14. Jahrgang | Sonderausgabe | 17. März 2011

Stigmatisiert

von Hella Jülich

„Wenn ich sterbe“, so prophezeite Piotr Koziej vor vier Jahren, „dann komme ich in den Himmel, denn in der Hölle war ich bereits.“ Als der 1944 von den Sowjets verhaftete Offizier der polnischen „Armia Krajowa“ dies sagte, lagen jene drei Jahre lange zurück, die er, ohne jedes Urteil, im Gulag hatte verbringen müssen, und die auch das folgende Leben des damals knapp 30jährigen ein einziges Trauma werden ließen. Zwischen 15 und 18 Millionen Gefangene haben von Mitte der 1920er bis in die 1950er Jahre hinein das Schicksal geteilt, in einem Gulag gezeichnet worden zu sein, so sie denn die Zeit dort überlebten; ein „Glück“, das etwa 1,5 bis vier Millionen Frauen und Männern nicht zuteil geworden ist.
Seit den Büchern von Alexander Solschenizyn oder Warlam Schalamow etwa meinen wir zu wissen, was Menschen per Willkür in jene Lager gebracht hat, die zu Hunderten in der gesamten Sowjetunion existierten. Wir konnten lesen, was jene bis zu 2,5 Million, die das zeitgleich betraf, – darunter tausende in der UdSSR exilsuchender Deutsche, Kriegsgefangene und in der sowjetischen Besatzungszone/DDR Verhaftete –, dort erlebten und wie sie überlebten – wenn sie denn überlebten.
Relativ wenig ist indes darüber bekannt, wie jene Überlebenden der an ihnen vollzogenen „Besserungsversuche“ die Zeit wahrnahmen, die ihnen nach Stalins Tod und der Öffnung der Lager gegeben war. Der verdienstvollen Aufgabe, dies aufzuklären und zu dokumentieren, hat sich der Berliner Historiker Meinhard Stark gewidmet. Über 100 Interviews mit zum Teil bereits hoch Betagten, die Zeugnis ablegen, bevor kein Zeitzeuge mehr direkt befragt werden kann, kommen in seinem Buch „Die Gezeichneten“ zu Wort. Wie sind sie im „Leben danach“ mit ihren traumatischen Erfahrungen umgegangen? Wie verlief ihr Weg zurück in ein normales Gesellschaftsleben? Wie konnte man mit jenem Schweigen leben, zu dem  man bei einer Entlassung aus dem Lager nahezu immer verpflichtet wurde?
Was die danach Befragten berichten, ist trotz der Variablen im erlebten Alltag grundsätzlich ähnlich: In den Lagern Zwangsarbeit unter erbärmlichen Bedingungen, Gewalt, Hunger, Demütigung – und das alles in Lagern, die offiziell als „Besserungsarbeitslager“ firmierten. Aber auch die Erlebnisse der Jahre nach der Rückkehr in ihre Heimatländer erwiesen sich als vergleichbar, unabhängig davon, ob diese Heimat weiterhin die Sowjetunion war, Polen, das Baltikum oder eben Deutschland, Ost wie West. Denn unabhängig von den auf Lebenszeit weiter bohrenden Erlebnissen der Lagerzeiten zeigte sich für die meisten, dass sie in ihrer alten-neuen Umwelt eher als Paria angesehen wurden statt als Opfer, das Unterstützung und Zuwendung verdient. Möglichst nichts wissen wollen von solchen Menschen, denn zu solchem Wissen müsste man sich ja verhalten; möglichst wenige Informationen über das Erlebte zulassen, denn diese könnte das schöne Scheinbild sowjetischer Menschheitsbeglückung konterkarieren – so die mehrheitlichen Reaktion der DDR-Behörden, die durchaus für Wiedereingliederung sorgten, zugleich aber auch für die Observierung dieser Rückkehrer und deren möglichst große zivile, vor allem berufliche Isolierung, wenn nicht gar für eine neue Haft.
In der Bundesrepublik waren solcherart Amtshandlungen nicht zu befürchten; hier wurden für Rückkehrer aus der UdSSR sogar offizielle Begrüßungsrituale vollzogen, standen gesundheitliche Fürsorge und Entschädigungen bereit; nicht zuletzt auch deshalb verließ jeder dritte zum Beispiel der zwischen Oktober und Dezember 1955 Zurückgekehrten die DDR Richtung Westen. Mit ihren Traumata indes blieben auch sie weitgehend allein. Und erfahren konnten sie an sich auch, was auch sowjetischen Kriegsgefangenen oder Zwangsarbeitern in der Regel widerfuhr, wenn sie zurück waren in ihrer Heimat: Misstrauen, denn „da muss doch was gewesen sein, oder?“
Die Lektüre dieses Buches ist naturgemäß alles andere als erbaulich. Aber sie ist nützlich, wenn man sein Bild über das zu vervollständigen interessiert und bereit ist, was von revolutionären Heilsbringern im Namen der menschlichen Emanzipation angerichtet worden ist und womit auch einschlägige heutige Utopien noch lange weiter belastet bleiben werden. Dass die politisch „andere Seite“, Kapitalismus und gar Faschismus, ebenso Schlimmes und gar noch Schlimmeres in ihren Stammbüchern zu verzeichnen hat, sollte denjenigen, der sozialistischen Ideen treu geblieben ist, besser keine Genugtuung sein: Immerhin hatte der Aufbruch in ein neues Zeitalter der Menschheit ja eben anders sein wollen …

Meinhard Stark: Die Gezeichneten. Gulag-Häftlinge nach der Entlassung, Metropol-Verlag, Berlin 2010, 432 S.,  24,- Euro