Kritik sein. Seine Aufgabe ist es, Gruppierungen zu beobachten, die ihre Politik nicht mit demokratischen Mitteln, sondern irregulär und gewaltsam durchsetzen wollen. Man muss die Frage stellen, ob dafür nicht der polizeiliche Staatsschutz ausreicht.
Ein Verfassungsschutz soll Schaden von der Verfassung abwenden und ihren Nutzen mehren; es darf nicht sein, dass es beim real existierenden Verfassungsschutz umgekehrt ist. Man wünscht sich einen Verfassungsschutz, der diesem Namen wirklich gerecht wird.
Übernahme aus Süddeutsche Zeitung vom 28.01.2012. Mit freundlicher Genehmigung des Autors.
Schlagwörter: Die Linke, Grundgesetz, Heribert Prantl, Radikalenerlass, Verfassungsschutz