von Jörn Schütrumpf
„Sowjetrußland! Vom Wachhaus weht die rote Fahne. Wieder hält der Zug ganz kurz. Ein Mann springt auf das Trittbrett des ersten Waggons. Winkt. Die Maschine zieht an.Wo sind die Soldaten? Die Drahtverhaue? Die Handgranaten?
Im Vorübergleiten siehst du einen einzigen Mann vor dem Wachthaus stehen: dunkel, lang. Unendlich lang in dem bis an die Absätze reichenden Soldatenmantel.
Den dreifachen Drahtverhauen der Polen gegenüber steht an der Grenze bei Negoreloje – ein langer Rotarmist. Einer! Allein.“ So jubelte F. C. Weiskopf, ein deutscher Kommunist aus der Tschechoslowakei, als er 1926 die schikanösen Kontrollen auf polnischer Seite überstanden hatte. „Umsteigen ins 21. Jahrhundert“ lautete der Titel des Bändchens, das 1927 erschien.
In seinem nächsten Buch über die Sowjetunion, „Der Staat ohne Arbeitslose“ (1931) findet sich eine solche Passage nicht; Stalin hatte gesiegt. Nun unterschied sich das Grenzregime auf sowjetischer Seite nicht mehr von dem in Piłsudskis Polen. (Parenthese I: Fünfzig Jahre später, 1979, erlebten wir an der sowjetisch-polnischen Grenze bei Przemyśl, wo normalerweise kein internationales Publikum hinkam, die gleichen Szenen wie Weiskopf 1926 – allerdings in umgekehrter Besetzung: hie grenzenlose Willkür, dort eine zur Schau getragene Laissez-faire. Auf polnischer Erde hatten wir das Gefühl, endlich wieder in Europa zu sein. Das war ein Jahr vor Solidarność!)
Im Sommer 1950 erhielt Walter Ulbricht Post aus dem Berliner Stadtteil Karlshorst. Absender war die Sowjetische Kontrollkommission in Deutschland, die eigentliche Regierung der DDR. Stalins Abgesandte waren ernsthaft verärgert. In vollem Vertrauen in die deutschen Genossen hatten sie in den ersten Monaten nach der Gründung des zweiten deutschen Staates am 7. Oktober 1949 die Zügel etwas lockerer gelassen, dann aber einsehen müssen: Richtig Stalinismus konnten ihre Statthalter noch nicht. Diese Deutschen glaubten doch allen Ernstes, dass sie sich an ihren Grenzen verhalten könnten wie im – Sozialismus. (Auch ansonsten waren sie unbotmäßig: zweifellos dumm, als sie – sehr zum Ärger der Besatzungsmacht – die Reste der Berliner Stadtschlosses sprengten; zu selbstbewusst, als sie sich weigerten, den Paragraphen 218 wieder einzuführen, den sie nach den Massenvergewaltigungen deutscher Frauen durch Rotarmisten suspendiert hatten. Die Zerstörung der Schlossruine konnte die Besatzungsmacht nicht rückgängig machen, aber dafür den Wiederaufbau des restlichen Forum Fridericianum verordnen – eine zweifellos kulturvolle Entscheidung; der Paragraph 218 wurde dafür um so brutaler durchgedrückt: Die deutsche Frau wurde zum zweiten Mal Beute – wenn auch dieses Mal die Befriedigung auf sowjetischer Seite nicht physisch ausfiel.)
Der Skandale an den DDR-Grenzen waren viele: Die ostdeutschen Statthalter hatten zu irgendwelchen deutsch-deutschen Treffen Tausende Westdeutsche vorbei an den sowjetischen Wachen über die „grüne Grenze“ geschleust, überhaupt ihren ganzen Grenzverkehr mit ihren westdeutschen Genossen „illegal“, also hinter dem Rücken der Besatzungsmacht, abgewickelt.
Noch böser stand es um die Ostgrenze zu Polen; dort war es in den Grenzstädten Görlitz und Forst, was schon schlimm genug war, nicht nur zu staatlich organisierten Festen, sondern sogar zu regelrechten Verbrüderungen gekommen. Welch ein Fauxpas. Die Sowjetunion achtete auf ihre „Bruderländer“.
Also erhielten die deutschen Genossen helfende Hinweise: Schluss mit dem Unfug! Das Letzte, was Stalins Sowjetunion brauchen konnte, war eine Annäherung der Ostblockstaaten auf menschlicher Ebene. Um ein Reich zu beherrschen, lautete nicht nur für Großbritannien – in Nachfolge Roms – die Maxime: Divede et impera. (Parenthese II: Als ich bei nämlicher Reise 1979 in einem kleinen Städtchen bei Czernowitz dem Vernehmer des KGB auf die Frage, wie wir denn hierhin gekommen seien, antwortete: „Ich habe auf dem Leipziger Hauptbahnhof Fahrkarten gekauft“, war es regelrecht aus ihm herausgeplatzt: „Ich dachte, in Deutschland herrscht Ordnung!“ Nicht gestopfte Löcher waren auch den sowjetischen Poststalinisten ein Graus – das internationale Durchreisevisum eröffnete eines, das selbst sie nicht verstopfen konnten.)
Aber das allein waren nicht die Präliminarien des Mauerbaus. Auf die Blockade der Berliner Westsektoren 1948/49 hatte der Westen mit einer Blockade des Eisenbahn- und Schiffsverkehrs geantwortet; die sowjetische Zone stand still, denn alle Züge, ob zwischen Magdeburg und Frankfurt/Oder, ob zwischen Ludwigslust und Plauen, mussten durch die Westsektoren Berlins – an der Spandauer Schleuse stauten sich die Schiffe, verdarben die Lebensmittel.
