von Peter Linke, Moskau
Zehn Jahre Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ) … Es war ein ungewöhnlicher Jubiläumsgipfel, zu dem Präsident Nursultan Nasarbajew Mitte Juni in Kasachstans nagelneue Hauptstadt Astana geladen hatte: Wenig Pomp, noch weniger Nabelschau, dafür ein dichtes Bouquet innovativer Ideen und Initiativen.
Bereits mit seiner Eröffnungsrede machte Nasarbajew seinem Ruf als eurasischer Visionär alle Ehre. Einer knappen Bestandsaufnahme folgte ein ausführlicher Blick auf die kommenden zehn Jahre. „Fünf gute Dinge“ seien es, auf die besonderes Augenmerk gelegt werden müsse: 1. (und ganz offensichtlich unter dem Eindruck der Ereignisse in Nordafrika und Nahost) Einberufung eines Rates zur Regulierung territorialer und regionaler Konflikte (wobei sich zum Kampf gegen Terrorismus, Extremismus und Drogenhandel die Abwehr von „Cyberattacken“ gesellte); 2. Schaffung eines einheitlichen Transport- und Energieraumes, befördert durch ein Komitee für infrastrukturelle Integration; 3. Suche nach neuen multilateralen Mechanismen wirtschaftlicher Zusammenarbeit, darunter ein Komitee für Wasser und Nahrungsmittel sowie ein Entwicklungsfond zur Finanzierung gemeinsamer Projekte und Innovationen; 4. Formierung eines Rates für Katastrophenschutz; 5. Etablierung eines einheitlichen Prognostikzentrums zwecks Erarbeitung zweier Megaprognosen: SOZ 2030 und SOZ 2050.
Der amtierende SOZ-Präsident hat damit noch einmal klargestellt: will die Organisation ihren zwanzigsten Jahrestag erleben, muss sie ihre Agenda um wichtige Themen jenseits klassischer Sicherheits- und Wirtschaftsfragen ergänzen sowie insgesamt multilateraler agieren…
Bewegung auch in Sachen Mitgliedschaft. So wurde sich auf die beschleunigte Erarbeitung eines entsprechenden Aufnahmemechanismus geeinigt. Und Bewerber gibt es viele; die größten Chancen räumen diverse Analysten der Mongolei, aber auch Indien ein.
Die Zusammenarbeit mit Afghanistan soll unbedingt vertieft werden, auch wenn in Astana Hamid Karzais Bitte um einen Beobachterstatus nicht entsprochen wurde. Gleichwohl nutzte der afghanische Präsident seinen Aufenthalt in der kasachstanischen Hauptstadt, um dem Westen gegenüber schwere Vorwürfe zu erheben. Mit ihrem unüberlegten Vorgehen, so Karzai, riskiere die westliche Allianz, zu einer „Okkupationsmacht“ zu werden…
Ebenfalls heftige Attacken gegen den Erzfeind ritt (erwartungsgemäß) Irans Präsident Mahmud Ahmadinedschad. Die Anderen ließen ihn gewähren… und nutzten die SOZ einmal mehr als wichtigen Kommunikationskanal mit Teheran.
Wer nun aber meint, nach dem Gipfel von Astana beginne der beschwingte Abstieg ins Tal allgemeiner Glückseligkeit, der hat vom eurasischen Relief wenig Ahnung.
Den Überdruck im Kessel der beiden SOZ-Lokomotiven Russland und China konnte auch der alte Politschamane Nasarbajew nicht bannen. Ursache der russisch-chinesischen Frontstellung ist und bleibt die ungebremste wirtschaftliche Expansion Pekings in Zentralasien. Keine zwei Jahre ist es her, als auf dem 8. SOZ-Gipfel im russischen Jekaterinenburg Präsident Dmitrij Medwedjew die Abkehr vom US-Dollar und die Stärkung der nationalen Währungen im wirtschaftlichen Miteinander forderte. Auch Peking klatschte damals ob dieses russischen Vorstoßes heftig Beifall. Allerdings nur mit einer Hand. Mit der anderen eröffnete es flugs eine Kreditlinie in Höhe von 10 Milliarden US-Dollar, die von vielen SOZ-Mitgliedern, allen voran Kasachstan, fleißig in Anspruch genommen wurde. Eine Tatsache, auf die Chinas Staatsoberhaupt Hu Jintao in Astana mehrfach genüsslich verwies. Mit gutem Grund, dürfte diese Kreditwalze auch die letzen Sperrkreuze gegen Pekings ultimativen Siegeszug entlang der guten alten Seidenstraße platt gemacht haben.
