14. Jahrgang | Nummer 23 | 14. November 2011

Beutezug. Wladimir Putin im Visier des BND (I)

von Erich Schmidt-Eenboom

Eine allzu hohe Meinung von der Qualität des Bundesnachrichtendienstes haben die britischen Partnerdienste nicht, weder der Auslandsnachrichtendienst MI 6, noch der Inlandsnachrichtendienst MI 5. Längst vorbei sind die glorreichen Zeiten, als eine Außenstelle der Organisation Gehlen in Augsburg den Chefdolmetscher des sowjetischen Hochkommissars in Ost-Berlin, Wladimir S. Semjonow, als Agenten führte. Reinhard Gehlen war so stets vorab über die  Schachzüge der sowjetischen Deutschlandpolitik informiert. „Zu einem der wichtigsten Informanten Mitte der 50er Jahre zählte ferner der Chefdolmetscher der sowjetischen Botschaft in Ost-Berlin, der u.a. die vorbereiteten Originalunterlagen für die so genannte ‚Berliner Außenminister-Konferenz’ im Januar 1954 vorher beschaffen konnte“, formulierte eine BND-interne Übersicht aus dem Jahre 1983 über einige Erfolge der Organisation Gehlen und des BND.
Stella Rimington, von 1991 bis 1995 Chefin des MI 5 und anschließend Direktorin der Kaufhauskette Marks & Spencer, hat sich im Ruhestand auf das Schreiben von Kriminalromanen aus dem Geheimdienstmilieu verlegt. Der Bundesnachrichtendienst kommt bei ihr 2007 wenigstens literarisch zu großen Ehren, auf einem Feld sogar, das als die ganz Hohe Schule der Nachrichtendienste gilt, bei der Gegenspionage. In ihrem Thriller „Beutezug“ (Illegal actions) geht es um die Operationen der russischen Dienste gegen die zahlreichen Putin-kritischen Oligarchen, die sich in London niedergelassen haben. Vordergründig steht der milliardenschwere Kunstsammler Nikita Brunovsky im Visier des KGB-Nachfolgers SWR, wird vom MI 5 als gefährdet eingestuft und durch eine Agentin beschützt. Zum Höhepunkt des Krimis hin wird deutlich, wer die eigentliche Zielperson eines Moskauer Entführungskommandos ist: Brunovskys Konkurrent Grigor Morosow, der als ehemaliger KGB-Offizier die Seiten schon vor dem Ende des Kalten Krieges gewechselt hatte. Die langjährige Chefin des britischen Inlandsnachrichtendienstes lässt ihre Leser lange zappeln, bis sie am Ende ihres Thrillers die Katze aus dem Sack ließ: „Während seiner letzten Jahre beim KGB wurde Morosow von den Westdeutschen angeworben. Für den BND war er in Ostdeutschland ein sehr wichtiger Mann. Der KGB hatte ihn in Dresden stationiert. Einer seiner Kollegen dort hieß Wladimir Putin.“ Die brisante Information hatte der imaginäre Herr Beckendorf vom Verfassungsschutz den Kollegen an der Themse verschafft. Zwanzig Seiten später rechtfertigt sich Morosow vor seinen Entführern, die den Verräter vor ein Moskauer Tribunal schleppen wollen, mit seinem Motiv: Der BND habe ihm eine komplizierte Operation für seinen Sohn bezahlt, die er sich von seinem Gehalt nie hätte leisten können.
Dass die Leiterin des BND-Partnerdienstes mit dem Pullacher Decknamen „Aster“ nach zehn Jahren im Ruhestand aus dem Nähkästchen plaudert und dabei Dienstgeheimnisse preisgibt, ist wenig wahrscheinlich, obwohl sie dem MI 5 Glasnost und Perestroika verordnet hatte. Hat die britische Gegenspionagespezialistin dem BND also den Erfolg nur angedichtet? Nein, sie hat die Geschichte geschickt verfremdet: Die Innenquelle des BND in der Dresdener KGB-Residentur war kein Mann, kein Russe und kein KGB-Offizier. Sie war eine Frau, eine Ostdeutsche und sie war eine Dolmetscherin.
Die Außenstelle des sowjetischen Dienstes in Dresden war – verglichen mit der ostdeutschen KGB-Zentrale in Berlin-Karlshorst mit etwa 1.000 Mitarbeitern – sehr klein. Sieben bis acht sowjetische Geheimdienstler hielten, geführt von einem Obersten, von der Jugendstilvilla in der Angelikastrasse 4 aus Verbindung zur Bezirksverwaltung des MfS im gegenüberliegenden Waldschlösschen. Nach zehn Dienstjahren in der KGB-Zentrale in Leningrad war der damals 33jährige Wladimir Putin 1985 in diese Außenstelle versetzt worden. Formal war der Hauptmann (und spätere Major) zuständig für das deutsch-sowjetische Freundschaftshaus in Leipzig. Doch das war nur die Tarnung für eine Handvoll geheimdienstlicher Aufgaben.
