von Wolfgang Brauer
Die DDR hat durchaus Seltsames hervorgebracht. So die Qualität der Beziehungen zwischen Schriftstellern und ihrem Lesepublikum, wie es die schreibenden Zeitgenossen Goethes mit ihrem Ideal einer Kunst-Welt nur erträumen konnten. Die Schriftsteller in der DDR (nicht alle) waren von allen anerkannte moralische Autoritäten. Auch von der Obrigkeit, die ihnen oft hofierte – was die meisten sich gern gefallen ließen – und ihnen dennoch gelegentlich wie in der ersten Stufe der peinlichen Befragungen bei Hexen- und Ketzerprozessen „die Werkzeuge zeigte“. Wen man nicht ernst nimmt, dem muss man allerdings nicht seine Grenzen zeigen.
In dieser vergangenen säkularisierten Gesellschaft waren die Autoren häufig Beichtväter und -mütter. Ich hoffe nur, dass wenigstens einige die vielen Leserbriefe, die an sie geschrieben wurden nicht weggeworfen haben. Da wurde – ebenso wie in vielen fast obligatorischen Diskussionen nach den diversen Lesungen – nicht nur Literarisches verhandelt. Das Wort der Autoren galt etwas. Die Protokoll-Bände der Schriftstellerkongresse des implodierten Landes wurden aufmerksamer gelesen als manches Parteitagsdokument. Zugegeben, selbst die miserabelsten Reden der erwähnten Kongresse waren in der Regel besser als die Parteitagsreden. Und die Leserinnen und Leser verfolgten mit gespannter Aufmerksamkeit die Leuchtsignale aus den Schreibstuben ihrer „Autorin“ oder ihres „Autoren“ – woran wird da gerade gearbeitet, wann wird das neue Buch erscheinen, wird es überhaupt erscheinen? Bei uns oder wieder nur im Westen bei Luchterhand oder Suhrkamp? Es ist doch aber eine Aufbau-Autorin!
Die Schriftstellerin, die mich mein ganzes geistiges Leben begleitete, deren Bücher von mir und meinen Generationsgefährten immer voller Sehnsucht erwartet wurden, die uns Anregerin und intellektueller Maßstab war, diese Autorin ist nicht mehr. Christa Wolf starb am 1. Dezember in Berlin. Viele, die nach dem Ende der DDR auch geistig andere Küsten suchten, meist nicht fanden und im zynischen Uferschlamm der Apologie einer Gesellschaft stecken blieben, die ihnen bei nüchterner Betrachtung so wesensfremd ist, wie ehemals die zutiefst verabscheute SED-Republik, werden es nicht mehr wahr haben wollen: Christa Wolf war auch ihnen, war uns Lehrerin. War Nachdenk-Lehrerin beim Versuchen des aufrechten Ganges durch die schier endlose und immer trockener werdende Ebene. „Kein Ort. Nirgends“ – dieser Selbstbefund richtete sich auch an uns. Auch wir, für die die Mauer schon immer stand, lebten unter dem „Geteilten Himmel“ – und wurden uns der Schizophrenie dieses Zustandes durch die Bücher der Christa Wolf bewusst. Wer diese 1963 erschienene Erzählung mit der gebotenen Aufmerksamkeit noch einmal liest, wird feststellen, dass die 36 Jahre andauernde Nichtbeantwortung der seinerzeit von der Autorin aufgeworfenen existenziellen Fragen einer der Gründe dafür war, weshalb meine Generation die Annahme ihres Erbes verweigerte und das Land wegwarf, bevor sie es in ihre Verantwortung nehmen konnte.
Christa Wolf hat sich dagegen verzweifelt gewehrt. Sie wollte noch am 4. November 1989 auf dem Berliner Alexanderplatz einen besseren, einen menschlicheren Sozialismus. Sie gehörte zu den Initiatorinnen der Bewegung „Für unser Land“ im Herbst 1989. Sie schrieb die Präambel eines der bemerkenswertesten Verfassungsentwürfe in der Geschichte der deutschen demokratischen Bewegungen, des Entwurfes einer neuen Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik vom April 1990. Ich glaube, dass es Christa Wolf durchaus bewusst war, dass die Tage ihres Landes, ihrer Republik gezählt waren. Sie gehörte zu denen, die der tragischen Illusion anhingen, man könne doch wenigstens den Versuch unternehmen, aus den guten Erfahrungen beider deutscher Nachkriegsstaaten ein gutes neues Gemeinsames zu schaffen. Desto bitterer die Erkenntnis, dass sie – ebenso wie viele andere bislang heftig umworbene DDR-Autoren – plötzlich kaum noch etwas galt im deutschen Literaturbetrieb, ja sich plötzlich Unterstellungen, Verleumdungen und Beschimpfungen übelster Art ausgesetzt sah. Unmittelbar nachdem sie lesen musste, wie sie selbst Jahrzehnte lang von engen Vertrauten bespitzelt und verleumdet worden war. Die Büchse der Pandora öffne man nicht ungestraft, fasste sie diesen unsäglichen, immer noch anhaltenden Vorgang angeblicher gesellschaftlicher „Katharsis“ in ihrem letzten großen Buch „Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud“ in ein nur scheinbar leicht dahingesagtes poetisches Bild.
Christa Wolf wusste um die grundsätzlichen psychologischen Verhaltensmuster von Menschen. Sie wusste, dass Geschichte nicht „abgehakt“, Vergangenheit nicht „bewältigt“ werden kann. Zur selben Zeit, in der linke französische Historiker ihren großen Entwurf der Mentalitätsgeschichte entwickelten, schrieb sie „Kindheitsmuster“. Prägende Muster, die von Generation zu Generation weitergegeben werden. Die zu ignorieren im wahrsten Sinne des Wortes mörderisch sein kann, wie es die deutsche Gesellschaft augenblicklich mit geradezu hilfloser Erschütterung registrieren muss. Sie wusste, dass diejenigen, die voller Leichtsinn mit dem „Geschenk“ der Pandora herumspielten und herumspielen, für die Geschichte nur Mittel vordergründiger politischer Nützlichkeit ist, von einer entsetzlichen Hybris geschüttelt sind. In jedem System. Sie wusste von der Strafe, die die Götter der Alten den Protagonisten der antiken Mythen dafür zukommen ließen: „Kassandra“ und „Medea“ heißen ihre Zeuginnen. Die Obrigkeiten der DDR wollten die warnenden Rufe nicht hören. Sie glichen darin der ignoranten Königsfamilie des Trojanerkönigs Priamos. Sie mussten sein Schicksal teilen. Erst fielen ihre Mauern, dann wurden die Paläste geplündert und ihr Reich zerschlagen. Von den gemeuchelten Untertanen berichten die Heldengesänge nicht. Ich denke, es wird die Zeit kommen, in der die Texte Christa Wolfs eine erschütternde Lebendigkeit zeigen werden.
Kassandra ging. Ihre Warnungen bleiben uns erhalten.
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