Und während Chinas Kapital marschiert, versucht sich Moskau reflexartig an symmetrischen Antworten: So gab Präsident Medwedjew in Astana den Wirtschaftsweisen, schwadronierte über „Roadmaps“ und „Venturefonds“ zur Finanzierung „wirtschaftlicher und technischer Großprojekte“, während andere hochrangige Vertreter der russischen Delegation mit der Idee einer SOZ-Vollmitgliedschaft Indiens als Gegengewicht zur wachsenden regionalpolitischen Dominanz Pekings hausieren gingen…
Angesichts der realen Kräfteverhältnisse ein läppisches Unterfangen. Asymmetrische Antworten der einzig sinnvolle Ausweg. Will meinen: Weniger Wirtschaftsblabla, dafür mehr reale Soft Power (Kultur, Bildung, Sprache). Kein direkter geoökonomischer Schlagabtausch, wie er sich insbesondere im russisch-chinesischen Gezerre um die so genannte SOZ-Entwicklungsbank abzeichnet. Kein wahnwitziger Versuch, latente Großmächte wie Indien gegen Peking in Stellung zu bringen (was keineswegs bedeutet, Delhis Wunsch nach Vollmitgliedschaft nicht zu entsprechen). Vor allem jedoch größere Sensibilität gegenüber den Sorgen und Nöten, aber auch versteckten Potentialen und Talenten „kleinerer“ SOZ-Mitglieder.
So scheint Moskau vollkommen entgangen zu sein, dass wachsende Unzufriedenheit nicht nur mit dem Westen, sondern auch mit dem großen Nachbarn im Norden Astana zunehmend in die Arme Pekings treibt. Nicht von ungefähr priesen just am Vorabend des SOZ-Jubiläumsgipfels die Staatsoberhäupter Kasachstans und Chinas ihr bilaterales Verhältnis als „strategische Partnerschaft“. Entsprechende offizielle Dokumente freilich lesen sich nicht nur auf den ersten Blick wie chinesische Schatzkarten mit vielen Kreuzen, gleichmäßig verteilt über Kasachstans materielle und mentale Landschaften…
Zweifelsohne wird all dies die innerkasachstanische Debatte über Absichten und Ziele Chinas in der Region weiter befeuern. Dabei ähnelt diese Debatte heute schon einem Nachtflug ohne Radar: Während die einen Peking als Retter in der Not feiern, sprechen andere von „feindlicher Übernahme“. Eine Wahrnehmungsdiskrepanz, dem auf beiden Seiten fundamentale Wissensdefizite zugrunde liegen. „Wir können Chinas Expansion nicht aufhalten“, gibt Konstantin Syrojeschkin, einer der profundesten China-Beobachter Zentralasiens, zu bedenken. „Aber wir sollten endlich anfangen, uns für China zu interessieren, zu begreifen versuchen, wie das Reich der Mitte tickt. Nur so werden wir letztlich in der Lage sein, unsere Interessen gegenüber Peking präzis zu formulieren und entsprechend zu agieren…“
Nach Meinung Syrojeschkins und anderer kann ein intensiver kasachstanisch-russischer Dialog diesbezüglich von einigem Nutzen sein. Allerdings müsse ein solcher über die Benennung strategischer Kooperationsfelder (von Migration bis Baikonur) hinausgehen. Wichtig wäre die gemeinsame Ausprägung einer fundierten China-Expertise als zentrales Mittel gegen die fortgesetzte Idealisierung – Dämonisierung Pekings in beiden Ländern. Nur so könne letztlich ein belastbares trilaterales Beziehungsgeflecht Peking-Astana-Moskau geknüpft werden, wovon auch und vor allem die Zukunft der Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit abhänge…
Vielleicht hält Kasachstan wirklich den Schlüssel für eine langfristige Entkrampfung des russisch-chinesischen Verhältnisses in seinen Händen. Auf alle Fälle jedoch hat die nun zu Ende gegangene SOZ-Präsidentschaft Astanas erheblich dazu beigetragen, die Organisation inhaltlich und institutionell zu konsolidieren und damit den Anspruch führender „Schanghaier“ auf globale Mitsprache größeren Nachdruck zu verleihen.
Über die letzten zwölf Monate ist endgültig klar geworden, dass die SOZ über mehr als zwei Kräftezentren verfügt. Je schneller Moskau und Peking dies akzeptieren und entsprechende Schlussfolgerungen ziehen, umso erheblicher die Chance einer nachhaltigen geopolitischen Dimensionierung der Organisation.
Inzwischen hat Kasachstan den Staffelstab an China weitergereicht, das ihn bis Mitte 2012 behalten wird. Reichen zwei Jahre, die Welt zu erschüttern? Es wäre zu hoffen und zu wünschen.
Fortsetzung folgt.
Schlagwörter: Afghanistan, China, Indien, Iran, Kasachstan, Peter Linke, Russland, Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit