von Peter Linke, Moskau
Wer meint, der postsowjetische Raum sei geopolitisch ein gewaltiges schwarzes Loch, eine Zone aberwitziger Anomalien, sollte einen zweiten Blick riskieren: In den Weiten Eurasiens tummelt sich inzwischen eine Vielzahl transregionaler Organisationen: von der so genannten GUAM (gegründet 1997 durch Georgien, die Ukraine, Aserbaidschan und Moldowa unter aktiver Mithilfe Washingtons) über die Organisation des Vertrages über kollektive Sicherheit ODKB (ein 2002 auf Initiative Moskaus aus der Taufe gehobener militärischer Beistandspakt, dem neben Russland Armenien, Belarus, Kasachstan, Kirgisien und Tadschikistan angehören) bis hin zur Eurasischen Wirtschaftsgemeinschaft (EwrAsES), deren Gründungsvertrag 2000 im kasachstanischen Astana von Belarus, Kasachstan, Kirgisien, Russland und Tadschikistan unterzeichnet wurde.
Die geostrategisch und geokulturell interessanteste Struktur ist und bleibt jedoch die Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ). Vorläufer der SOZ war die so genannte Schanghaier Fünfergruppe, deren Mitglieder China, Russland, Kasachstan, Kirgisien und Tadschikistan sich Mitte der neunziger Jahre in mehreren Abkommen zu „militärischer Vertrauensbildung und gegenseitiger Streitkräftereduzierung im grenznahen Raum“ verpflichtet hatten. Nach dem Beitritt Usbekistans konstituierte man sich 2001 zur SOZ. Hauptanliegen der neuen Organisation wurde „der gemeinsame Kampf gegen Terrorismus, Separatismus und Extremismus, die Förderung wirtschaftlicher, wissenschaftlicher und kultureller Zusammenarbeit zwischen den Teilnehmerstaaten, die Gewährleistung von Frieden, Sicherheit und Stabilität in der Region sowie die Etablierung einer neuen, demokratischen und gerechten Weltordnung.“ 2005 gewährte die Organisation Indien, Pakistan, dem Iran und der Mongolei den Status von „Beobachtern“, wodurch sich ihr geopolitischer Spielraum um ein Vielfaches erweiterte. Zu den „Beobachtern“ gesellten sich 2009 die „Dialogpartner“ Belarus und Sri Lanka. Afghanistan, seit 2005 über eine so genannte Kontaktgruppe mit der SOZ verbunden, bemüht sich derzeit merklich, als „Beobachter“ anerkannt zu werden.
Sollte sich die SOZ dazu durchringen und darüber hinaus die Weichen für eine Vollmitgliedschaft Indiens stellen (entsprechende Gerüchte halten sich hartnäckig), könnte die in Peking ansässige Organisation durchaus zur Wegbereiterin einer innovativen transeurasischen Sicherheits- und Kooperationskultur werden, die das Zeug hätte, überkommenen geopolitischen Machtstrukturen wirksam Paroli zu bieten. Nicht umsonst scharrt Washington inzwischen nervös mit den Hufen, möchte (im Gegensatz zur EU!) lieber heute als morgen mit der SOZ in einen „partnerschaftlichen Dialog“ treten (nachdem es sich jahrelang über die „widersprüchlichste Organisation der Gegenwart“ lustig gemacht hat…). Befürworter eines solchen „Dialogs“ (die sich insbesondere in Russland und Zentralasien tummeln) sollten freilich dessen mögliche Folgen bedenken: Washingtons geo- und regionalpolitische Ambitionen sind alles andere als inklusiver Natur und stehen damit integrativen Absichten diametral entgegen. Integration (basierend auf innovativen Formen intensiven transregionalen Wirtschaftens) ist jedoch, was der sozial, kulturell und ökologisch stark gebeutelte eurasische Megakontinent dringender den je braucht.
