14. Jahrgang | Nummer 8 | 18. April 2011

Der Iran, Libyen und die Bombe

von Wolfgang Schwarz

Iran darf nicht Nuklearmacht werden. Darüber besteht im Westen Konsens, und auch Russland und China haben sich wiederholt entsprechend geäußert. In den mit dieser Frage befassten internationalen Organisationen, vor allem bei den Vereinte Nationen und seitens der Internationalen Atomenergieagentur (IAEA), ist diese Position ebenfalls unstrittig, und Iran selbst erklärt immer wieder, keine Ambitionen im Hinblick auf den Erwerb von Atomwaffen zu haben, lediglich an einer friedlichen Nutzung der Kernenergie interessiert zu sein. Die billigt der 1970 in Kraft getretene Kernwaffensperrvertrag (NPT), dem Iran angehört, allen nicht nuklearen Mitgliedsstaaten auch ausdrücklich zu.
Als „legale“ Nuklearmächte, weil sie zum Zeitpunkt des Abschlusses des NPT bereits über diesen Status verfügten, gelten die USA, Russland, Großbritannien, Frankreich und China, als illegale Israel, Indien, Pakistan – allesamt dem NPT nie beigetreten – sowie Nordkorea – 2003 ausgetreten.

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Nicht ernsthaft zu bestreiten ist, dass jeder zusätzliche Kernwaffenstaat über die neun heute existierenden hinaus bereits bestehende atomare Risiken weiter erhöhen und gegebenenfalls neue in die Welt setzen würde. Welche Risiken stehen dabei im Vordergrund?
Erstens – Kernwaffenexplosionen haben für die unmittelbar betroffenen Regionen vernichtende und über Generationen wirkende Folgen – Beispiele sind Hiroshima und Nagasaki, aber auch das Bikini-Atoll. Eine Eskalation zum nuklearen Schlagabtausch impliziert darüber hinaus ein globales Vernichtungsrisiko, und das ist auch mit der Beendigung des kalten Krieges und des atomaren Antagonismus zwischen den USA und Russland keineswegs gebannt. Der amerikanische Experte Jonathan Schell wies erst jüngst unter Hinweis auf neue Studienergebnisse darauf hin, „dass schon der Einsatz von 100 Atomwaffen in einem Konflikt zwischen Pakistan und Indien weltweit einen nuklearen Winter auslösen könnte, weil Städte brennen und Aschewolken die Sonne verdunkeln würden“ (1). Nukleare Drohgebärden zwischen Indien und Pakistan, die bereits mehrfach Krieg gegeneinander geführt haben, gab es unter anderem im Kaschmir-Konflikt 2002.
Zweitens – das Risiko des Einsatzes von Kernwaffen bzw. nuklear ausgetragener Konflikte nimmt mit der Anzahl der Atommächte zu. Bereits die bipolare Konfliktsituation im Kalten Krieg, die sehr übersichtlich war und als relativ stabil galt, führte die Welt nichts desto trotz wiederholt an den Rand des nuklearen Infernos (Kuba-Krise 1962, Fehlalarm im sowjetischen Frühwarnsystem 1983). Für den Fall eines Kernwaffenerwerbs durch Iran haben amerikanische Experten vor dem Hintergrund der israelisch-iranischen Feindschaft kürzlich in Foreign Affairs die Möglichkeit eines nuklearen Erstschlags seitens Israel diskutiert – unter anderem weil Israels geringe territoriale Ausdehnung bedeute, dass „auch nur wenige Nuklearexplosionen auf seinem Territorium vernichtend wären“. Die Autoren verweisen darauf, dass Präventivschläge „ein tief verwurzeltes Element der strategischen Kultur Israels“ seien (Ägypten 1956 und 1967, Irak 1981, Syrien 2007). Und was einen nuklear bewaffneten Iran anbetrifft, so meinen die Autoren, dass dieser sich in einer Konfliktsituation angesichts der Möglichkeit eines Präventivangriffs veranlasst sehen könnte, seinerseits zuerst zuzuschlagen, weil er sich hinsichtlich seiner Atomwaffen einem „Use them or loose them“-Dilemma gegenübersehen könnte. (2)
