14. Jahrgang | Nummer 4 | 21. Februar 2011

Bemerkungen

Offene Fragen

Im aktuellen Skandal um die Plagiatsvorwürfe gegenüber Dr. jur. – Titel zurzeit ruhend – Karl Theodor Maria Nikolaus Johann Jacob Philipp Franz Joseph Sylvester Freiherr von und zu Guttenberg (CSU) im Zusammenhang mit seiner Dissertation ergriff der Saarländische Ministerpräsident Peter Müller (CDU), von Hause aus ebenfalls Jurist, Partei für den in Bedrängnis geratenen Politikerkollegen: Man müsse die Frage der Zitierweise davon trennen, wie Guttenberg sein Ministeramt ausfülle – „in geradezu hervorragender Weise“.
Letzteres zieht Holger Schmale in der Berliner Zeitung in geradezu grundsätzlicher Weise in Zweifel. „Der Verteidigungsminister ist der beliebteste Minister; er gilt als einer der fähigsten. Aber warum eigentlich? Was ist ihm so glänzend gelungen seit seinem Amtsantritt im Strudel der Affäre um den fatalen Luftangriff im afghanischen Kundus im Herbst 2009? Die wechselnde Bewertung dieses von einem Bundeswehroffizier befohlenen Angriffs? Die spektakuläre Entlassung zweier bis dahin untadeliger Männer aus der Bundeswehrführung? Das Werben in der deutschen Öffentlichkeit für den Kriegseinsatz der Bundeswehr in Afghanistan? Die zügige Aufklärung der Vorfälle auf der Gorch Fock? Der Schutz der Angehörigen der dort ums Leben gekommenen Soldatinnen vor widerlichsten öffentlichen Spekulationen? Nichts davon kann als Beleg für die herausragende Führungskraft dieses sogenannten Politikers neuen Typs gelten. Es sind in Wirklichkeit mittelmäßige bis schlechte Ergebnisse. Aber hat er nicht die Bundeswehrreform durchgesetzt? Auch das ist eher eine Legende … Das vom Minister zur Durchsetzung seiner Pläne gegebene Versprechen, Milliarden Euro im Zuge der Reform einzusparen, kann er nicht halten. Zentrale Bestandteile des Konzepts wie die Anwerbung von jährlich 15.000 Freiwilligen anstelle der Wehrpflichtigen erweisen sich als unrealistisch. Wo ist nun der fabelhafte Erfolgsmensch Karl-Theodor zu Guttenberg? Je länger er im Amt ist, desto größer wird die Beweisnot, dass hier einer mit außerordentlichen Fähigkeiten zu Werke gehe. Man könnte auch sagen: Hier ist mehr Schein als Sein.“
Vor diesem Hintergrund wirft der Sachverhalt, dass Guttenberg der Deutschen beliebtester Politiker ist, gleich mehrere Fragen auf. Zum einen – was sagt dieses Quorum eigentlich über den Zustand der politischen Klasse in Deutschland aus, und zum zweiten, was über die Deutschen selbst? Und weiter: Will man die Antworten auf diese Fragen wirklich wissen? Oder anders gefragt: Wohin auswandern, wenn man die Antworten weiß?

Alfons Markuske

Mister 100 Prozent

Das toppte sogar Erich Honeckers Wahlergebnisse. Keine Gegenkandidaten, keine einzige Gegenstimme. Am 12. Februar hatte die Berliner CDU ihren Spitzenkandidaten für das Projekt „Stürzt Wowereit!“ kreiert. Überraschung: Es wurde Partei- und Fraktionschef Frank Henkel. Henkel? Nee, mit Waschpulver hat der nix zu tun, obwohl er Berlin saubermachen will. Das eher mit Polizei, Ordnungsämtern und der Ausländerbehörde. Das ist nichts Neues. Neu ist, dass der Spitzenkandidat sich offenbar einer Typberatung unterzogen hat. Ein Bildvergleich vor der Nominierung, im Wahlkampf und nach dem Wahlkampf lohnt sich bei Politikern immer. Bei Frank Henkel lohnt sich das jetzt schon. Dennoch war es nicht seine Veranstaltung. Ihm stahl die CDU-Bundesvorsitzende Angela Merkel die Show. Eigentlich sollte sie Henkel ja Sekundantendienste leisten. Stattdessen wetterte sie mit bedeutungsschwerer Mimik gegen die BBI-Flugroutenvorschläge eines Bundesamtes, für das mittelbar die Bundeskanzlerin kraft ihrer Richtlinienkompetenz zuständig ist und dominierte prompt die Fernsehberichterstattung. Die Bundeskanzlerin heißt Angela Merkel. Der Bundesverkehrsminister Peter Ramsauer ist allerdings von der CSU und die macht eine Menge, die große Schwesterpartei zu verärgern. Nötigenfalls auch mit Flugrouten über ehemals bürgerliche Stadtbezirke der Hauptstadt, die bislang mangels Start- und Landemasse vom Schönefelder Flugbetrieb verschont blieben. Aber Frau Merkel hat ganz deutlich gefordert, dass „der Bund und Berlin Hand in Hand gehen“ müssten. Sie meint natürlich, Berlin und der Bund müssten in einer Hand sein, in ihrer. Was macht dann Frank Henkel? Vermutlich wird er ebenso wie seine Kandidatur-Vorgänger in der ersten Reihe des nächsten Nominierungsparteitages sitzen und dem Nachfolger applaudieren. Im Jahrbuch des Landesarchivs vermerkt werden aber sicher seine 100 Prozent. Die sind einmalig.

