von Erhard Crome
Das Erdbeben von Japan überlagert andere politische Ereignisse und Debatten in der Welt. Weit über zehntausend Tote, zerstörte Städte, Produktionsanlagen und ganze Landstriche sind die bisherige Bilanz. Unheimliche Nachrichten machen die Runde: Das Beben mit Stärke 9,0 hat die japanische Hauptinsel um 2,40 Meter verrückt, die Achse der Erdrotation ist rund 15 cm verschoben. In der Atomanlage Fukushima scheinen sich die Warnungen vor einer Kernschmelze in vier der Blöcke zu bewahrheiten. Was das bedeuten wird, vermag sich niemand so richtig vorzustellen. „Es ist, als ob Natur und Technik sich gegen uns verschworen hätten“, wird ein japanischer Journalist zitiert.
Das ungewöhnliche Ereignis unterbricht das gewöhnliche Treiben auf den Märkten und in den Redaktionsstuben und drängt in der öffentlichen Wahrnehmung auf außergewöhnliche Erklärung. Das allerdings ist nicht neu. Das Erdbeben von Lissabon am 1. November 1755 hatte die Zerstörung der Hauptstadt Lissabon und weiter Teile der portugiesischen Küste zur Folge. Die Angaben zur Zahl der Todesopfer schwankten zwischen dreißig- und hunderttausend. Andere europäische Staaten unterstützten Portugal beim Wiederaufbau. Bemerkenswert auch aus heutiger Sicht ist: Das Beben hatte eine umfangreiche intellektuelle Debatte zur Folge. Der französische Aufklärer Voltaire verwarf die Frage, warum ein gütiger Gott so große Leiden zulasse, und damit zugleich die bis dahin geltende philosophische Annahme, die existierende Welt sei die beste aller möglichen Welten.
Der deutsche Philosoph Immanuel Kant, im Erdbeben-Jahr 31 Jahre alt, befasste sich zunächst mit der naturwissenschaftlichen Seite des Phänomens: „Alles, was die Einbildungskraft sich Schreckliches vorstellen kann, muss man zusammen nehmen, um das Entsetzen sich einigermaßen vorzubilden, darin sich die Menschen befinden müssen, wenn die Erde unter ihren Füßen bewegt wird, wenn alles um sie her einstürzt, wenn ein in seinem Grunde bewegtes Wasser das Unglück durch Überströmungen vollkommen macht, wenn die Furcht des Todes, die Verzweifelung wegen des völligen Verlusts aller Güter, endlich der Anblick anderer Elenden den standhaftesten Muth niederschlagen.“ Kant wollte aber auch Schlussfolgerungen gezogen sehen: „Eine solche Erzählung würde rührend sein, sie würde, weil sie eine Wirkung auf das Herz hat, vielleicht auch eine auf die Besserung desselben haben können.“ Eine seiner Folgerungen war, dass wenigstens dem Kriegführen Einhalt geboten werden sollte – er lebte bekanntlich im Preußen Friedrichs II. So weit sollten die Folgerungen denn aber doch nicht gehen.
Der alte Goethe wollte sich im Nachgang in jene intellektuelle Debatte eindrängen und schrieb in seiner Autobiographie Dichtung und Wahrheit (erschienen 1811), über fünfzig Jahre später sich in sein damaliges Dasein als sechsjähriger Knabe versetzend: „Durch ein außerordentliches Weltereignis wurde jedoch die Gemütsruhe des Knaben zum erstenmal im tiefsten erschüttert. Am ersten November 1755 ereignete sich das Erdbeben von Lissabon, und verbreitete über die in Frieden und Ruhe schon eingewohnte Welt einen ungeheuren Schrecken. Eine große prächtige Residenz, zugleich Handels- und Hafenstadt, wird ungewarnt von dem furchtbarsten Unglück betroffen. Die Erde bebt und schwankt, das Meer braust auf, die Schiffe schlagen zusammen, die Häuser stürzen ein, Kirchen und Türme darüber her, der königliche Palast zum Teil wird vom Meere verschlungen, die geborstene Erde scheint Flammen zu speien: denn überall meldet sich Rauch und Brand in den Ruinen. Sechzigtausend Menschen, einen Augenblick zuvor noch ruhig und behaglich, gehen mit einander zugrunde, und der Glücklichste darunter ist der zu nennen, dem keine Empfindung, keine Besinnung über das Unglück mehr gestattet ist.“
Die zitierten Passagen dürften Beschreibungen sein, die auch für andere Erdbeben, zuletzt das in Japan gelten. Empathie findet hier ihren Ausgangspunkt, Verantwortung zur Mithilfe tritt hervor. Die Abhängigkeit des menschlichen Strebens von der Natur wird thematisiert, nach dem „Sinn“ des Bebens gefragt, damals: Das kann der gütige Gott, wenn es denn einen gibt, doch nicht gewollt haben! Aus der Sicht des Zeitalters der Vernunft dreht sich die Perspektive dann: die Sinndebatte erhält ihre Logik, wenn Gott draußen bleibt, und die Aufklärung erhält ein weiteres Argument. Dennoch das Problem, dass all die großen Taten, die die Menschen bis dahin vollbracht haben (aus der Sicht des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts war ebenfalls die eigene Zeit die fortschrittlichste, vorangeschrittenste seit je), durch die Macht der Natur plötzlich und unerwartet in Frage gestellt sind.