Drittens – dass das Aufkommen neuer Nuklearmächte das Risiko regionaler atomarer Rüstungswettläufe in sich birgt, ist angesichts der Entwicklung auf dem indischen Subkontinent ebenfalls keine bloß theoretische Annahme mehr. Für den Fall einer Atombewaffnung Irans und wegen der seit langem bestehenden regionalen Rivalität verweisen Fachleute in diesem Kontext zuvorderst auf Saudi-Arabien. Das dortige Herrscherhaus hat bereits Dutzende ballistische Mittelstreckenraketen vom Typ CSS-2 von China erworben; die gelten als nicht treffsicher genug für einen militärisch effektiven Einsatz mit konventionellen Gefechtsköpfen, könnten aber nuklear armiert werden. Gefechtsköpfe müsste Saudi-Arabien nicht einmal selbst entwickeln und herstellen, sondern könnte sie unter Umständen von Pakistan erwerben. Beide Länder verbindet eine langjährige enge Partnerschaft.
Viertens – dass mit jeder weiteren Verbreitung der für Kernwaffen erforderlichen Materialien, Trägermittel und des notwendigen Know-hows auch das Risiko eines unautorisierten Zugangs durch Terrorgruppen steigt, ist eine weitere Gefahr. Dazu nochmals Jonathan Schell: „Es liegt in der Natur des wissenschaftlichen Fortschritts, dass Technologien mit der Zeit zugänglicher werden. Der Moment, an dem die Nukleartechnik in die Hand nichtstaatlicher Akteure fällt, wird zwangsläufig kommen.“ (3) Und womöglich rasch, wenn eine Nuklearmacht von gesellschaftlichen Konflikten geprägt, ja vom staatlichen Zerfall bedroht ist wie derzeit Pakistan. Sollten Terroristen in die Verfügungsgewalt von Atomwaffen gelangen, ist zu befürchten, dass sie diese nicht als Abschreckungsmittel betrachten sondern einsetzen werden.
Fünftens – die IAEA warnte bereits im Jahre 2005 davor, dass ohne entsprechende Fortschritte in der nuklearen Abrüstung damit gerechnet werden müsse, dass zwanzig bis dreißig Länder „in den nächsten zehn bis zwanzig Jahren ihre technischen Fähigkeiten so weit vorantreiben, dass sie … in wenigen Wochen auf ein Atomprogramm umstellen können“ (4). Diese Prognose mag übertrieben scheinen, doch die Möglichkeit, dass bei weiterer Erosion des NPT Schwellenländer wie Brasilien, Argentinien und Südafrika ihre früheren atomaren Ambitionen und Programme reaktivieren oder ihr wissenschaftlich-technisches und industrielles Niveau dazu nutzen könnten, welche zu entwickeln (Südkorea und andere), ist nicht von der Hand zu weisen. Brasilien etwa verweigert nach wie vor den Beitritt zum Zusatzprotokoll zum NPT, dass der IAEA unangekündigte, unbeschränkte Verdachtskontrollen ermöglicht.

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Vor diesem Hintergrund darf nicht nur Iran keine Nuklearmacht werden. Im Interesse einer nachhaltigen Existenzsicherung der Menschheit darf es überhaupt keine weiteren Kernwaffenmächte mehr geben und muss eine kernwaffenfreie Welt das Ziel sein. Die bisherige Bilanz der internationalen Bemühungen um Nichtweiterverbreitung seit Inkrafttreten des Kernwaffensperrvertrages gibt allerdings wenig Anlass zu Optimismus, dass dies in absehbarer Zeit oder überhaupt erreicht werden kann. Zwar ist es gelungen, einige Schwellenländer zur Aufgabe ihrer Atomwaffenbestrebungen und zum Beitritt zum NPT zu bewegen (Argentinien, Brasilien, Südafrika, Libyen), und in zwei weiteren Fällen hat Israel durch völkerrechtswidrige Bombenangriffe Nuklearanlagen zerstört, die vielleicht auch der Kernwaffenentwicklung dienen sollten, zerstört (Irak, Syrien), doch die Anzahl der Nuklearmächte hat sich seit 1970 fast verdoppelt. Ein Blick auf die Details ist auch ein Blick auf künftige Chancen.
