von Wolfgang Schwarz
Hätte mit Trotzki anstelle von Stalin an der Spitze der Sowjetunion nach Lenins Tod die Geschichte des 20. Jahrhunderts einen anderen Verlauf und Ausgang genommen? Der jüngst erschienene voluminöse Roman des kubanischen Schriftstellers Leonardo Padura, „Der Mann, der Hunde liebte“, bietet eine faszinierende Lektüre – nicht nur, aber auch zu dieser Fragestellung.
Lesern in Deutschland ist Padura bislang vor allem durch seine gesellschaftskritische Krimi-Reihe Havanna Quartett bekannt. Zum Anliegen seines neuen Buches – kein Krimi, wohl aber ein zeitgeschichtlicher Thriller – sagt Padura in einer Nachbemerkung: „Ich wollte die Geschichte des Mordes an Trotzki dazu benutzen, über die Pervertierung der großen Utopie des 20. Jahrhunderts nachzudenken …“ Herausgekommen ist ein Roman, der drei Lebensgeschichten miteinander verküpft:
– die Lew Trotzkis – vor allem seiner letzten Jahre von der Vertreibung aus der Sowjetunion 1929 bis zu seiner Ermordung 1940;
– die seines vom stalinschen Geheimdienst gedungenen Mörders, des Spaniers Ramón Mercader – des Mannes, der Hunde liebte –, sowie
– die des Ich-Erzählers, eines Intellektuellen, im Kuba des ausgehenden 20. Jahrhunderts.
Den roter Faden des Romans jedoch bildet ein ebenso faktenreiches wie filigranes Psychogramm jener Gewaltherrschaft der Bolschewiki, später der KPdSU, die im stalinschen Terror zwar kulminierte, die aber das Fundament der sowjetischen Gesellschaft nahezu vom Anbeginn ihrer Existenz an und fast bis zu ihrem Untergang war. Zum historischen Scheidepunkt lässt Padura Trotzki reflektieren: „Hätten die Bolschewiki im März 1921 freie Wahlen zugelassen, sie hätten wahrscheinlich die Macht verloren. In der marxistischen Theorie … war undenkbar, dass die Kommunisten, wären sie erst einmal an der Macht, die Unterstützung der Arbeiter verlieren könnten. Zum ersten Mal seit dem Sieg der Oktoberrevolution hätten sie sich fragen müssen …, ob es richtig war, den Sozialismus gegen den Willen der Mehrheit durchzusetzen … Die Alternative war dramatisch und ausweglos: dem Volk die freie Willensäußerung zu erlauben, war nicht möglich, denn das hätte den revolutionären Prozess verzögern oder sogar umkehren können. Doch die Unterdrückung dieses Willens entzog der bolschewistiscchen Regierung ihre Rechtmäßigkeit. Wenn die Massen aufhörten zu glauben, war es nötig, sie mit Gewalt zum Glauben zu zwingen. Also wendeten sie Gewalt an.“ Das erste Mal massiv bei der Niederschlagung des Kronstädter Matrosenaufstandes in eben jenem Jahr 1921.
Eine Schlüsselrolle bei der weiteren Entwicklung kam zweifellos den Moskauer Prozessen von 1936 bis 1938 zu. Durch diese monströsen Farcen entledigte sich Stalin mittels abstruser Verschwörungs- und Verratsvorwürfe eines großen Teils der Leninschen alten Garde – überwiegend durch Todesurteile, zum Teil auch durch Gefängnisstrafen und spätere Ermordung. Zur endgültigen Zementierung seiner Macht ließ Stalin parallel dazu Hunderttausende, überwiegend allenfalls potenziell oppostionelle Kader aus allen Bereichen des Partei- und Staatsapparates sowie der Gesellschaft und fast das gesamten Führungskorps der Roten Armee liquidieren.
Im Hinblick auf den ersten Moskauer Prozess gegen Sinowjew, Kamenjew und andere sowie deren anschließende Füsilierung unterstellt Padura Trotzki die Gewissheit, „dass Stalin mit der Entscheidung, mehrere Männer, die für den Sieg des Bolschewismus gekämpft hatten, erschießen zu lassen, die letzten Reste der Seele der Revolution vergiftet hatte und man nur noch dasitzen und abwarten konnte, bis ihr Tod eintreten würde, morgen, in zehn oder zwanzig Jahren“. Es hat schließlich noch 55 Jahre gedauert, aber dass die Weichen dafür Mitte der 30er Jahre bereits gestellt waren, dürfte im historischen Rückblick schwerlich zu bezweifeln sein. Denn bereits zu jenem Zeitpunkt hatte sich die Sowjetunion in ein „Reich verwandelt …, in dem die Angst regierte“, wie sich Trotzki bei Padura bewusst wird – eine Angst, die – wenn über die Jahrzehnte auch mit oszillierender Intensität – bis zum Erscheinen Gorbatschows, also bis Mitte der 80er Jahre, das gesellschaftliche Leben in der Sowjetunion prägte. Nachzulesen etwa in Daniil Granins Ende der 90er Jahre erschienenen Erinnerungen „Das Jahrhundert der Angst“. Diese Angst war keine Kollateralerscheinung sondern eine konstituierende Säule des sowjetischen Systems wie auch aller anderen gesellschaftlichen Klone sowjetischer Prägung in den Ländern des real existierenden Sozialismus – systematisch herbeigeführt und jahrzehntelang immer wieder neu geschürt. Dem – in der Realität und im Roman –Entdecker und Führungsoffizier Mercaders, Leonid Eitingon, legt Padura die Worte in den Mund: „Ohne Angst kann man ein Land nicht regieren und in die Zukunft führen.“ Dafür allerdings, dass man es durch Instrumentierung von Angst auf Dauer erst recht nicht kann, hat das unrühmliche Ende der realsozialistischen Staaten den Beleg geliefert!