G. H.

Alte Welt in Junger Welt

Die Junge Welt hat mit zwei Obristen der Staatssicherheit ein Interview geführt. Dagegen ist zunächst mal nichts zu sagen. Ebenso wenig wie dagegen, dass diese so etwas wie die „Enthüllung“ eines in den Dioxin-Skandal Verwickelten als ehemaligen IM als das bezeichnen, was es ist: „ablenkender Klamauk“. Nur eben, mit solchen Feststellungen lassen es die beiden Interviewpartner nicht bewenden. Nach der Qualifizierung Roland Jahns als dem neuen Chef der Bundesbehörde zur Aufarbeitung der Stasi-Unterlagen befragt, liest sich die Antwort so: „Aus der Sicht seiner Protegés seine Vita: Ostdeutscher, ‚Stasi-Opfer’, immerhin einige Monate Haft, ehe er 1983 aus der DDR ausreiste, 1985 beim Versuch der illegalen Einreise neuerlich ausgewiesen, aktiver Antikommunist in Westberlin, von wo aus er gegen die DDR arbeitete, legal als Fernsehjournalist beim SFB-Fernsehmagazin ‚Kontraste’, illegal mit einem privatem Nachrichtendienst, der Geld, Kopierer, Papier, Flugblätter, in der DDR indizierte Druckerzeugnisse über die Grenze schmuggelte. Außerdem arbeitete Jahn dort für den Piratensender ‚Radio Glasnost’, der sich als ‚Untergrundsender’ in der DDR gerierte, weil er O-Töne so genannter Oppositioneller ausstrahlte. Jahn war eine der ‚wichtigsten Kontaktstellen zwischen ostdeutschen Bürgerrechtlern und West-Medien’, wie die Berliner Zeitung wohl nicht ganz unzutreffend schrieb. Er beschäftigte das MfS bis zu dessen Ende, weil für uns nur schwer vorstellbar war, dass solche Aktivität ohne direkte oder indirekte Kooperation mit westlichen Geheimdiensten möglich sein sollte. Kurz, Jahn war ein agiler, umtriebiger Mann, aktiv seit Jahrzehnten im Dienste des Antikommunismus.“
Stasi-Opfer in Anführung… „immerhin“ einige Monate Haft… „so genannte Oppositionelle“… Denken und Sprache sind ungebrochen, seit solche Leute in der DDR die ideologische Lufthoheit hatten. Zwanzig Jahre Zeit zu Einkehr oder doch mindestens teilweisem Erkenntnisgewinn sind hier nutzlos vergangen, davon zeugt jeder Satz dieser Antwort. Eine wunderbare Steilvorlage für den „Klassenfeind“. Wer auf solche Aussagen zurückgreifen kann, braucht Dioxin-IMs eigentlich nicht mehr erfinden.

Helge Jürgs

Die spinnen, die Römer!

