13. Jahrgang | Nummer 16 | 16. August 2010

BEMERKUNGEN

Allah macht hart

Das »journalistische Desaster«, wie Jörg Lau von der ZEIT es in einem Gastvortrag nannte, begann am 5. Juni und nahm in den Wochen danach seinen ungebremsten Lauf. Es ist einer jener Wahrnehmungsunfälle, die im Stimmengewirr unserer postmodernen Medienwelt inzwischen leider all zu oft die Normalität sind. Den Anfang macht eine kurze, zweiseitige Zusammenfassung einer Studie des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen (KFN). Ihr widmen sich an jenem 5. Juni zuerst die Süddeutsche Zeitung und dann die Nachrichtenagenturen.
In der KFN-Studie geht es auch und unter anderem um den Zusammenhang zwischen der Religiosität junger Muslime in Deutschland und ihrer Bereitschaft zu Gewalt. Die zweiseitige Zusammenfassung behauptet: »Für junge Muslime geht … die zunehmende Bindung an ihre Religion mit einem Anstieg der Gewalt einher.«
Wenn das keine Schlagzeile ist! »Die Faust zum Gebet«, überschreibt die Süddeutsche Zeitung ihren Beitrag, gefolgt vom Chor anderer Boulevard- und Qualitätszeitungen: »Allah macht hart«, »Jung, muslimisch, brutal«, »Junge Muslime, je gläubiger, desto brutaler« und so weiter und so fort. Im Artikel der Süddeutschen behauptet Christian Pfeiffer, Direktor des KFN, zwischen muslimischer Religiosität und Gewaltbereitschaft gebe es einen »signifikanten Zusammenhang«.
Es ist das Verdienst von bildblog.de, den kompletten Text der Studie einfach mal ganz gelesen zu haben. Dort findet sich nämlich dieser »signifikante Zusammenhang« von muslimischer Religiosität und Gewalt gar nicht. Er ist allenfalls sehr klein, und die Studie begründet ihn mit allem möglichen, nur nicht mit Religion. Im Gegenteil: Sie belegt, »dass diese (leicht – J. S.) erhöhte Gewaltbereitschaft weitestgehend auf andere Belastungsfaktoren zurückzuführen ist.« Es sei, heißt es in der Studie weiter, »bei islamischen Jugendlichen von keinem unmittelbaren Zusammenhang … zwischen der Religiosität und der Gewaltdelinquenz auszugehen.«
Bildblog.de weist auf diesen Widerspruch am 13. Juni hin und lässt sich von Pfeiffer erklären, er sei falsch zitiert worden. Zu spät, die Schlagzeilenmaschine lief da bereits seit einer Woche rund, siehe oben. Schwer zu sagen, woran diese mediale Entgleisung nun genau lag, ob zum Beispiel Pfeiffer so sehr nach Publicity für sein Institut giert, dass es ihm »offenbar lieber ist, falsch zitiert zu werden als gar nicht« (Jörg Lau). Darüber kann nur spekuliert werden. Sicher ist: Die deutsche (Medien-) Öffentlichkeit scheint auf den Kurzschluss »junge Muslime gleich Gewalt« nur gewartet zu haben. Wer muss da schon ganze Studien lesen.
Soweit ich weiß, haben sich die meisten Blätter später nicht nur nicht korrigiert, sondern basteln auch weiterhin an diesem Stigma, noch Wochen danach, wie etwa der Wiesbadener Kurier oder Spiegel Online. Eine Ausnahme bildet die österreichische Zeitung Die Presse, die sich für den Beitrag »Gewissenloses Islam-Bashing« die Mühe macht, auch mal in den ersten Teil der KFN-Studie aus dem Jahre 2009 zu gucken. Dort werde belegt, dass muslimische Migranten gar nicht gewalttätiger seien als Migranten aus anderen Kulturkreisen.
Aber solch eine Schlagzeile wäre leider längst nicht so sexy wie »Gläubige Muslime sind deutlich gewaltbereiter«.

Jürgen Stryjak, Kairo

Vom Sommerloch

Nun ist es da!
Die Sensationen
halten sich zurück;
zum Glück!
Es ist zu warm.

