von Heerke Hummel
Die Zeit der Rückblicke auf die vergangenen zwanzig Jahre ist vorüber und die Zukunft wieder im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses. Diese ist für Menschen unserer Breiten in hohem Maße durch das „Projekt Europa“ bestimmt, jedenfalls wohl viel mehr, als dies bisher vom allgemeinen Bewusstsein verinnerlicht wurde, das sich immer noch durch nationalstaatliche Grenzen fesseln lässt. Wer darüber nachdenken möchte, dem sei ein Essay mit dem Titel „Staat muss sein. Muss Staat sein?“ zur Lektüre empfohlen, den Ekkehart Krippendorff – emeritierter Professor für Politikwissenschaft und Politik Nordamerikas am John F. Kennedy-Institut der FU Berlin – kürzlich in der Beilage der Wochenzeitung „Das Parlament“ veröffentlicht hat. Darin werden, nach geschichtlichen Rückblicken bis in die Antike, staatliche Auflösungserscheinungen auch der jüngsten Vergangenheit sowie unfruchtbare Versuche, dem mit militärischen Mitteln entgegen zu wirken, kommentiert.
In diesem Kontext stellt Krippendorff „Phänomene zerfallender nationalstaatlicher Identität in einigen der ‚Mutterländer moderner Staatlichkeit‘“ fest und fragt: „Gibt es einen untergründigen Zusammenhang mit den hier diskutierten dramatischen Zerfallserscheinungen und den plötzlich auftretenden nationalen Identitätskrisen in Frankreich, Spanien, England oder auch der Schweiz?“ Die Vermutung eines Zusammenhanges mit den von der Globalisierung ausgelösten Migrationsbewegungen drängt sich seiner Meinung nach auf. Weitere von Krippendorf aufgeworfene Fragen: „Führen die dadurch ausgelösten demographischen und kulturellen Veränderungen zur Entloyalisierung mit der Idee vom Staat als Wirklichkeit der sittlichen Idee?“ (Hegel) „Könnte sich daraus auch in Europa eine andere Staatsidee entwickeln? Haben die Vereinigten Staaten von Amerika möglicherweise mit ihrem Anteil an einem andersartigen Erbteil moderner Staatlichkeit eine bessere Chance, eine multikulturelle Gesellschaft politisch zu integrieren als das starre europäische Staatsmodell? Wenn da politische Integration versagt, ist dann nicht Desintegration, also ‚Zerfall‘, die langfristige Konsequenz? Oder könnten (und sollten) sich nicht neue Formen des Politischen, neue Formen des ‚Politikmachens‘ jenseits der Staatsfixierung herausbilden und ermutigt werden? Müssten sie nicht ansetzen mit einer anderen Sprache des Nachdenkens, Sprechens und Schreibens über Politik?“ Politik, formuliert Krippendorff als Fragestellung, müsste sich davon befreien, ein eindimensionaler Diskurs über Macht und Praxis staatlicher Machtausübung zu sein, um ein mehrdimensionaler Diskurs über Kultur zu werden, wie er in Literatur, Kunst und Musik zu entdecken und für die Gestaltung von gesellschaftlicher Ordnung, einer Friedensordnung zumal, fruchtbar zu machen ist.
„Seit den 1940er Jahren“, heißt es an anderer Stelle, „haben Ethnologie und Anthropologie bei außereuropäischen Kulturen wichtige Erkenntnisse gewonnen, zum Beispiel über Konfliktlösungsmechanismen in nichtstaatlichen Gesellschaften, die von der Politikwissenschaft überhaupt nicht, von einigen Friedensforschern bestenfalls marginal zur Kenntnis genommen wurden, aber nirgends zu einem kreativen Nachdenken über neue Politikformen jenseits repräsentativen Parteienstaates geführt haben.“
Dieser von Krippendorff festgestellte Sachverhalt ist nicht verwunderlich, hat doch die bürgerliche Gesellschaftswissenschaft seit der politökonomischen Kritik der Kapitalverhältnisse durch Karl Marx ihre ganze Kraft darauf konzentriert, eben diese durch den Staat zu schützenden Verhältnisse als die einzig „vernünftigen“ zu begründen und zu verteidigen. Der bürgerliche „repräsentative Parteienstaat“ soll, auch heute noch und künftig, das Interesse des Kapitals an seiner Verwertung durch Ausbeutung der ganzen Welt absichern und durchsetzen helfen, auch mit militärischen Mitteln. Dass nur etwa noch die Hälfte der Bevölkerung diesen Staat als den ihren betrachtet, sich mit ihm identifiziert und an seiner Gestaltung teilnimmt, ficht die Theorie nicht an und kann als ein Indiz für den aktuellen staatlichen Zerfall betrachtet werden.
