14. Jahrgang | Nummer 21 | 17. Oktober 2011

Mörderische Rendite

von Sarcasticus

Etwa 900 Millionen Menschen auf der Welt leiden an Hunger, also jeder siebte der gegenwärtigen Erdbevölkerung. Alle 3,6 Sekunden verläuft dieses Leiden für einen Menschen tödlich; 75 Prozent dieser Toten sind Kinder. Und angesichts weltweit steigender Lebensmittelpreise – laut Food-Price-Index der UN-Organisation für Ernährung und Landwirtschaft betrug der durchschnittliche Preisauftrieb binnen eines Jahres 39 Prozent und bei Getreide gar 71 Prozent – verschlimmern sich diese Zustände. Nach Angaben der Weltbank sind allein seit Juni 2010 weitere 44 Millionen Menschen neu unter die Armutsgrenze gefallen – wegen der gestiegenen Preise für Ernährung.
Die Deutsche Bank, so war kürzlich einem Bericht des Spiegel zu entnehmen, erwartet aus ihrem stark wachsenden Investment in die Rohstoffmärkte, eingeschlossen solche Produkte wie Getreide und Schweinehälften, eine Eigenkapitalrendite von 40 Prozent, „soviel wie nirgendwo sonst“. Und die Investmentbank Goldman Sachs verdiente bereits 2009 mit Rohstoffspekulationen mehr als fünf Milliarden Dollar – über ein Drittel ihres Nettogewinns.
Man muss kein orthodoxer Linker sein, um zwischen diesen beiden Polen einen Zusammenhang zu vermuten, obwohl die üblicherweise – nicht zuletzt von der Finanzindustrie – immer wieder ins Feld geführten Gründe für die Preisexplosion bei Nahrungsmitteln in ganz andere Richtungen weisen:
– da wachse die Weltbevölkerung schneller als die Nahrungsmittelproduktion;
– da führe der Klimawandel zu Wetterkapriolen und Unwetterkatastrophen und in der Folge zu Ernteausfällen;
– da okkupiere die Agro-Treibstoffproduktion zuviel Ackerland und drängt den Nahrungsmittelanbau zurück;
– da sorge die Lebensmittelnachfrage von immer wohlhabenderen Schwellenländern wie China und Indien für Engpässe auf den Weltmärkten, die auf die Preise drücken, und
– da trieben steigende Preise für Energie auch die Kosten für die Lebensmittelproduktion in die Höhe.
Das sind nicht alle üblichen Verdächtigen, aber die wichtigsten. Sie tragen zwar zum Teil zur schwierigen Ernährungslage vor allem in der Dritten Welt bei, aber Hauptverursacher des desaströsen Anstiegs der Lebensmittelpreise in den vergangenen Jahren sind sie nicht – wie ein Blick auf die Details zeigt:
– Nach übereinstimmender Auffassung von Experten unterschiedlicher Couleur reicht die Weltlebensmittelproduktion auch gegenwärtig mehr als aus, um die Weltbevölkerung hinreichend zu ernähren. Daran ändern auch regionale Ernteausfälle durch klimatische Faktoren nichts.
– Auf Agro-Treibstoffe entfallen gerade einmal sechs Prozent der weltweiten Getreideernte, und laut Einschätzung der Weltbank sind die Auswirkungen dieses Anteils auf die Entwicklung der Lebensmittelpreise deutlich schwächer als allgemein angenommen.
– Länder wie China und Indien decken ihren Mehrverbrauch nach Angaben des Washingtoner IFPRI-Instituts bisher ohne signifikante Zukäufe im Ausland.
– Noch am ehesten könnte man sich ein Durchschlagen der steigenden Energiepreise auf die Produktionskosten für Lebensmittel vorstellen. Doch auch hier Fehlanzeige. Eine jüngst veröffentlichte Studie, die auf Anregung des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz vom Institut für Marktanalyse und Agrarhandelspolitik in Braunschweig erstellt wurde, kam zu dem Fazit, dass „der Energiekostenanteil am Endprodukt Lebensmittel marginal ist und die Preiseffekte daher in der Regel begrenzt sind“.
