15. Jahrgang | Nummer 1 | 9. Januar 2012

Am deutschen Wesen

von Heiner Flassbeck, Genf

Wenn jemand eine Entschei­dung trifft, sollte er auch dafür einstehen. Kompetenz und Haf­tung, hieß es in guten alten Zeiten, gehören zusammen. Das ist heute nicht mehr so, jedenfalls nicht überall und ins­besondere nicht in Europa. So fragt man sich, wer alles zurücktritt, wenn ein eu­ropäischer Gipfel im Dezember 2011 er­klärt, die monatelange Diskussion um ei­nen „Schuldenschnitt“ für Griechenland sei falsch gewesen, weil man damit die Märkte verunsichert habe.
An der gesamten Euromisere ist eben­falls eigentlich niemand schuld – oder? Zum zehnjährigen Jubiläum der physi­schen Einführung des Euro scheint es mir geboten, einige Dauerfalschmacher einmal beim Namen zu nennen, weil sonst die gemeinsame europäische Währung untergeht, und wir wissen im­mer noch nicht, warum.
Das Drama begann schon in den 90er Jahren damit, dass man eine neue Wäh­rung und eine europäische Zentralbank auf den Weg brachte, ohne auch nur ein­mal ernsthaft darüber zu reden, welche Art von Geldpolitik diese Zentralbank machen sollte. Wer wäre schon auf den seltsamen Gedanken gekommen, eine große geschlossene Volkswirtschaft wie die Eurozone brauche vielleicht eine an­dere Geldpolitik als eine relativ kleine offene Volkswirtschaft wie Deutschland? Nein, was gut für Deutschland war, musste auch gut für Europa sein, und die guten Volkswirte, die Deutschland in den Vorstand der Europäischen Zentral­bank (EZB) entsandte, sorgten dafür, dass das ordnungsgemäß umgesetzt wurde.
Dass dabei enorme Fehler gemacht wurden, hat in Deutschland fast nie­mand registriert. Die EZB hat gleich zweimal in den letzten drei Jahren zur Unzeit, nämlich kurz vor einem Abschwung, die Zinsen erhöht und dann diese Entscheidungen rasch wieder kassiert. Das zeugt von hoher Entschei­dungsinkompetenz und sollte eigentlich Haftung nach sich ziehen, aber davon ist nirgendwo die Rede, und keiner ist des­wegen zurückgetreten.
Ein wichtiger Fehler war auch, dass man den Monetarismus, den Deutsch­land nach dem Ende der beiden keynesianisch geprägten Nachkriegsdekaden Anfang der 70er Jahre übernommen hat­te, wegen des deutschen Einflusses selbst im neuen Jahrtausend als europäische Errungenschaft weiterleben ließ. Dass er dem deutschen Wirtschaftswunder den Garaus gemacht hatte und international nach einem nur kurzen Gastspiel längst ad acta gelegt war, scherte die deutschen Geldmengensoldaten namens Tietmeyer, Issing, Weber und Stark freilich nicht bei ihrer Verteidigung der Unabhängigkeit der Zentralbank als höchstes aller Güter.
Letztlich, und das war das Schlimms­te, wurde die deutsche Vorstellung von Arbeitsmarktflexibilität und vom Kampf der Nationen um internationale Markt­anteile auf die Verhältnisse innerhalb der Währungsunion und im Verhältnis der Währungsunion zum Rest der Welt eins zu eins übertragen. Dass man Län­der, die keine eigene Währung mehr ha­ben und mit denen man gemeinsam ein Inflationsziel festgelegt hat, nicht ein­fach durch Unterschreiten des Inflations­zieles an die Wand spielen kann, ohne schwerwiegende Verletzungen zu riskie­ren, wen kümmerte das schon? Auch die Tatsache, dass eine riesige Wirtschafts­region wie die Eurozone gegenüber dem Rest der Welt einfach zu wenige Gegner in der gleichen Gewichtsklasse hat, um mit einem Kampf der Nationen auf Dau­er erfolgreich sein zu können, war des Nachdenkens offenbar nicht wert.
Auch die mit dem Standortwettbe­werb eng verbundene Frage, ob ein Land mit offenen Grenzen in einer Währungs­union ohne schwerwiegende Folgen für die anderen eine Politik machen kann, bei der die eigene Bevölkerung inklusive der Unternehmen und des Staates zum Sparen angeregt wird, hat keinen deut­schen Finanzminister nach dem 11. März 1999 auch nur am Rande bewegt. Denn die einfache Frage, wer die deutschen Er­sparnisse von der Bank abholen und in­vestieren sollte, wenn im Inland alle spa­ren, haben sie sich erst gar nicht gestellt.
Jetzt, wo das gesamte Euroland mit dem Rücken zur Wand steht, rächt sich die deutsche Ignoranz. Aber nun ver­schreibt man der gesamten EWU das deutsche Wesen und schon ist scheinbar alles in Ordnung. So musste der Italiener Draghi im Dezember verkünden, alle müssten sparen und alle müssten über die Flexibilisierung ihrer Arbeitsmärkte „ihre Wettbewerbsfähigkeit verbessern“.
Anzunehmen, dass das so einfach wäre nach einem Jahr, in dem in der großen G-20-Gruppe der wichtigsten Län­der fast nichts anderes diskutiert wurde als die globalen Ungleichgewichte, ist ein schlechter Witz. Bei dieser Debatte der G 20 saß Deutschland mit China zu­sammen schon auf der Anklagebank, weil niemand sonst auf der Welt weiter­hin hohe Defizite im Außenhandel hin­nehmen will. Wie man zum Ergebnis ge­langen kann, das, was Deutschland zehn Jahre lang getan hat, könnten nun ge­trost auch die anderen in der Eurozone tun, ohne weltweit auf massiven Wider­stand zu stoßen, muss ein Rätsel bleiben.
Zudem fordert der Präsident der EZB zu einem glatten Verstoß auf gegen sei­nen ureigensten Auftrag, die Preisstabi­lität in Europa zu gewährleisten. Auch er leidet an schwerem Monetarismus. Es gibt genau einen stabilen empirischen Zusammenhang, der die Inflationsrate in Europa gut erklärt, der hat aber nichts mit Geld zu tun. Nur die Lohnstückkos­ten, der Abstand zwischen Nominallohn­steigerung und Produktivität, kann die Inflation befriedigend erklären. Wer aber alle auffordert, Deutschland in seiner Po­litik der weit unter dem Inflationsziel liegenden Lohnstückkostensteigerungen zu folgen, nimmt eine Deflation in Kauf und so den Verstoß gegen das Inflations­ziel von etwa zwei Prozent, das die EZB vor zehn Jahren beschlossen hat.
Rezession und Deflation ist das, was Europa nach den „historischen Beschlüs­sen“ von Anfang Dezember zu erwarten hat. Wer glaubt, das sei ohne gewaltige politische Verwerfungen und ohne Ge­fährdung der Demokratie in vielen Län­dern durchzuhalten, ist Illusionist.

Aus Wirtschaft und Markt 01-02 / 2012. Übernahme mit freundlicher Genehmigung des Autors und des Verlages.