14. Jahrgang | Nummer 8 | 18. April 2011

Sie hatten eine unbefleckte Empfängnis

von Reinhard Wengierek

Auf dem Marmor aus Hitlers Reichskanzlei, der beim Wiederaufbau der zerbombten Berliner Volksbühne im Foyer verlegt wurde, stehen drei Biedermeierstühlchen: eins für den Brandstifter Frank Castorf (Regisseur, Volksbühnen-Intendant), eins für seine Flamme Henry Hübchen (Schauspieler, einst Volksbühne) und eins für das Streichholz Jürgen Kuttner (Journalist). Der entfacht nach der kürzlich stattgefundenen Vorführung von zwei Porträtfilmen über das Heroen-Duo teutonischer Theaterkunst ein hübsches Feuerchen zwischen den beiden nunmehr älteren Herrschaften.
Sie kennen sich seit einem halben Leben. Haben sich mit „gleichem Gefühl, Geschmack, Zynismus“ (H.H.), einem „optimal dosierten Maß Asozialität“ (F.C.) sowie einem gehörigen Quantum Genialität durch die DDR gerockt. Und „aneinander hoch gehangelt“. Als die DDR nicht mehr im Weg stand: bis in den Weltruhm. Mit lustvoll beißendem Nonkonformismus und glitschigem Kartoffelsalat unter rasendem Slapstick. „Mit hoch intelligenter Primitivität und extrem forcierter Obszönität“, so Big-Boss F. C. Und so sei wieder Leben gekommen in die bankrotte Volksbühne; damals, anno 1992.
Die Rockerei ist lange her. Castorfs Heimat-Haus wedelt heute nur noch flau mit dem Röckchen. Seine Spezis, die sich einst „den Arsch aufrissen“ (F.C.) für den Volksbühnen-Zampano, sind fort. Castorf melancholisch: „Bin ein Zauderer; verlasse ungern. Ich werde verlassen.“ Sein Medium Henry ging zum Kino. ‑ „Ist okay“, raunt Frank, sein alter Meister. – „Ob sie noch einmal zusammen…“ fragt Kuttner. „Nee“, sagt Hübchen. „Wir hatten unsere unbefleckte Empfängnis“, sagt Castorf und behauptet tatsächlich (wir erspähen bloß ein Glas Weißwein, Hübchen schlürft Saft), er könne verstehen, dass die Leute das alles satt hätten: den Trash, das Stückezerhacken, den allzu hohen höheren Blödsinn, das paranoid theatralische Querulantentum. Kuttners Streichhölzchen feuert hier leider nicht nach.
Stattdessen flackert das Thema Ruhmsucht. Castorf kokett: „Ich bin ein alter kranker Mensch.“ Hübchen irritiert: „Da muss nichts mehr kommen, es geht ohnehin in die Grube.“ Auch seien die Bandscheiben nicht mehr Slapstick-kompatibel. Er vermiete sich lieber beim Film. „Wir Mittelständler müssen unser Geld machen; ich habe Kinder“, bestätigt Castorf. Sein Intendanten-Vertrag geht bis 2013 – folgen noch drei Jahre bis zur Rente. „Alles hat ein Ende, nur die Wurst hat zwei“, ließ Castorf in einer weh wütenden Bulgakow-Inszenierung am Deutschen Theater schon Ende 1988 singen. Dennoch klebt er wie der Vater am Kind an seinem Theatertanker. „Er muss bleiben!“, ruft er immerzu in der Befürchtung, mit jedem anderen Kapitän gehe der unter.
Lassen wir die kahle Zukunft. Verlassen wir diese denkwürdige Mitternachts-Talkshow und kriechen in die wärmende, Optimismus verströmende Vergangenheit, die in den quotentauglich inszenierten 45-Minuten-Porträts aus der „Mein Leben“-Reihe des TV-Senders arte zu Wort kommt. Castorf sülzt da in unentwegt druckreifer Eloquenz über sich selbst. Sein Grundsatzreferat: „Das permanente Außenseitertum als Kraftquell und Freiheitsbehauptung“. Dabei wird fleißig durch Berlins Mitte spaziert. Den Alexanderplatz findet man „mongolisch verprollt“, aber beim Blick in Castorfs Dachwohnung in den Hackeschen Höfen entdecken wir bürgerlich nette Heimeligkeit.
Hübchen zeigt sich stets edel im weißen Hemd mit Mafia-Sonnenbrille, Castorf kommt immer im schlecht sitzenden Grau. Henry kutschiert im dicken Mercedes durch Berlin. Sophie Rois bescheinigt, er habe „den Sexappeal eines erwachsenen Mannes“. Und sortiert ihn korrekt ein zwischen Mastroianni und Autoverkäufer – solch Zwitterstellung taugt zum Volkshelden. Kollegin Rois gesteht noch, sie werde von Henrys „tobsüchtiger Komik“ in Hysterie versetzt. Und schon plaudert der verführerische Mittsechziger fein lakonisch über sein Erfolgs-Dasein, das er sich habe hart erarbeiten müssen. „Bin kein Studiomusiker. Ich kann was, aber nicht alles. Und nicht auf Anhieb.“ Schließlich erklärt er, ein Schauspieler schlüpfe immerzu hinter Larven. Sein Beruf sei, nie sich zu zeigen. – Aber geht das überhaupt? Ein bisschen Versteckspiel geht immer. Ob live oder im Film.