Da ist zunächst die Feststellung zu treffen, dass dem NPT das Agreement zugrunde lag, dass alle nicht-nuklearen Mitgliedsstaaten diesen Status beibehalten und sich im Gegenzug die Nuklearmächte verpflichten, „Verhandlungen zu führen über wirksame Maßnahmen zur Beendigung des nuklearen Wettrüstens in naher Zukunft und zur nuklearen Abrüstung sowie über einen Vertrag zur allgemeinen und vollständigen Abrüstung“ (NPT, Art. VI). Dieser Verpflichtung sind jedoch selbst die USA und die Sowjetunion, respektive Russland bisher nur in eingeschränktem Maße nachgekommen, denn während sie sich im START-Prozess und im Hinblick auf Mittelstreckenwaffen in Europa vor allem auf quantitative Reduzierungen und einige qualitative Beschränkungen verständigten, werden Weiterentwicklung und Neu-Beschaffung von Gefechtsköpfen und Trägersystemen bis heute fortgesetzt. Bei den USA laufen entsprechende Prozesse derzeit über das gesamte Spektrum der strategischen Triade (land-, see- und luftgestützte Systeme), bei Russland – aus vorwiegend wirtschaftlichen Gründen – in eingeschränkter Breite, und was den Zeithorizont anbetrifft, so befindet sich in den USA zum Beispiel die nächste Generation nuklearer Träger-U-Boote in Planung, deren erstes 2029 in Dienst gestellt werden soll. Vergleichbares nicht NPT-konformes Verhalten legen auch Großbritannien, Frankreich und China seit Jahrzehnten an den Tag. Am Rande des letzten NATO-Gipfels im November vergangenen Jahres in Lissabon äußerte der französische Präsident Nicolas Sarkozy gar, sein Land werde niemals auf seine nukleare Bewaffnung verzichten. Böse Zungen haben hin und wieder behauptet, der NPT sei vonseiten der Nuklearmächte von vorn herein nur darauf angelegt gewesen, ihre atomare Monopolstellung und ihren darauf beruhenden machtpolitischen Status in der Welt zu wahren. Einen unzweifelhaften Beweis, dass dies eine Unterstellung ist, sind die „legalen“ Atommächte bisher jedenfalls schuldig geblieben.
Hinzu kommt, dass die „legalen“ Kernwaffenmächte nicht nur in Bezug auf sich selbst gegen Geist und Buchstaben des NPT verstoßen haben. Der verpflichtet sie nämlich auch, „einen Nichtkernwaffenstaat weder zu unterstützen noch zu ermutigen …, Kernwaffen oder sonstige Kernsprengkörper herzustellen (NPT, Art. I). Nicht genug damit, dass die fünf Mächte hinsichtlich der vier nuklearen Parias, die seit 1970 die internationale Bühne betreten haben, in keinem der Fälle konsequent gemeinsam vorgegangen sind, um den Erwerb von Atomwaffen durch Israel, Indien, Pakistan und Nordkorea zu verhindern. Sie haben vielmehr deren Ambitionen zum Teil sogar direkt oder indirekt unterstützt (wie Frankreich gegenüber Israel und China gegenüber Nordkorea sowie Pakistan), stillschweigend geduldet (wie die USA gegenüber Pakistan) oder im Nachhinein de facto politisch sanktioniert (wie die USA gegenüber Indien).