Solche Erscheinungen korrespondieren mit den tiefgreifenden Veränderungen in der Ökonomik dieser Gesellschaft seit den 70er Jahren, als mit der Kündigung des Abkommens von Bretton Woods durch die USA und dem damit verbundenen Wandel im Wesen des Geldes die Verwertung und Vermehrung von Kapital mehr und mehr zu einer – wenn auch desaströsen – Fiktion wurde. Die Finanzkrisen offenbaren es.
Eine neue, eine Regional- und Weltgesellschaft ist wohl im Entstehen begriffen, als deren Ordnungsrahmen und -mechanismen Staatlichkeit in bekannter Form und im überkommenen Wesen mehr und mehr unbrauchbar wird. Denkbar und aus heutiger Sicht erforderlich scheint ein allgemein anerkannter, über den nationalstaatlichen Rahmen hinausgehender gesetzlicher Kompetenz- und Handlungsrahmen für Personen und Institutionen, beispielsweise in der Wirtschaft und im Finanzsektor, zu sein. Ihn zu gestalten, dazu bedarf es zu allererst eines neuen Bewusstseins der Gesellschaft von ihrer eigenen Konstitution, vom Wesen ihrer eigenen Existenzbedingungen und ökonomischen Beziehungen.
Solches, von Solidarität und ökologischer Verantwortung geprägtes Denken scheint angesichts der irrationalen Privatisierungspolitik der derzeitigen Regierung (auch des weltweit noch vorherrschenden geistigen und praktizierten Neoliberalismus` mit seiner Verabsolutierung der Freiheit des Marktes) in weiter Ferne zu liegen. Doch der Schein mag, wie schon oft in der jüngeren Geschichte, trügen. Unterschwellig gärt es in allen Schichten der Bevölkerung, in aller Welt wird nach Alternativen zur bisherigen Art und Weise des Wirtschaftens und Verteilens gesucht. Und die in Wirtschaft und Finanzsystem wirkenden Kräfte einer objektiven Notwendigkeit werden auch vom Letzten ein Umdenken und ein neues Handeln erzwingen. Wohl dem und denen, die sich Beweglichkeit im Denk- und im politischen Handlungsvermögen bewahrt haben. Die großen Gesellschaften Asiens könnten sich da bald als tonangebend erweisen. Ob Europa mit seinen repräsentativen Parteienstaaten es schafft, sich rechtzeitig bewusst selbst umzugestalten und international einzuordnen oder ob es in einem solchen Prozess die eher passive Rolle eines Objekts spielen wird, ist sehr ungewiss; dies umso mehr, als sogar die linken Kräfte größte Mühe haben, auch mit neuen Programmen das alte Fahrwasser „rechtsstaatlichen“ Denkens in den nationalen Grenzen repräsentativer Staatlichkeit zu verlassen. Wer als Europäer die Zukunft gestalten will muss sein Denken und Handeln auf Europa und die Welt ausrichten. Alles andere ist kurzsichtig und fast bedeutungslos, weil die nationalen Handlungsspielräume minimal geworden sind. Darüber ehrlich aufzuklären, Konsequenzen aufzuzeigen, ein breites Verständnis und eine allgemeine, den Erfordernissen entsprechende Handlungsbereitschaft zu erzeugen, dürfte heute wichtiger und strategisch bedeutungsvoller sein als schneller, taktischer Wahlerfolg und Machtgewinn im Sandkasten nationaler Politik. Denn worauf es ankommt ist zielführende Handlungsfähigkeit im Moment der akuten Krise. Die letzten vierundzwanzig Monate waren da für Europas Linke eher blamabel; dies umso mehr, als die Regierungen Europas die ursächlichen Probleme nicht zu lösen vermochten, sondern die Krise „managten“, indem sie die Widersprüche ihrer Entstehung durch irrationale Geldgeschenke an die Finanzwelt nur verschärften und ein sicherlich noch größeres Desaster in nicht ferner Zukunft vorbereiteten – allen nun beschlossenen Kontrollen im Finanzbereich zum Trotz. Denn die Vermehrung von Geld als Ziel und Prinzip des Handelns im Finanzwesen widerspricht dessen objektiver volkswirtschaftlicher Aufgabe, gesellschaftliche Arbeit zu dirigieren und den Güterfluss der gesellschaftlichen Reproduktion zu steuern, und ist durch Kontrollen sowie „Sicherungen“ weder zu beherrschen noch aus der Welt zu schaffen.
Schlagwörter: Ekkehart Krippendorff, Europa, Finanzkrise, Globalisierung, Heerke Hummel, Politik, Staat, Staatlichkeit