14. Jahrgang | Nummer 13 | 27. Juni 2011

China rüstet auf

von Andreas Seifert

Als 1998 die Ukraine einen unfertigen Flugzeugträger über eine dubiose Firma in Macao an die Volksrepublik China verkaufte, schloss sich eine von Gerüchten und Vermutungen durchzogene Debatte über die Ziele dieses Kaufes an. Die Varyag, letztes Schiff der Admiral-Kuznetsov-Class, mit 67.000 Tonnen deutlich kleiner als die amerikanischen Nimitz-Class-Träger, lag zu diesem Zeitpunkt bereits sechs Jahre halb fertig in der Werft. China, so hieß es damals, habe mit den 20 Millionen US-Dollar mehr oder minder den Schrottwert bezahlt. Die Varyag – inzwischen nach einem Admiral aus der Ming-Dynastie in Shi Lang – umgetauft war für die Beobachter zu diesem Zeitpunkt ein weiterer Baustein im Bestreben Chinas, einen eigenen Flugzeugträger zu besitzen.
Die Marine der Volksbefreiungsarmee (VBA) war bisher nicht sonderlich freigiebig mit Informationen, was diesen Träger oder generell ein Trägerprogramm betrifft, ganz zu schweigen von dem dahinter stehenden Interesse. Anfang April 2011 hat die staatliche Nachrichtenagentur Xinhua überraschend Fotos der Shi Lang veröffentlicht, die sie in einem nahezu einsatzreifen Zustand zeigen. Und schon ein paar Wochen später wurde mit der J-15 das dazu passende Flugzeug präsentiert. Die Botschaft: Schon bald wird ein chinesischer Träger über die Meere fahren und dafür sorgen, dass die Karten im Pazifik neu gemischt werden.
Seit der Veröffentlichung der Shi Lang-Bilder ist zumindest für die US-amerikanischen Thinktanks der „lang entbehrte“ Beleg für die aggressiven Bemühungen Chinas erbracht, die Vorherrschaft der USA im Pazifik zu brechen. Andere Belege sind die Testflüge des mit Stealth-Technik ausgestatteten J-20 Jagdflugzeugs oder die Weiterentwicklung der DF-21 zur Anti-Schiffsrakete, die schnell als Carrier-Killer betitelt wurde.
Militärtechnisch gesehen hinkt China den USA und anderen Hochtechnologieländern noch hinterher, doch hat sich der Abstand merklich verkleinert. Insgesamt waren die zwölf Jahre, die seit dem Kauf der Varyag verstrichen sind, eine Periode beispielloser chinesischer Marineaufrüstung: Neue Zerstörer, Schnellboote und Landungsboote ersetzten nicht nur altes Material, sie schufen neue Möglichkeiten jenseits der Küstenverteidigung. Jedes neue Schiff erschien dabei wie eine Überraschung, da eine ausreichende Kommunikation seitens der chinesischen Regierung unterblieb. Zum Beispiel erschienen zeitnah zu den Fotos der Shi Lang 2011 Bilder eines weiteren fast fertig gestellten Landungsbootes vom Typ 071. Unter dem Eindruck der Einsatzreife der Shi Lang wurde dieses Schiff als Bestandteil einer zukünftigen Carriergroup interpretiert. Dabei ist es nicht einmal das erste seiner Klasse: So wurde die baugleiche Kunlunshan schon 2007 in Dienst gestellt und war bereits im Einsatz vor Somalia. Die Aufregung besteht eher darin, dass sich die chinesische Marineführung über die Zielgröße der Marine des Landes ausschweigt und dieses Feld damit Spekulationen preisgibt. In der Tat sind Schiffe wie die Kunlunshan wesentlich wichtiger für die Einsatzbreite der Marine als das Vorhandensein eines einzigen Flugzeugträgers.
In anderen Bereichen der chinesischen Armee waren ebenfalls Veränderungen zu beobachten. Die Wehrreform hat zum Beispiel nicht nur zu einer beispiellosen Reduktion der Truppen geführt, sondern auch zu einer enormen „Kampfkraftsteigerung“. Für mehr echte Transparenz bei diesen Veränderungen sieht man in Beijing allerdings nach wie vor keinen Bedarf.
Das Weißbuch der chinesischen Verteidigungspolitik (China‘s National Defense in 2010) gibt das Eigenbild der chinesischen Regierung am treffendsten wieder. China sei demnach die friedliche Macht, die einen Platz in einer multipolaren Welt suche und sich keinem Dialog über militärische Angelegenheiten verschließen werde. China baue Truppen an den Grenzen ab, entwickele Partnerschaften und schließe sich UN-Einsätzen an. Technologische Weiterentwicklungen seien ausschließlich im Rahmen einer defensiven Landesverteidigung zu verstehen.