Erst dachte ich, es wäre eingebrochen worden: Als ich vor ein paar Tagen nach Hause kam, sah ich schon vom Flur aus, dass im Wohnzimmer ein Bild auf dem Boden lag, das heute morgen ganz sicher noch an der Wand gehangen hatte. Hatten hier Einbrecher gewütet? Rasch ging ich ein paar Schritte weiter: Nein, alles in Ordnung, naja: bis auf das Loch in der Wand: Faustgroß! Ich drehte mich um zur Haustür, da lag ein Zettel, der durchgeschoben war: „Scusi“, stand da, „wir haben zu tief gebohrt.“ Schon seit zwei Wochen wird die Zahnarztpraxis neben meiner Wohnung renoviert was bedeutet, dass nie Ruhe ist: Denn entweder wird gebohrt, oder die Arbeiter singen oder erzählen sich Witze. Wenn ich nicht wüsste, dass der Staub schlecht für meinen Computer ist, könnte ich auch gleich rübergehen, mich zwischen die Arbeiter setzen und sagen: „Ich schreib bei Euch, in Gesellschaft fällt es mir leichter.“ Auch ohne Bauarbeiten bekomme ich übrigens von meinen Nachbarn alles mit: Wenn ich Besuch aus Deutschland habe, rufen meine Freunde immer „Dein Telefon klingelt“ und wenn ich nicht reagiere „Martin, Telefon!“ – „Ist das vom Nachbarn“, antworte ich müde. Und als mein lieber Nachbar Andrea mir sagte, seine Frau, Arianna, sei schwanger geworden, war das für mich eigentlich auch keine Überraschung mehr. Mauern sind in Rom lediglich ein Sichtschutz.
Dank des Lochs in der Wand konnte ich jetzt mal einen seltenen Einblick in die Mauerkonstruktion gewinnen: Etwa ein fingerbreit Mauer, ein fingerbreit Luft, ein fingerbreit Mauer, aber das ist dann schon die vom Nachbarn. Vielleicht ist das wahnsinnig clever mit der Luft dazwischen, vielleicht gegen Schimmel zum Beispiel. Aber das Aufhängen von Küchenoberschränken erleichtert das nicht: Beim Einzug habe ich eine halbe Packung Dübel in die Wand gebohrt, bis ich ein gutes Gefühl hatte. (Und doch habe ich es nicht: Die schweren Teller tue ich nicht oben rein). Ein bisschen bedauere ich es ja, dass ich nicht dabei war, als die Bauarbeiter das Loch zu mir rüber bohrten. Ich hätte gern die Bohrerspitze aus der Wand treten, den Putz bröckeln und schließlich zwei Augenpaare verdutzt zu mir rübergucken sehen:„Buona sera … eh … scusi.“ Vielleicht werde ich auch selbst mal zurückbohren, wenn ich zu faul bin, rüberzugehen in die Zahnarztpraxis. Ich bohr dann einfach ein Loch in die Wand und übergebe der Sprechstundenhilfe meine Versicherungskarte. Man bekommt ja in Rom eh alles mit vom Nachbarn – da kann man doch gleich nachbarschaftliche Durchreichen bauen.

Martin Zöller, Rom

Pöbelei

Klaus-Rüdiger Landowsky, einst CDU-Fraktionschef im Berliner Parlament und Vorstandschef der in die Pleite gewirtschafteten Bankgesellschaft Berlin ist vom Vorwurf der Untreue freigesprochen worden. Mit Blick darauf, dass dies lediglich deshalb geschehen konnte, weil die deutsche Strafgesetzgebung zwar für alle denkbaren Verfehlungen von Privatleuten Strafandrohungen bereithält, nicht aber dafür, dass bestallte Würdenträger auf Kosten des Steuerzahlers und zu Gunsten Wohlhabender zocken und öffentliches Geld vernichten, ist es durchaus ein „Freispruch zweiter Klasse“, den ein TV-Reporter Landowsky in Frageform vorhielt. Die Antwort Landowskys ist von jener Art, wie sie sich Leute wie er in unserem Rechtsstaat offenbar leisten können. Es bei einem kurzen Loblied auf den Sieg eben dieses Rechtsstaates belassend, empfahl er dem RBB, sich doch an den anwesenden „Herrn Grottian“ zu wenden, „der ja seinen Pöbel immer dabeihat“. Nur zur Klarstellung: Professor Peter Grottian ist führender Kopf der Initiative Berliner Bankenskandal, einer Vereinigung von Berlinern also, die sich dafür einsetzt, dass die Verantwortlichen für den Skandal um die landeseigene Bankgesellschaft Berlin, der die Berliner Steuerzahler bislang mindestens 4,2 Milliarden Euro gekostet und eine „extreme Haushaltsnotlage“ nach sich gezogen hat, zur Verantwortung gezogen werden. Die darf ein Landowsky öffentlich „Pöbel“ nennen und also verhöhnen. Und wieder wird er dafür wohl kaum zur Verantwortung gezogen werden; dem Rechtsstaat sei Dank.