Wie die aussahen, rückte im Oktober 2006 – anlässlich eines Besuch von Putin zu den „Petersberger Gesprächen“ an seiner alten Wirkungsstätte – noch einmal in den Blickpunkt der Öffentlichkeit. Typisch für das Stochern im Nebel war da ein Bericht der Süddeutschen Zeitung (SZ): „Was er in der Zwischenzeit in Dresden tat, ist Gegenstand von allerlei Spekulationen gewesen, Putin selbst hat sich nur spärlich dazu geäußert: Ob er etwa den angesehenen DDR-Wissenschaftler Manfred von Ardenne ausspionierte oder gar die Operation ‚Lutsch’ (zu deutsch: Strahl) leitete, innerhalb der die KGB-Männer ihre ostdeutschen Stasi-Genossen überprüften – nichts Genaues ist bekannt.“ Selbst im Ungenauen lag die SZ gänzlich daneben. Die Operation „Strahl“ richtete sich nicht gegen Angehörige des MfS, sondern für den Fall eines Zusammenbruchs der DDR auf Sympathisanten von Michail Gorbatschow in der Spitze der SED wie den Dresdner Parteichef Hans Modrow. Dass ein Major kaum mit der Leitung eines der wichtigsten KGB-Projekte in der krisengeschüttelten DDR betraut sein konnte, war eigentlich evident.
Auch die Frankfurter Allgemeine Zeitung berichtete, über die Dresdner Zeit des ehemaligen KGB-Stabsoffiziers gäbe es nur „einige wilde Spekulationen“. Ins Reich der Fabel allerdings verwies die FAZ die Mutmaßungen um eine Anbindung Putins an den Militärnachrichtendienst GRU und eine Rolle in der Operation „Strahl“. Sie berief sich dabei auf einen ehemaligen KGB-Obersten, der 2004 erklärt hatte, Putin „sei zwar ein intelligenter, überaus fleißiger Mitarbeiter des Geheimdiensts gewesen, jedoch gewiss kein ‚Super-Spion’“.
Die Washington Post hatte sich mehr als sechs Jahre zuvor intensiv mit Putins Aufgabenprofil auseinandergesetzt und nicht wie die deutschen Medien bei dem schweigsamen Ex-KGBler selbst nachgefragt, sondern bei Mitarbeitern des ost- und des westdeutschen Nachrichtendienstes.
Putin warb demnach Ostdeutsche als Funkagenten an, die von den Russen ausgebildet und einmal im Quartal mit Sonderaufgaben betraut werden sollten. Dabei geriet er mit dem MfS, das ihm im Februar 1988 eine bronzene Verdienstmedaille verliehen hatte, über Kreuz. Am 29. März 1989 schrieb der Leiter der MfS-Bezirksverwaltung Dresden, Generalmajor Horst Bohm, einen empörten Brief an Putins Vorgesetzten General Wladimir Schirokow. Er beharrte darauf, dass es undenkbar sei, dass der KGB ostdeutsche Reservisten zu Funkagenten ausbilde, zumal einer von ihnen bereits vom MfS rekrutiert worden sei, von dem der große Bruder unbedingt die Hände lassen müsse. Der Zorn des MfS-Generals muss umso größer gewesen sein, als es um die Anwerbung von Perspektivagenten für den Fall des Zusammenbruchs der DDR ging, die dem KGB aus einem wiedervereinigten Deutschland berichten sollten. Nachdem Bohm Selbstmord begangen hatte, erklärte sein früherer Mitarbeiter Horst Jemlich der Washington Post in einem kurzen Telefoninterview, dass der KGB vor allem an der Beschaffung westlicher Technologie interessiert gewesen sei.
Dass Putin versucht hatte, Funkagenten zu rekrutieren, bestätigten der amerikanischen Zeitung  ebenfalls westdeutsche Geheimdienstspezialisten. Aber auch die sahen seine Kernaufgabe anderswo. Unter der Legende von Geschäftsreisen nahm er Verbindung zu Agenten auf, die im Westen stationiert waren. Und diese KGB-Spione arbeiteten auf zwei militärischen Feldern: Zum einen spähten sie westliche Rüstungstechnologie aus, zum anderen waren sie auf NATO-Geheimnisse angesetzt.
Wie Putins Arbeit konkret aussah, hat 2003 der KGB-Offizier Wladimir Ussolzew in seinem Buch „Soslushhivez“ (Dienstkollege) beschrieben, der sich mit ihm in Dresden ein Büro geteilt hatte. Laut Ussolzew war der KGB stark an Informationen über die amerikanischen Special Forces in Bad Tölz interessiert und über die Aktivitäten auf den großen Truppenübungsplätzen Wildflecken und Munsterlager. Die Dritte Abteilung (Illegale Aufklärung) habe seinen Kollegen darauf angesetzt. Es sei jedoch nicht gelungen, wirklich erfolgreiche Nahbeobachter an diesen Objekten zu gewinnen. Erfolgreicher sei der Versuch verlaufen, unter ausreisewilligen DDR-Bürgern Quellen zu gewinnen, die zwar mit der DDR unzufrieden waren, jedoch Sympathien für Michail Gorbatschow hegten. Doch die Anzahl der KGB-Agenten in Westdeutschland sei kaum größer als zwanzig gewesen, darunter – so Ussolzew – auch Doppelagenten des BND und des Verfassungsschutzes.
Die zweite Hauptaufgabe Putins lag laut Ussolzew in der Anwerbung von Spionen unter den ausländischen Studenten an der Technischen Universität Dresden. Ins Visier genommen worden seien Söhne und Töchter aus der politischen Elite ihrer Heimatländer, von denen sich der KGB nach ihrer Rückkehr wichtige Informationen versprochen habe. Dazu setzte Putin zwei der vier ostdeutschen KGB-Agenten in Dresden ein, die auf dem Papier Angehörige der Dresdner Kriminalpolizei waren. Einer von ihnen, der nach dem Fall der Mauer verhaftet worden sei, habe unter den Studenten aus Lateinamerika Quellen rekrutiert, die extrem wertvolle Informationen über Menschen im Umfeld des kubanischen Staatschefs Fidel Castro gebracht hätten.

Wird fortgesetzt.