Auch ohne die Amerikaner fällt es ihren Protagonisten schwer genug, sich endgültige Klarheit über die funktionale Struktur der SOZ zu verschaffen, Krisen regulierende und vorbeugende Instrumente militärischer und ziviler Natur zu formen oder transregionale Wirtschaftsprojekte – vom Straßenbau über die Schaffung industrieller Knotenpunkte bis hin zu alternativen Methoden nachhaltigen Landwirtschaftens – auf den Weg zu bringen. Von einer gegenseitig vorteilhaften Verwertung diverser Bodenschätze ganz zu schweigen. Insbesondere die beiden Lokomotiven Russland und China lassen allzu oft noch jenen Gleichklang vermissen, der nötig wäre, den Schanghai-Express endlich richtig Fahrt aufnehmen zu lassen. Dies wiederum verführt manche Zentralasiaten zu einer teilweise abenteuerlichen Schaukelpolitik, von der letztlich, wenn überhaupt, nur Dritte profitieren. „Die zentralasiatischen Republiken“, kritisiert Alexander Koltjukow, Chef des Instituts für Militärgeschichte des Russischen Verteidigungsministeriums, „sind noch nicht lange genug souverän, um wirklich bereit zu sein, in supranationalen Strukturen mitzuarbeiten. Von gefestigten außenpolitischen Traditionen kann keine Rede sein. Noch suchen die Staaten der Region nach einem eigenständigen, das bestehende Kräftegewicht berücksichtigenden Entwicklungspfad. Und es ist nicht ausgeschlossen, dass diese Suche zur Aufkündigung der strategischen Partnerschaft mit Russland führt…“
In der Tat irritieren Moskaus Integrationsverheißungen viele zentralasiatische Entscheidungsträger, deren Durst nach Souveränität noch längst nicht gestillt ist. Gleichzeitig beunruhigt sie Pekings massive wirtschaftliche Expansion in die Region. Um zwischen Integrationsdruck einerseits und wirtschaftlicher Überfremdung anderseits nicht zerrieben zu werden, spielen sie nur allzu gern die US-Karte… Die Aufnahme eines offiziellen Gesprächsfadens mit Washington würde diese „schlechte Gewohnheit“ eher noch verstärken. Außerdem braucht es nicht viel Phantasie, sich vorzustellen, worauf sich die Schanghaier Organisation auf amerikanischen Druck hin noch stärker als heute konzentrieren würde: gemeinsam mit der NATO islamistische Fanatiker zu hetzen sowie Öl- und Gasröhren zu verlegen. Eine solche dramatische Themenverengung würde die SOZ sehr schnell zur überflüssigsten Organisation der Gegenwart machen.
All jenen, die in der SOZ letztlich nicht mehr sehen (wollen) als ein Vehikel zur Beförderung einer „Sicherheitspartnerschaft“ mit der NATO im Rahmen eines „einheitlichen Energieraums“, seien folgende Überlegungen Leonid Iwaschows, Präsident der Moskauer Akademie für geopolitische Probleme, ans Herz gelegt: Als „Organisation neuen Typs“ (Jewgenij Primakow) strebe die SOZ ein Sicherheitssystem an, das sich von dem der NATO, der ODKB und anderer militärischer Blöcke prinzipiell unterscheide. Gleichzeitig bemühe sich die Organisation um ein eigenes Entwicklungsmodell, basierend auf einem alternativen System gemeinsamer, transzivilisatorischer Werte. Dies sei besonders wichtig angesichts erheblicher Armut in vielen Mitgliedsländern sowie anhaltender ethnokonfessioneller Spannungen in der gesamten Region. Die SOZ brauche mehr als eine bloße Wachstumsideologie, nämlich eine komplexe Entwicklungsstrategie, die nicht nur die Veränderung der Wirtschaftstruktur in den einzelnen Mitgliedsstaaten zum Ziel habe, sondern darauf orientiere, die Lebensqualität der in diesen Staaten lebenden Menschen durch die Förderung von Kultur, Wissenschaft, Bildung sowie einer komfortablen Lebensweise bei gleichzeitiger Schonung der Natur nachhaltig zu verbessern.
Mit der Gründung der SOZ, so Iwaschow, habe man einen Kontrapunkt setzen, der individualistisch-konsumorientierten Gesellschaft des Westens eine Art Gegenentwurf präsentieren wollen: die Vision eines „zweiten Pols der Menschheit“, der aufgrund alternativer lebensphilosophischer Ansätze – basierend auf neuen Einsichten in das Verhältnis von Mensch und Natur sowie gemeinschaftsorientierten Wertmaßstäben – „harmonische Beziehungen zwischen Staaten und Zivilisationen“ aktiv befördere sowie ein „auf ausbalancierten Kräften und Potentialen fußendes Sicherheitssystem“ anstrebe. Es bleibt zu hoffen und zu wünschen, dass diese Überlegungen auf dem in wenigen Tagen im kasachstanischen Astana stattfindenden SOZ-Jubiläumsgipfel irgendwie Berücksichtigung finden werden…
Wird fortgesetzt.
Schlagwörter: China, Geopolitik, Peter Linke, Russland, Schanghaier Organisation, SOZ