HWK

Modische Einschulung

Gerade die dick lackierten Holzbänke kennen gelernt, sie sollten einst eine Krise verhindern. Darauf sitzend nach vorne schauen, alles vor dir, der Kindergarten ist geschafft, die Schule hat begonnen, nichts vor dir, vielleicht Entwicklung, dann alles vor dir, fast schon aufgebraucht, vielleicht auch hinter dir – der Zufall wird’s richten. Das ABC, das Einmaleins, eine genervte Frau oder ein frustrierter Mann oder doch wahrhafte Pädagogen sitzen vor dir, schauen mit glänzenden Augen was da heranwächst, wer zu verfluchen oder zu fördern ist: Orakel der Zukunft – das gerne irrt.
Mit der Mutter durch die Straßen laufen: „Jetzt komm doch endlich!“ Früher gebockt, weil der Weg so lang war, jetzt ist er so spannend, überall sind alle diese komischen Malereien oder Zeichen oder was auch immer das sein mag, jetzt verständlich, schauen, entziffern und in gesprochene Sprache übersetzen. Die kontingentierte Fernsehstunde liefert so komische Figuren, die immer wieder unterbrochen werden, erst da, dann weg, dann wieder da und dann heißt es: „Bis Morgen!“ Zwischendurch immer dieselben Gestalten, die immer etwas ganz spannend oder im Überschwang erzählen, kaufen soll man nichts, nur haben wollen, kaufen ist nur der eine Schritt, wenn auch der Wichtigste aus Sicht des Werbers. Wichtig gemacht nur das Danach, das Das-würden-wir-dir-geben, aber die eigene Entäußerung wird ausgespart, kennst noch keine Entäußerung, die Eltern sind immer mal weg, dann wieder da und du bist nun auch mal Weg und Unterbrechungen gibt’s ebenfalls.
Staunend schauen, ein O und eine 2, das hast du gelernt, aber kannst du das auch aussprechen? „O tu.” Du kannst es, vorgesprochen und im richtigen Moment abgerufen. „Und wie buchstabiert man das?” In flacher Betonung: „Na, o t u.” Auch das wirst du lernen. Einschulung in die große Welt – á la Mode.

Paul

Wer ist der Korrupteste im Land?

Ein gewisser Karl-Heinz Grasser war zwischen 2000 und 2007 Finanzminister in Österreich. Da unter seiner fiskalischen Herrschaft nicht alles mit rechten Dingen zugegangen sein soll, die Liste der problematischen Aktionen ist lang und beschäftigt die Wiener Staatsanwaltschaft intensiv, besteht ein gewisses Ermittlerinteresse an seinen Telefonaten. So geriet der Inhalt eines Gespräches vom 28. Januar an die Öffentlichkeit: „Ich bin irgendwie sprachlos bei den Dingen, die Du mir sagst. Dass das Land so korrupt ist und so beschissen funktioniert und so politisch gelenkt ist, macht mich wirklich sprachlos.“ So Grasser zu seinem Spezi Walter Meischberger (beide gehörten einst zu Jörg Haiders „Buberl-Partie“). Offenbar hatte ein Staatspolizist einem der beiden für 5.000 Euro „heißes Material“ angeboten. Solch lächerliche Summe muss ehrliche Empörung auslösen. Wie korrupt ist Österreich nun wirklich? Transparency International (TI) veröffentlicht alljährlich einen internationalen Korruptionsindex. Null Punkte sind ganz furchtbar, zehn Punkte die lupenreine Weste. Die Werte für das Land: 2008 – Platz 12 (8,1), 2009 – Platz 16 (7,9), 2010 – Platz 15 (7,9). Und wir? In Deutschland wird versucht, mit Hilfe von Korruptionsregistern seitens der öffentlichen Hand diesem Übel zu begegnen. Geführt werden solche zurzeit nur in Baden-Württemberg, Bayern (für die Bauverwaltung), Bremen, Hessen, Rheinland-Pfalz und in Berlin. Eine Gesetzesinitiative auf Bundesebene scheiterte im März 2009 an der Mehrheit von CDU, SPD und FDP. Der SPD-Abgeordnete Reinhard Schultz vertrat zum Beispiel die Auffassung, „dass ein Berufsverbot für eine ganze Firma nur aufgrund des Verdachtes, dass sich vielleicht der eine oder der andere fehlverhalten“ habe, „völlig ausgeschlossen“ sei. Genosse Schulz kommt nicht aus Palermo, sondern aus dem Münsterland. Deutschland hat nach wie vor die UN-Konvention gegen Korruption nicht unterzeichnet. TI vermutet, dass die darin enthaltenen scharfen Parteispendenregelungen manch Abgeordneten gegen den Strich gehen. Deutschland teilt sich auf der TI-Liste mit der Alpenrepublik Platz 15. Wie nannte Insider Grasser so etwas?