Darüber hinaus haben auch nichtnukleare Mitgliedsstaaten des NPT dessen Substanz über die Jahre ausgehöhlt haben und tun dies weiter. Hier ist in erster Linie auf die so genannte nukleare Teilhabe im Rahmen der NATO zu verweisen. Die Bereitstellung von nationalen Trägersystemen durch nichtnukleare europäische NATO-Staaten, darunter die Bundesrepublik, die im Kriegsfall amerikanische Kernsprengköpfe zum Einsatz bringen sollen, und das ganze Konstrukt der Nuklearen Planungsgruppe der NATO, in der noch weitere Paktstaaten mitwirken, stellen einen Verstoß gegen Art. II des NPT dar, in dem es unter anderem heißt: „Jeder Nichtkernwaffenstaat, der Vertragspartei ist, verpflichtet sich, Kernwaffen … oder die Verfügungsgewalt darüber von niemandem unmittelbar oder mittelbar anzunehmen …“
Angesichts dieser Sachverhalte verwundert es nicht, dass das NPT-Regime in der Konsequenz nicht in der Lage war, Staaten, die über die entsprechenden wirtschaftlichen und wissenschaftlich-technischen Möglichkeiten verfügten und deren politische Führungen fest entschlossen waren, den Weg zur Atommacht einzuschlagen, am Erwerb von Kernwaffen zu hindern. Das wird nach dem Stand der Dinge im Falle des Iran nicht anders sein.

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Damit stellt sich die Frage nach den Fähigkeiten des Landes und der Entschlossenheit der Teheraner Machthaber. Die Medienberichterstattung dazu – unter Rückgriff auf vorgebliche Informationen von Geheimdiensten und Insidern – gleicht einer Achterbahnfahrt im Nebel: „Iran kann Atombombe frühestens 2011 bauen“ (Die Welt, April 2007), „Testzündung eventuell 2010“ (Der Spiegel, Juli 2009), „Iran hat das Design für einen fortgeschrittenen Atomsprengkopf entwickelt“ (Süddeutsche Zeitung, Februar 2010), „Noch zwei Jahre bis zur Atombombe“ (Focus, Februar 2011). Fakt ist, dass im Dezember 2010 aus Teheran verlautbarte, man beherrsche nun den kompletten Zyklus zur Herstellung von Kernbrennstoff – iranischen Wissenschaftlern sei die Herstellung von sogenanntem Yellowcake, konzentriertem Uran, gelungen, dem Ausgangsstoff der Urananreicherung. Während für „schmutzige“ Atombomben lediglich hoch radioaktives Material vonnöten wäre, das mittels einer konventionellen Explosion flächig verteilt würde, ist für herkömmliche Sprengköpfe, wie sie in Hiroshima und Nagasaki zum Einsatz kamen, hoch angereichertes Uran erforderlich.