Kurzum: Friedlicher als China geht kaum. Richtig daran ist, dass China seine vorhergehende Zurückhaltung, was Kontakte zu den Streitkräften anderer Länder anbetrifft, zusehends ablegt. Man engagiert sich etwa in gemeinsamen Anti-Terror-Übungen mit Russland. hat Und jüngst wurden sogar Übungen mit den US-amerikanischen Verbänden im Nahen Osten angeregt – ein Zeichen, dass die VBA von der eigenen Leistungsfähigkeit überzeugt ist. Chinas Engagement im UN-Einsatz vor der Küste Somalias und am Golf von Aden ist ebenfalls in dieser Richtung hin zu betrachten. Die Volksrepublik ist inzwischen einer der größeren Truppensteller für UN-Einsätze und unter den ständigen Mitgliedern des UN-Sicherheitsrates sogar der größte. Umgekehrt beteiligt sich China nicht bedingungslos an jeder multilateralen Aktion – weder politisch, noch militärisch. Chinesische Ablehnung äußert sich im Sicherheitsrat in solchen Fällen in Stimmenthaltung als Ausdruck des (noch vorhandenen) unbedingten Willen, ja nicht als aggressive (Militär-)Macht wahrgenommen zu werden.
Aufrüstungsbemühungen in China (und Indien) leiteten in Ost- und Südostasien eine Welle von ähnlich gelagerten Bestrebungen ein. Mit seinen nach wie vor überwiegend undurchsichtigen Aktivitäten und einer öffentlichen Debatte, die vor allem durch martialische Sprache geprägt ist, trägt China in der Konsequenz zur Destabilisierung in dieser Region bei. Auch Chinas Auftreten gegenüber Vietnam ist derzeit kaum positiv zu bewerten – dieser seit Jahren schwelende Konflikt scheint sich wieder einmal zu verschärfen. Es gibt allerdings auch andere, deeskalatorische Aspekte in der chinesichen Außenpolitik wie die Bemühungen um einen regionalen Austausch (zum Beispiel gegenüber Japan oder das Verhältnis zwischen Nord- und Süd-Korea betreffend) um wirtschaftliche Integration in Richtung Zentralasien und um die Pflege des zarten Pflänzchens der chinesisch-indischer Beziehungen.
In all diesen Beziehungsgeflechten ist keine der beteiligten Seiten allerdings der „Friedensengel“, den man sich erhoffte, und die gegenseitige Wahrnehmung wird zugleich weiter als Vorwand genommen, die eigene Aufrüstung voran zu treiben. Bei aller „Sorge“ um den „Weltfrieden“ wird dies die europäischen Waffenproduzenten freuen. Die Region ist ein interessanter Waffenmarkt geworden, und auch wenn man vorsichtig sein sollte, ein Wettrüsten herbeizureden, so ist die Zunahme von Rüstungen in einer Region mit vielfältigen Konflikten kein positives Zeichen. Chinas regionaler Aufstieg und seine zunehmenden militärischen Möglichkeiten erfordern, das Gleichgewicht im westlichen Pazifik und Asien neu auszubalancieren.
Die kontinuierliche Aufrüstung in China und das – insbesondere von amerikanischer Seite – ebenso kontinuierliche Beschwören einer sich daraus ableitenden Gefahr für den (Welt-)Frieden hat aber noch einen anderen Aspekt, der mit einiger Wahrscheinlichkeit der dominante werden wird: Integration. Interpretiert man nämlich die Bereitschaft der chinesischen Führung zu (ein klein wenig) Transparenz im Bereich des Militärs und die Beteiligung chinesischer Truppen an UN-Einsätzen sowie sonstigen bilateralen Aktionen nicht ausschließlich als den Versuch, den Military-Build-Up gegenüber den USA zu kaschieren, sondern als chinesisches Bestreben, den weltweiten Einsatz von Militär jenseits einer USA-Fixierung zu beeinflussen, so kann mittelfristig mit einer proaktiveren Politik der Chinesen bei internationalen Konflikten gerechnet werden. Für einige Beobachter ist dies das zwansläufige Ergebnis der wirtschaftlichen Entwicklung Chinas.
Es kann die Prognose gewagt werden, dass Chinas wachsende militärische Mobilität, die aus seiner wirtschaftlichen Mobilität resultiert, letztlich toleriert werden wird, auch von den USA. China nimmt immer mehr Abstand von seiner bisherigen Position, dass „Nicht-Eingreifen“ und Beharren auf „nationaler Souveränität“ die besten Optionen sind und nähert sich damit dem Konsens westlicher Industriestaaten an, der Interventionen (aus welchen Gründen auch immer) positiv gegenüber steht.