W.B.

Auf Hermann Hesses Spuren

Im Frühjahr 1919 kam Hermann Hesse zum ersten Mal nach Montagnola. Er fand hier „ein Dörfchen, zwar kein ärmliches und geducktes wie manches andere in der Gegend, aber doch ein bescheidenes, kleines und stilles. Er war 42 Jahre alt, noch einmal so lange sollte er hier leben. Hesse, dessen erste Ehe mit Maria Bernoulli gescheitert war, der sich ausgebrannt fühlte und Ruhe suchte, bezog eine Dachwohnung in der Casa Camuzzi. Schnell wurde er in „Klingsors Schlößchen“ heimisch. Er wanderte, malte, erschloss sich sein neues Umfeld. In den Nächten versuchte er, „mit Worten das Lied dieses unerhörten Sommers zu singen“. Endlich konnte er wieder arbeiten und wagte auch in seinem Schreiben einen Neuanfang. Im Verlaufe der Jahre, die er in diesem Haus, der „Imitation eines Barock-Jagdschlosses“, verbrachte, entstanden Werke, die seinen weltliterarischen Ruhm begründen sollten, so „Demian“, „Siddhartha“, „Der Steppenwolf“ oder auch „Narziß und Goldmund“. Nach gut einem Jahrzehnt packte er im Sommer 1931 ein letztes Mal seine Sachen zusammen. Sein neues Heim wurde die Casa Rossa, ein am Rande von Montagnola gelegenes Haus, das der Züricher Arzt und Mäzen Hans Conrad Bodmer eigens für Hermann Hesse nach dessen Vorstellungen bauen ließ und ihm schenken wollte. Hesse lehnte jedoch Bodmers großzügiges Angebot ab und begnügte sich mit einem lebenslangen Wohnrecht. An diesem Ort schrieb er seine großen Alterswerke: „Die Morgenlandfahrt“ und vor allem „Das Glasperlenspiel“. 1960 blickte der Nobelpreisträger auf vierzig Jahre in Montagnola zurück: Es „ist kein Dorf und macht keinen bäuerlichen Eindruck mehr, es ist ein Vorstädtchen mit etwa viermal so vielen Einwohnern … So ändern sich mit den Jahren die Menschen und die Dinge, es läßt sich nichts dagegen tun.“ Hesse, der am 9. August 1962 starb und seine letzte Ruhe auf dem unweit von Montagnola gelegenen Friedhof von St. Abbondio fand, hat die heute überlebte Welt des hoch über dem Lago di Lugano gelegenen Ortes und der Tessiner Landschaft in zahllosen literarischen Skizzen und hunderten von Zeichnungen eingefangen. Mit dem von Regina Bucher, der Direktorin des Museo Hermann Hesse Montagnola, jetzt herausgegebenen Bändchen kann sich der interessierte Leser diese zuvorderst in Hesses Erzählung „Klingsors letzter Sommer“ eingefangene Welt nun auch selbst vor Ort erschließen. So lässt sich auf neun Spaziergängen und anhand von zahlreichen Zitaten aus Hesses Werken die unmittelbare Umgebung der Collina d’Oro erkunden, es geht nach Lugano oder auf der Spur der Morgenlandfahrer durch den Parco delle gole della Breggia, und schließlich führt ein Abstecher auch hinauf auf den von Hesse 1907 besuchten Monte Verità. Nebenbei erfährt man viel Wissenswertes über Hesses Freundeskreis, aber auch über heute weniger bekannte Personen, wie die Textilkünstlerin Maria Geroe-Tobler oder den Maler Hans Purrmann, dessen Briefwechsel mit Hesse derzeit für die Veröffentlichung vorbereitet wird. Vervollständigt wird der eingängig geschriebene, reich bebilderte und eine eigentümlich anziehende „Hesse-Atmosphäre“ ausstrahlende Band durch praktische Hinweise zur An- und Abreise, zu Versorgungs- und Übernachtungsmöglichkeiten sowie zu weitergehenden Besichtigungszielen. Dass die Reihe der von Suhrkamp herausgegebenen „Literarischen Reisebegleiter“ generell ohne Namenregister auskommen muss, ist bedauerlich – vielleicht könnte ja wenigstens bei diesem Band der Anhang bei einer Neuauflage noch durch eine Auswahl von Literaturempfehlungen zu den einzelnen Orten ergänzt werden.

Mit Hermann Hesse durchs Tessin. Ein Reisebegleiter von Regina Bucher. Insel Verlag, Berlin 2010, 291 Seiten, 12,– Euro

Mathias Iven