von Sibylle Sechtem
Im Deutschen Bundestag, im Durchgang vom Reichstagsgebäude zum Paul-Löbe-Haus, künden den Abgeordneten, ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und den jährlich nach Zehntausenden zählenden Besucherinnen und Besuchern 27 Schrift- und Fototafeln von der deutschen Parlamentsgeschichte. 22 haben eine rote, fünf eine schwarze Überschrift.
Erstmal ist, wenn man links beginnt – und die Chronologie will es so – alles rot. Auf der ersten Tafel wird verkündet, daß die Bundesrepublik Deutschland ein demokratischer und sozialer Rechtsstaat ist. Dann folgen Tafeln zur Geschichte mit Überschriften wie »Verfassungsentwicklung im Deutschen Bund 1815-1848« und »Die Revolution von 1848/49«, und rot überschrieben sind auch die Tafeln »Die Reichsverfassung 1871« und »Der Reichstag«.
Bei der Tafel »Der Reichstag« geht es auch um die Zeit des Ersten Weltkrieges, aber es irrt, wer meint, da wäre etwas über den Beginn des Krieges oder gar seine Ursachen zu lesen. Auch das überwältigende, fast alle Sozialdemokraten des Hauses einschließende Ja zu den Kriegskrediten kommt nicht vor – und folgerichtig bleibt auch das Nein von Karl Liebknecht unerwähnt. Aber dann gibt es doch einen Satz, der mit dem Krieg zu tun hat: »Führende Abgeordnete von SPD, Zentrum und Fortschrittlicher Volkspartei bildeten ab Juli 1917 im Reichstag den Interfraktionellen Ausschuß. Die von diesen Parteien getragene Parlamentsmehrheit drängte angesichts der militärischen Lage im Ersten Weltkrieg auf einen Verständigungsfrieden und die Parlamentarisierung des politischen Systems.« Das ist alles.
Rot geht es weiter: mit »Die Revolution von 1918/19« zum Beispiel und »Die Verfassung der Weimarer Republik«. Dann, weiter nach rechts, rücken die ersten schwarz überschriebenen Tafeln heran. Man ahnt, wohin es geht. Tatsächlich lautet die erste schwarze Überschrift »Machtübernahme der Nationalsozialisten«. Das System ist erkannt: Rot = gut, schwarz = schlecht. Aber halt: Da ist zuvor noch eine rote Überschrift. »Auflösung der Demokratie« heißt sie und steht über einem Text, der die Jahre 1930 bis 1933 beschreibt. Vom Fehlen einer parlamentarischen Mehrheit für eine arbeitsfähige Regierung ab 1930 ist da die Rede, vom »Preußenschlag«, dem Staatsstreich gegen den preußischen Ministerpräsidenten Otto Braun am 20. Juli 1932, mit dem das »Bollwerk der Demokratie« niedergerissen wurde, von »blutigen Saal- und Straßenschlachten zwischen Kommunisten und Nationalsozialisten« auch, die »zum täglichen Erscheinungsbild gehörten« – aber die Überschrift ist rot. Und von der Rolle, die Banken und Konzerne für Hitler und seine Partei spielten, kein Wort.
Schwarz betitelt hingegen ist dann also die »Machtübernahme«-Tafel, und schwarz betitelt sind gleich daneben auch zwei weitere: »Selbstentmachtung des Parlaments« und »Gleichschaltung – Entrechtung – Verfolgung«. Wenige Bilder nur haben auf jeder Tafel Platz, zwei, höchstens drei. Hier, bei »Gleichschaltung – Entrechtung – Verfolgung«, nimmt fast den gesamten Raum ein großes Schwarz-Weiß-Foto von KZ-Häftlingen am Lagerzaun ein.
Gesonderte Tafeln zum Zweiten Weltkrieg etwa oder zu Auschwitz fehlen ganz. Statt dessen wieder rote Titel: »Wiederaufbau der Staatlichkeit und Teilung Deutschlands« und »Die Gründung der Bundesrepublik Deutschland«. Und dann wieder schwarz: »Die Gründung der Deutschen Demokratischen Republik« und »Verfassungswirklichkeit in der DDR«. Alles klar? Alles verstanden? Rot = gut, schwarz = schlecht. Unter »Verfassungswirklichkeit der DDR« ein großes Schwarz-Weiß-Foto mit Mauer, Stacheldraht und Ruinen. Menschen fehlen darauf, aber die Nähe zum KZ-Foto einige Tafeln weiter links ist unübersehbar. Ein zweites, kleineres Foto ist das weithin bekannte von einem jungen Mann, der am 17. Juni einen Stein auf einen sowjetischen Panzer wirft. Mehr ist zur DDR nicht zu sagen.
Dann wird es wieder gut und rot. Das Schwarze ist überwunden, mehrere Tafeln beschreiben das glückliche Jetzt. Unter »Die Herstellung der Einheit« dominiert wieder ein großes Schwarz-Weiß-Foto. Darauf sind zu sehen sieben feiernde, ihr Volk grüßende Menschen. Von links nach rechts Oskar Lafontaine, Willy Brandt, Hans-Dietrich Genscher, Hannelore Kohl, Helmut Kohl, Richard von Weizsäcker – und ganz am rechten Rand, tatsächlich, ein DDR-Bürger: Lothar de Maizière. Herstellung der Einheit sechs zu eins. Wie treffend, wie wahr.
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