Worin liegt aber dann die treibende, die entscheidende Ursache für die im globalen Kontext exorbitant gestiegenen Preise für Lebensmittel? Die UN-Konferenz für Handel und Entwicklung (UNCTAD) hat die Quelle des Übels in einer ebenfalls erst kürzlich publizierten Studie auf den Punkt gebracht – in der Metamorphose des internationalen Lebensmittelmarktes zu einem Finanzmarkt! Und da wären wir wieder bei den Renditeerwartungen der Deutschen Bank, die hier allerdings zugleich als Synonym für die gesamte internationale Phalanx der Investmentbanken steht. Die haben in den vergangenen Jahren – auf der Suche nach immer neuen Marktsegmenten, um aus Geld mittels Spekulation, ohne jeden Bezug zu realen Wert schöpfenden volkswirtschaftlichen Prozessen und zu keinem anderen Zweck als weiterer Spekulation immer mehr Geld zu generieren – die Lebensmittelbasis der Menschheit zum Spekulationsobjekt gemacht und damit zur Geisel ihrer Profitgier. Befeuert wurde diese Entwicklung durch die Finanzkrisen seit 2000, durch die traditionellere Spekulationsobjekte (Aktien, Immobilien) auf Jahre hinaus diskreditiert wurden, und durch die Weigerung der USA und Großbritanniens, finanzielle Massenvernichtungswaffen zu verbieten, sowie durch die inkonsequente Haltung der anderen G-8-Staaten in dieser Frage, inklusive der Bundesrepublik,. Als finanzielle Massenvernichtungswaffen hat Warren Buffet bekanntlich hochriskante Finanzprodukte mit dem Potenzial zur Auslösung globaler Crashs bezeichnet.
Nun also – Lebensmittel. Natürlich heißt das nicht, dass sich die Investmenttäter von Deutsche Bank & Co. nun Schweinehälften überwerfen oder Getreidesäcke auf den feinen Zwirn laden, um damit auf den Markt zu gehen, um Handel zu treiben. Das aberwitzige Prinzip, nach dem diese Geschäfte vielmehr ablaufen, hat Joseph Vogel in seinem viel gelobten Essay „Das Gespenst des Kapitals“ so beschrieben: „Jemand, der eine Ware nicht hat, sie weder erwartet noch haben will, verkauft diese Ware an jemanden, der diese Ware ebenso wenig erwartet oder haben will und sie auch tatsächlich nicht bekommt.“ Das Ganze läuft also auf einer rein virtuellen Ebene ab, hat aber verheerende Folgen für die tatsächlichen Lebensmittelpreise, für den internationalen Handel mit physischen Lebensmitteln und für den Hunger in der Welt. Frederik Kaufmann resümierte in einem Beitrag in Harper’s Magazine, den er „Die Lebensmittel-Blase: Wie die Wallstreet Millionen hungern ließ und davonkam“ betitelte: „Der Boom neuer Spekulationsmöglichkeiten auf den weltweiten Märkten für Getreide, Speiseöl und Vieh hat einen Teufelskreis geschaffen […] Je stärker die Rohstoffpreise für Lebensmittel steigen, desto mehr Geld fließt hinein, desto höher steigen die schon hohen Preise.“
Die Orte, an denen all dies stattfindet, sind übriges gar nicht virtuell, und dort geht es hoch her. Einen Stimmungsbericht lieferte unter der Überschrift „Die Ware Hunger“ vor einigen Wochen der Spiegel: „Der Saal, in dem das Essen der Welt verteilt wird, wirkt alles andere als appetitlich. Papierschnipsel und Pappbecher übersäen das Handelsparkett des Chicago Board of Trade. Schwitzende Männer in quietschgelben, leuchtend blauen oder knallroten Jäckchen trampeln achtlos darauf herum, fuchteln mit den Händen, schreien und balgen sich um Terminkontrakte für Sojabohnen, Schweinehälften oder Weizen. Hier, im Handelsraum der größten Warenterminbörse der Welt, wird über die Preise von Lebensmitteln entschieden – und damit über das Schicksal von Millionen Menschen. Der Hunger des Planeten wird hier organisiert. Und der Reichtum von Einzelnen.“
Selbst die halbherzigsten Versuche mancher Politiker, Staaten oder Staatengruppen und internationalen Organisationen, diesen Menschen verachtenden Auswüchsen der internationalen Finanzindustrie Zügel anzulegen oder gar einen Riegel vorzuschieben, sind bisher gescheitert, und es gibt keine ernsthaften Indizien, dass sich dies in absehbarer Zeit ändern könnte.

P.S.: Da gab es vor einiger Zeit eine Karikatur, auf der ein telefonierender Mann zu sehen war, der sinngemäß sagte: „Hallo, spreche ich mit Al-Quaida? Haben Sie eigentlich auch Raketen, die bis […] reichen?“