Die Fähigkeit zur Beherrschung der Urananreicherung allein ist jedoch noch kein hinreichendes Indiz für das Streben nach Kernwaffen, da niedrig angereichertes Uran auch in Kernreaktoren zum Einsatz kommt. Daher ist im NPT die Anreicherung als solche auch Nichtnuklearstaaten nicht untersagt. Allerdings stoßen die ständig wiederholten Beteuerungen Irans, nur an einer friedlichen Nutzung der Atomtechnologie zur Energieerzeugung interessiert zu sein, auf erhebliche Skepsis – angesichts des Katz-und Maus-Spiels, das Teheran seit Jahren mit der internationalen Gemeinschaft in Sachen Atompolitik treibt. Und wozu investiert ein Land, das über die zweitgrößten Öl- und Gasreserven weltweit verfügt und sich auf Jahrhunderte selbst mit Energie versorgen kann, Milliarden in Atomtechnologie, die noch dazu eine Auslauf-Technologie ist, der nach aktuellen Prognosen in wenigen Jahrzehnten der Rohstoff Uran ausgehen wird? Wenig überzeugend klingt auch, was der iranische Vertreter bei der IAEA, Ali Asghar Soltanieh, unlängst auf einer Konferenz in Wien vorgetragen hat: „Falls wir uns entschieden, Atomsprengköpfe herzustellen: Könnten wir jemals mit den fünf Atommächten konkurrieren? 100 Prozent Nein. Nuklearwaffen anzustreben würde uns vielmehr verwundbar machen. Sie wären ein Nachteil für den Iran. Deshalb werden wir niemals einen solchen strategischen Fehler begehen.“ (5) Eine mögliche Konkurrenz zu den fünf Mächten haben allerdings nicht einmal die USA in Zeiten höchster antiiranischer Hysterie unter George W. Bush jr. Teheran unterstellt. Eine Konkurrenz zur Nuklearmacht Israel dürfte da schon eher im Bereich des längerfristig Möglichen liegen. Das Hauptmotiv für ein iranisches Streben nach Kernwaffen könnte jedoch in einer anderen Richtung zu suchen sein: Noch niemals ist ein Land, das über Kernwaffen verfügt, von den USA, vom Westen massiv militärisch angegriffen worden. Und die jüngsten Entwicklungen könnten solchen Erwägungen im Iran eine zusätzliche Dynamik verleihen: Libyen hat sein Nuklearprogramm im Jahre 2003 aufgegeben und sich auch damit den Weg zurück in die internationale Gemeinschaft geöffnet. Damals soll das Land noch drei bis sieben Jahre von der Bombe entfernt gewesen sein. Schwer vorstellbar, dass ein atomar bewaffnetes Libyen sich heute massiven Angriffen von Streitkräften diverser NATO-Staaten ausgesetzt sähe.

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Natürlich bleibt jede Mutmaßung über die tatsächlichen Ambitionen Teherans so lange Spekulation, bis das Land entweder vielleicht doch noch umfassende Kontrollen zulässt und sich auf der Basis internationaler Vereinbarungen gewissen Einschränkungen etwa hinsichtlich der Urananreicherung unterwirft oder – bis es die erste Testexplosion gezündet hat. Bis dahin ist es allerdings besser, von der letztgenannten Möglichkeit auszugehen.
Das führt abschließend zu der im Rahmen dieser Betrachtung entscheidenden Frage, ob eine Kernwaffenmacht Iran noch zu verhindern ist. Mit (völkerrechtswidrigen) Militärschlägen zur Ausschaltung kerntechnischer Anlagen im Iran, wie sie von Israel in der Vergangenheit zweimal exekutiert und im Falle Irans bereits mehrfach angedroht worden sind und die auch von den USA nicht definitiv ausgeschlossen werden, wohl kaum. Experten stimmen darin überein, dass dies iranische Bestrebungen allenfalls zeitlich verzögern, zugleich aber unkalkulierbare Eskalationsrisiken – militärisch und wirtschaftlich – in sich bergen und mit Sicherheit Volk und Führung des Landes antiwestlich zusammenschweißen würde. Und die von den USA und ihren Verbündeten gegen Iran verhängten Boykottmaßnahmen haben bisher nicht zum gewünschten Einlenken Teherans geführt. Das liegt nicht in erster Linie daran, dass Russland und China diese Maßnahmen nur halbherzig mittragen bzw. sich einem umfassenden, wirklich einschneidenden Boykott verweigern. Dabei mögen die Beweggründe Russlands und Chinas nichts weniger denn altruistisch sein, doch ein umfassender Boykott träfe vor allem die Bevölkerung, ohne im Sinne des angestrebten Ziels zwangsläufig effektiver zu sein. Das sollten die USA selbst am Besten wissen – aus den Erfahrungen mit ihrer jahrelangen Boykottpolitik gegen den Irak. Dort waren die Boykottmaßnahmen unter anderem mit ursächlich für den Tod von bis zu einer halben Million Kindern. (6) Einmarschiert werden musste – aus Sicht der USA – zum Schluss trotzdem.