Nach dem 20. Jahrhundert mit seinen zuvor ungekannten Verbrechen und gewaltigen wissenschaftlichen und technischen Errungenschaften – die den Menschen vermeintlich höher denn je über die Natur erheben, ihm damit aber auch die Macht gegeben zu haben scheinen, die Welt zerstören zu können, wenn schon nicht mit der Atombombe, dann eben durch Zerstörung des ökologischen Gleichgewichts, Leerfischen der Ozeane und Erwärmung des Planeten – hatte eigentlich das Bewusstsein Platz gegriffen, dass das weitere Schicksal der Welt in die Hände des Menschen gelegt sei. Eine Eigensinnigkeit der Natur kam darin nicht vor. Nur: Die Welt zerstören zu können, heißt nicht, sie beherrschen zu vermögen. Das gilt auch für das Verhältnis des Menschen zur Natur.
Die heutige Debatte bleibt allerdings hinter dem Reflexionsvermögen des 18. Jahrhunderts zurück. Das Beben verstört das spätbürgerliche Selbstbewusstsein. Der Spiegel titelt behende: „Unser feindlicher Planet“. (Im zweiten Teil der Auflage von Heft 11/2011 wird der Titel geändert in: „Das Ende des Atomzeitalters“; damit ist das Denken, das den ursprünglichen Titel hervorbrachte, aber nicht verschwunden.) Was heißt das? Soll er weiter traktiert und kujoniert werden, bis er endlich klein beigibt? Das ist weiter das fatale, in die europäische Kultur- und Geistesgeschichte eingeschriebene Weltverständnis, der Mensch sei als Subjekt aus der Natur herausgetreten, die so zum Objekt seiner Herrschsucht, seiner Begierden und Manipulationen wird. Dabei wird ausgeblendet, dass der Mensch zunächst und recht eigentlich selbst ein natürliches Wesen ist, das den Gesetzen der Biologie unterliegt, bevor er ein Sozial- und Kultur- und Wirtschaftswesen sein kann. Verschämt bricht sich die Erkenntnis Bahn, dass all die chemischen Substanzen, die in der „modernen“ Produktion von Obst, Gemüse und Fleisch sowie in der Lebensmittelindustrie eingesetzt werden, um immer billiger immer schneller immer mehr zu produzieren, sich im menschlichen Körper sammeln und Krankheiten wie Krebs und Parkinson hervorrufen. Die Lebensmittelindustrie hatte sich in der Politik all die Genehmigungen erwirkt, die für derlei Produktionsweise nötig waren, und zugleich die Informierung der Öffentlichkeit über die Folgen jahrzehntelang zu unterdrücken versucht.
Es geht also nicht nur um die Atomindustrie, die hinten, weit, in Japan gerade explodiert, sondern um die Folgen unseres Tuns insgesamt. Nach der Gaia-Hypothese der Naturwissenschaft stellt die gesamte Biosphäre der Welt einen lebendigen Organismus dar, der sich dagegen wehrt, dass das Gleichgewicht gestört wird – das aber tut der „moderne“ Mensch gerade. „Das im Westen herrschende materialistische Maximierungsdenken hat die Welt in eine Krise gestürzt, aus der wir uns befreien müssen. Wir müssen radikal mit dem Rausch des ‚Immer noch mehr‘ brechen, in dem die Finanzwelt, aber auch Wissenschaft und Technik die Flucht nach vorn angetreten haben. Es ist höchste Zeit, dass Ethik, Gerechtigkeit, nachhaltiges Gleichgewicht unsere Anliegen werden. Denn uns drohen schwerste Gefahren, die dem Abenteuer Mensch auf einem für uns unbewohnbar werdenden Planeten ein Ende setzen könnten.“ (Stéphane Hessel: Empört Euch!)
Das Überleben der Menschheit ist nicht gesichert. Aber wir sollten es wenigstens versuchen. Der in den 1970er Jahren erschienene wissenschaftlich-phantastische Roman „Japan sinkt“ von Sakyo Komatsu (in der DDR 1979 in erster Auflage) hatte fiktiv das Versinken der gesamten japanischen Inselgruppe zum Gegenstand, wie die Betroffenen und wie die Weltöffentlichkeit darauf reagieren. Es gibt keine Alternative zu Empathie und Solidarität.
Schlagwörter: Aufklärung, Erdbeben, Erhard Crome, Fukushima, Japan, Lissabon, Stéphane Hessel