von Heiner Flassbeck, Genf
Wenn jemand eine Entscheidung trifft, sollte er auch dafür einstehen. Kompetenz und Haftung, hieß es in guten alten Zeiten, gehören zusammen. Das ist heute nicht mehr so, jedenfalls nicht überall und insbesondere nicht in Europa. So fragt man sich, wer alles zurücktritt, wenn ein europäischer Gipfel im Dezember 2011 erklärt, die monatelange Diskussion um einen „Schuldenschnitt“ für Griechenland sei falsch gewesen, weil man damit die Märkte verunsichert habe.
An der gesamten Euromisere ist ebenfalls eigentlich niemand schuld – oder? Zum zehnjährigen Jubiläum der physischen Einführung des Euro scheint es mir geboten, einige Dauerfalschmacher einmal beim Namen zu nennen, weil sonst die gemeinsame europäische Währung untergeht, und wir wissen immer noch nicht, warum.
Das Drama begann schon in den 90er Jahren damit, dass man eine neue Währung und eine europäische Zentralbank auf den Weg brachte, ohne auch nur einmal ernsthaft darüber zu reden, welche Art von Geldpolitik diese Zentralbank machen sollte. Wer wäre schon auf den seltsamen Gedanken gekommen, eine große geschlossene Volkswirtschaft wie die Eurozone brauche vielleicht eine andere Geldpolitik als eine relativ kleine offene Volkswirtschaft wie Deutschland? Nein, was gut für Deutschland war, musste auch gut für Europa sein, und die guten Volkswirte, die Deutschland in den Vorstand der Europäischen Zentralbank (EZB) entsandte, sorgten dafür, dass das ordnungsgemäß umgesetzt wurde.
Dass dabei enorme Fehler gemacht wurden, hat in Deutschland fast niemand registriert. Die EZB hat gleich zweimal in den letzten drei Jahren zur Unzeit, nämlich kurz vor einem Abschwung, die Zinsen erhöht und dann diese Entscheidungen rasch wieder kassiert. Das zeugt von hoher Entscheidungsinkompetenz und sollte eigentlich Haftung nach sich ziehen, aber davon ist nirgendwo die Rede, und keiner ist deswegen zurückgetreten.
Ein wichtiger Fehler war auch, dass man den Monetarismus, den Deutschland nach dem Ende der beiden keynesianisch geprägten Nachkriegsdekaden Anfang der 70er Jahre übernommen hatte, wegen des deutschen Einflusses selbst im neuen Jahrtausend als europäische Errungenschaft weiterleben ließ. Dass er dem deutschen Wirtschaftswunder den Garaus gemacht hatte und international nach einem nur kurzen Gastspiel längst ad acta gelegt war, scherte die deutschen Geldmengensoldaten namens Tietmeyer, Issing, Weber und Stark freilich nicht bei ihrer Verteidigung der Unabhängigkeit der Zentralbank als höchstes aller Güter.
Letztlich, und das war das Schlimmste, wurde die deutsche Vorstellung von Arbeitsmarktflexibilität und vom Kampf der Nationen um internationale Marktanteile auf die Verhältnisse innerhalb der Währungsunion und im Verhältnis der Währungsunion zum Rest der Welt eins zu eins übertragen. Dass man Länder, die keine eigene Währung mehr haben und mit denen man gemeinsam ein Inflationsziel festgelegt hat, nicht einfach durch Unterschreiten des Inflationszieles an die Wand spielen kann, ohne schwerwiegende Verletzungen zu riskieren, wen kümmerte das schon? Auch die Tatsache, dass eine riesige Wirtschaftsregion wie die Eurozone gegenüber dem Rest der Welt einfach zu wenige Gegner in der gleichen Gewichtsklasse hat, um mit einem Kampf der Nationen auf Dauer erfolgreich sein zu können, war des Nachdenkens offenbar nicht wert.
Auch die mit dem Standortwettbewerb eng verbundene Frage, ob ein Land mit offenen Grenzen in einer Währungsunion ohne schwerwiegende Folgen für die anderen eine Politik machen kann, bei der die eigene Bevölkerung inklusive der Unternehmen und des Staates zum Sparen angeregt wird, hat keinen deutschen Finanzminister nach dem 11. März 1999 auch nur am Rande bewegt. Denn die einfache Frage, wer die deutschen Ersparnisse von der Bank abholen und investieren sollte, wenn im Inland alle sparen, haben sie sich erst gar nicht gestellt.
Jetzt, wo das gesamte Euroland mit dem Rücken zur Wand steht, rächt sich die deutsche Ignoranz. Aber nun verschreibt man der gesamten EWU das deutsche Wesen und schon ist scheinbar alles in Ordnung. So musste der Italiener Draghi im Dezember verkünden, alle müssten sparen und alle müssten über die Flexibilisierung ihrer Arbeitsmärkte „ihre Wettbewerbsfähigkeit verbessern“.
Anzunehmen, dass das so einfach wäre nach einem Jahr, in dem in der großen G-20-Gruppe der wichtigsten Länder fast nichts anderes diskutiert wurde als die globalen Ungleichgewichte, ist ein schlechter Witz. Bei dieser Debatte der G 20 saß Deutschland mit China zusammen schon auf der Anklagebank, weil niemand sonst auf der Welt weiterhin hohe Defizite im Außenhandel hinnehmen will. Wie man zum Ergebnis gelangen kann, das, was Deutschland zehn Jahre lang getan hat, könnten nun getrost auch die anderen in der Eurozone tun, ohne weltweit auf massiven Widerstand zu stoßen, muss ein Rätsel bleiben.
Zudem fordert der Präsident der EZB zu einem glatten Verstoß auf gegen seinen ureigensten Auftrag, die Preisstabilität in Europa zu gewährleisten. Auch er leidet an schwerem Monetarismus. Es gibt genau einen stabilen empirischen Zusammenhang, der die Inflationsrate in Europa gut erklärt, der hat aber nichts mit Geld zu tun. Nur die Lohnstückkosten, der Abstand zwischen Nominallohnsteigerung und Produktivität, kann die Inflation befriedigend erklären. Wer aber alle auffordert, Deutschland in seiner Politik der weit unter dem Inflationsziel liegenden Lohnstückkostensteigerungen zu folgen, nimmt eine Deflation in Kauf und so den Verstoß gegen das Inflationsziel von etwa zwei Prozent, das die EZB vor zehn Jahren beschlossen hat.
Rezession und Deflation ist das, was Europa nach den „historischen Beschlüssen“ von Anfang Dezember zu erwarten hat. Wer glaubt, das sei ohne gewaltige politische Verwerfungen und ohne Gefährdung der Demokratie in vielen Ländern durchzuhalten, ist Illusionist.
Aus Wirtschaft und Markt 01-02 / 2012. Übernahme mit freundlicher Genehmigung des Autors und des Verlages.
Schlagwörter: Deflation, Euro, EZB, Heiner Flassbeck, Inflation, Preisstabilität, Rezession, Währungsunion