Das Hauptmanko eines Boykotts als machtpolitisches Instrument besteht in seinem konfrontativen Charakter, in dem Versuch, die andere Seite zu Wohlverhalten zwingen, sie zu demütigen, „kleinzukriegen“. Das führt fast zwangsläufig zu Gegenreaktionen, die den gewollten Zweck mindestens konterkarieren.
Kann die internationale Gemeinschaft also nur die Hände in den Schoß legen und fatalistisch abwarten? Keineswegs. Ein Paradigmenwechsel, insbesondere seitens der USA und anderer westlicher Mächte, wäre allerdings erforderlich – vom Versuch, eine konfrontative Lösung zu erzwingen, zu einem Ansatz, der auf eine kooperative Lösung zielt und den Iran nicht als ideologischen und militärischen Feind betrachtet, sondern als potenziellen Kooperationspartner. Auf einer solchen Grundlage könnten die USA – gegebenenfalls gemeinsam mit Russland und China sowie flankiert durch ein Mandat des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen – Iran für den Fall eines nachprüfbaren Verzichts auf die Atomwaffenkarte zum Beispiel eine militärische Sicherheitsgarantie gegen Angriffe Dritter anbieten sowie den freien Zugang zu allen für die friedliche Nutzung der Kernenergie notwendigen Technologien garantieren, sollte das Land denn daran festhalten wollen.
Über den aktuellen Einzelfall Iran hinaus hat die Nichtweiterverbreitung mittel- und längerfristig im Übrigen nur eine Chance auf Fortbestand und Konsolidierung, wenn die oben skizzierten Mängel im heutigen NPT-Regime schrittweise, aber nachhaltig behoben werden. Ein Anfang in diesem Sinne könnte unter anderem damit gemacht werden, dass Abschied genommen wird von der Strategie der nuklearen Abschreckung, weil die im Zeitalter der Proliferation die Krankheit verschlimmert, für deren Therapie sie von ihren Verfechtern gehalten wird. Ein sachkundiges Plädoyer in diesem Sinne haben kürzlich George P. Shultz, William J. Perry, Henry A. Kissinger und Sam Nunn gehalten. (7)

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Utopische Vorstellungen? Möglicherweise – aber mit solchen haben viele grundlegende Veränderungen ihren Anfang genommen. Allerdings oft erst unter dem Druck der Ereignisse. Daher gilt – mit den (auf den Klimawandel gemünzten) Worten Egon Bahrs im Einleitungsbeitrag zur vorliegenden Blättchen-Augabe wohl auch in diesem Fall: „Gerade weil so schwer vorstellbar ist, dass die Staaten ihr Feilschen… durch harte internationale Verbote erset­zen, damit eine unkontrollierbare Katastrophe doch noch rechtzeitig abge­fangen werden kann, ist zu wünschen, dass es früh genug ausreichende Katastrophen gibt, die ausreichenden Handlungszwang für die Regierungen auslösen.“

(1) – Der Spiegel, 13/2011
(2) – Edelman, E. S. / Krepinevich jr., A. F. / Montgomery, E. B.: The Dangers of a Nuclear Iran. The Limits of Containment, in: Foreign Affairs, Jan – Feb 2011
(3) – Der Spiegel, a.a.O.
(4) – Frankfurter Rundschau, 04.08.2005
(5) – Zit. nach: Streitkräfte und Strategien (NDR) v. 04.12.2010 (http://www.ndr.de/info/programm/sendungen/streitkraefte_und_strategien/streitkraeftesendemanuskript233.pdf)
(6) – Vgl. Cockburn, A.: Der andere Krieg gegen den Iran, in: Le Monde diplomatique (deutsche Ausgabe) vom 10.09.2010
(7) – Siehe Shultz, G.P. / Perry, W.J. / Kissinger, H.A. / Nunn, S.: Deterrence in the Age of Nuclear Proliferation, Wall Street Journal, 07.03.2011