Dass die Geschichte anders verlaufen wäre, wenn Sinowjew und Kamenjew sich nach Lenins Tod statt mit dem von ihnen sträflich unterschätzten Stalin mit Trotzki verbündet und diesem zur Nachfolge an der Spitze der Macht verholfen hätten – davon ist Trotzki bei Padura überzeugt. Ob die Geschichte damit allerdings besser verlaufen wäre? Auch Trotzki scheute nicht davor zurück, über Leichen – Schuldiger wie Unschuldiger – zu gehen, wenn es seiner Auffassung nach der Sache diente; er folgte der Maxime, „dass das Leben von einem, von zehn, hundert, ja tausend Menschen vernichtet werden kann und sogar muss, wenn der gesellschaftliche Strudel es verlangt, um seine alles radikal verändernden Ziele zu erreichen; das persönliche Opfer ist das Brennholz auf dem Scheiterhaufen der Geschichte“. Trotzki war neben Lenin der rigoroseste Verfechter des roten Terrors während der Bürgerkriegszeit und erinnert sich im Roman „an jene heldenhaften Zeiten, als Lenin und er Felix Dserschinski die Zügel einer revolutionären Repressionsmaschinerie übergeben hatten, um ohne Gesetz und Gnade eine rote Schreckensherrschaft zu installieren“. Trotzki war – mit ausdrücklicher Billigung bzw. im Auftrag Lenins – der Totengräber des Kronstädter Aufstandes. Und Trotzki war auch der Verkünder der permanenten Revolution, inklusive ihres gewaltsamen Exports über die Landesgrenzen hinaus. Trotzki statt Stalin – das wäre auf die Alternative hinausgelaufen, den Teufel mit Beelzebub zu verhindern.
Paduras Nachdenken über die Pervertierung der großen Utopie des 20. Jahrhunderts lässt im Hinblick auf diese mindestens drei Möglichkeiten offen: Entweder auf den Kommunismus als gesellschaftliche Utopie zu verzichten oder Elemente dieser Utopie mit der heutigen, auf Privateigentum beruhenden marktwirtschaftlichen Ordnung zu verquicken, um diese zu humanisieren und zukunftsfähig zu machen, oder nach gänzlich anderen Wegen zur Realisierung der Utopie zu suchen, als dies im 20. Jahrhundert der Fall war. Dabei sollte das historische Fazit im Auge behalten werden, das Padura Trotzki in Gedanken ziehen lässt: „… wenn, wie viele angesichts der unbestreitbaren Tatsachen sagten, die Arbeiterklasse ihre Unfähigkeit, sich selbst zu regieren, bewiesen hatte, dann musste man akzeptieren, dass die marxistische Auffassung von der Gesellschaft und vom Sozialismus falsch war. Und diese Möglichkeit stellte ihn vor die schreckliche Frage: War der Marxismus möglicherweise nichts als eine Ideologie unter vielen, eine Form des falschen Bewusstseins, das die unterdrückten Klassen und ihre Parteien glauben machte, für ihre eigenen Ziele zu kämpfen, während sie in Wirklichkeit die Interessen einer neuen herrschenden Klasse durchsetzten? … Stalins Triumph und seine Herrschaft wären folglich der Sieg der Realität über die philosophische Vision, ein unvermeidbarer Akt historischer Stagnation. Viele, auch er selbst, mussten anerkennen, dass der Stalinismus seine Wurzeln weder in der Rückständigkeit Russlands noch in der feindlichen imperialistischen Umgebung hatte, wie oft behauptet wurde, sondern in der Unfähigkeit des Proletariats, sich in eine herrschende Klasse zu verwandeln.“ Bei Padura fragt sich Trotzki später folgerichtig, „ob denn alle großen Träume dazu verurteilt seien, pervertiert zu werden und zu scheitern“.
Leonardo Padura: Der Mann, der Hunde liebte, Unionsverlag, Zürich 2011, 731 S., 28,90 Euro
P.S.: Eine interessante Parallellektüre bieten die Memoiren des operativen Leiters der Mordaktion gegen Trotzki und direkten Vorgesetzten von L. Eitingon, Pawel A. Sudoplatow, der in Paduras Roman ebenfalls eine Rolle spielt. Siehe P.A. Sudoplatow / A. Sudoplatow, Der Handlanger der Macht. Enthüllungen eines KGB-Generals, ECON Verlag, Düsseldorf 1994.
Schlagwörter: Kommunismus, Kuba, Leonardo Padura, Ramon Mercader, Stalin, Trotzki