Die seriöse Geschichtsschreibung räumt unterdessen ein, dass die Blockade keine Blockade gegen die Bevölkerung dieser Sektoren war; ohne die individuelle, vom sowjetischen Gegner ausdrücklich ermöglichte Versorgung im Osten wären die Westberliner verhungert und erfroren. Die Westsektoren waren nicht für den Individualverkehr, jedoch für den Warentransport aus den Westzonen Deutschlands blockiert – schlimm genug. Letzten Endes war die „Luftbrücke“ ein Fake, aber ein guter Fake – mit dem Stalin nicht gerechnet hatte. Nach den Vergewaltigungen 1945, durch die er die erste Schlacht im Kalten Krieg – dem Krieg um die Köpfe – schon verloren hatte, ehe er begonnen hatte, verlor er mit der Blockade die zweite Schlacht. (Parenthese III: Mein Vater schmuggelte in dieser Zeit in einem unbeladenen LKW ständig amerikanische Seidenstrümpfe und – Dollar, die er in Hamburg für 17 Westmark kaufte und in den Berliner Westsektoren für 27 Westmark verkaufte; der offizielle Kurs von 1 Dollar zu 4,20 Westmark setzte sich erst viel später durch.)
Als Stalin im Sommer 1949 endlich einlenkte und so seine deutsche Zone vorm wirtschaftlichen Kollaps bewahrte sowie den Westsektoren einen weiteren furchtbaren Winter ersparte, blieb ein Trauma – auf beiden Seiten. Im Osten begannen die Planungen, jedoch vorerst nicht für einen Mauerbau.
Es ging darum: Nie wieder sollte der Westen die Chance erhalten, den Verkehr zu stören. Im Nordwesten wurde der Sacrow-Paretzer Kanal so verlegt, dass er nicht mehr die Stadt tangierte (1953 gab es für kurze Zeit den Plan, ihn in Walter-Ulbricht-Kanal umzubenennen); rund um Berlin wurden für die S-Bahn ein Außenring gezogen und für den Güterverkehr ein zweites Gleis verlegt; 1951 waren die Vorbereitungsarbeiten beendet, um die Strom- und Wasserversorgung Westberlins jederzeit unterbrechen zu können; 1952 wurden die Telefonverbindungen in den Westen der Stadt bis auf wenige Leitungen gekappt.
Waren die ersten drei Maßnahmen ausschließlich defensiv motiviert – natürlich erleichterten sie schließlich den Mauerbau, der am 13. August 1961 realisiert wurde (auch wenn es anfangs gar keine Mauer war) – zielte die letzte Maßnahme schon darauf, die Bevölkerung diesseits und jenseits der Demarkationslinie zu trennen.
Denn in Moskau hatte sich die Strategie gedreht: Nachdem der Westen – auf Druck Konrad Adenauers Stalins Angebot vom März 1952 abgelehnt hatte, Deutschland zu neutralisieren und wiederzuvereinen, stellte sich Stalin auf einen dritten Weltkrieg ein. Nun sollte die DDR vollständig in den Ostblock einbezogen werden und eine mächtige Rüstungsindustrie aufbauen – eine verschleierte Wiederaufrüstung lief seit der Schaffung der Volkspolizei-Bereitschaften 1948 ohnehin schon.
Als Ende Mai 1952 der Bundestag der Schaffung einer neuen deutschen Armee zustimmte, der Bundeswehr, nahm der Osten diesen Schritt zum Anlass, die innerdeutsche Grenze abzuriegeln und unliebsame Menschen aus dem Fünf-Kilometer-Grenzstreifen auszusiedeln; nur die Grenze zu den Berliner Westsektoren blieb offen – vorerst. Stalins Tod (5. März 1953) und der 17. Juni machten die sowjetischen Pläne jedoch zunichte, auch diese Grenze zu schließen. An den Grenzen zu Polen und der Tschechoslowakei hingegen herrschte ein Zustand, den man in Moskau für „Bruderstaaten“ als „normal“ und wünschenswert empfand: Sie waren geschlossen und wurden bewacht; nur kümmerte sich niemand darum.
Die Geschichte mit Westberlin war dem neuen starken Mann in Moskau, Nikita Chruschtschow, zu heikel; ihm war klar, welchen Imageschaden eine Abriegelung der Stadt bedeuten würde. Doch Ulbricht blieb der gelehrige Schüler Stalins und verfolgte die Planungen weiter. 1958 wurde zur Umfahrung der Westsektoren die S-Bahn-Verbindung zwischen Pankow und der Schönhauser Allee fertiggestellt (ab 14. August 1961 wurde sie befahren). Doch noch blieb Chruschtschow standhaft, ließ sich von Ulbricht jedoch zu einem Ultimatum drängen, das er aber letzten Endes verstreichen ließ.
1961 ging nichts mehr – nun motivierte nicht mehr das stalinistische Staats- und Grenzverständnis das Handeln. Jetzt war es pure Not, die Chruschtschow zum Einlenken zwang: Die DDR stand kurz vor dem Zusammenbruch; fast alle, die fliehen konnten, dachten über die Emigration in den Westen via Westberlin nach, viele flohen. Auf einer Sitzung der Ostblockchefs in Moskau (3.–5. August 1961) fiel die Entscheidung. Damit verlor Moskau auch die dritte Schlacht im Kalten Krieg. Der „Antifaschistische Schutzwall“ wurde gebaut; ungeklärt ist bis heute die Frage: gegen welchen Faschismus eigentlich?
Schlagwörter: Berlin, Faschismus, Jörn Schütrumpf, Nikita Chruschtschow, Sowjetunion, Walter Ulbricht