Die Zeitungsschreiber machen frei.
Von Katastrophen
spricht sich nichts herum –
Der Klatsch bleibt stumm (fast).
Die Politik ist kaum der Schreibe wert.

Die Tageblätter werden dünner.
(Das ist kein größerer Verlust.)
Der Kiosk an der Ecke bleibt verwaist,
die Kundschaft ist verreist
und sieht sich um in anderen Bereichen.

Entdeckt mit Staunen
den Geruch von Wasser
und nach reifem Korn.
Sieht, ganz verlor’n,
am Himmel zwei Milane kreisen.

Und mancher hört sogar
den Pan auf seiner Flöte dudeln
und sich in Dur und Moll verhudeln …

– Das Loch –
es wäre sehr zu wünschen,
blieb’s bis Oktober noch.

Renate Hoffmann

Moderne Arbeitswelten

Sie sind zu viert hinter dem, was man heute Tresen nennt und was früher Ladentisch hieß. Sie bedienen die Laufkundschaft und die Cafébesucher an zwei Schlangen, sie machen den Kaffee am Automaten, sie backen die Brötchen auf und schmieren zwischendurch die Baguettes. Sie haben eine Art Uniform an und man merkt, dass jedes Wort einstudiert wurde. Und was nehmen Sie zum Kaffee? Darf ich das Brot für Sie schneiden? Möchten Sie noch etwas Süßes für den Nachmittag mitnehmen? Ja? Nein? Sehr gern! Hinter dem Tresen ist nicht mal ein Meter Platz. Sie laufen hin und her und passen auf, dass sie dabei nichts umwerfen. Es muss schnell gehen und es ist sehr warm, vor allem, wenn die Backofentür herunter geklappt ist. Eine Verkäuferin verbrennt sich den Arm an der Tür. Für einen Moment sieht es so aus, als würde sie zusammenbrechen. Ihr stehen die Tränen in den Augen, als sie den nächsten Kunden anlächelt. Nehmen Sie noch etwas Süßes zum Kaffee heute Nachmittag? Eine Kollegin tröstet sie. Sie hat Narben am Unterarm.

Frl. Noahkasten

Das Konzert

Wer Ende der 90er Jahre den großartigen, unvergesslichen Film „Zug des Lebens“ (Buch und Regie: Radu Mihaileanu) nicht gesehen hat, der sollte das auch heute noch unbedingt nachholen. Während dies aber nur noch durch Ausleihe bei einer der leider viel zu seltenen Filmkunst-Videotheken oder durch Erwerb der DVD möglich ist, läuft das jüngste Opus des aus Rumänien stammenden und in Frankreich arbeitenden Künstlers derzeit in den Kinos – „Das Konzert“. Prädikat: Nicht verpassen!
Über den Inhalt des Films soll hier nichts verraten werden. Wer sich vorab dafür interessiert und damit bereitwillig auf manches Überraschende im Verlaufe der Handlung verzichtet, der findet Inhaltsangaben bis zur letzten Szene ohne Schwierigkeiten im Internet.
Mihaileanu zeichnet wiederum für Buch und Regie verantwortlich, und er hat für seinen Film einmal mehr ein kongeniales Ensemble hierzulande – mit Ausnahme von Miou Miou und Mélanie Laurent – weitgehend unbekannter Schauspieler versammelt. Herausgekommen ist ein Streifen, der den Zuschauer, der sich darauf einlässt, zum Lachen bringt, daß das Zwerchfell schmerzt, ans Herz und an die Seele greift, zu Tränen rührt. Mit einem Wort, respektive mit dreien: Ganz großes Kino.
Sinn für zum Teil sehr schrägen (aber fast nie schwarzen) Humor sollte man allerdings ebenso haben wie kein besonderes Faible für political correctness. So könnte man zum Beispiel eine Quintessenz des Filmes dahingehend zusammenfassen: Alle Vorurteile gegen Russen sind keine, sondern wahr. Aber Mihaileanu wäre nicht, wer er ist, verliebte man sich in seine Russen nicht gerade deswegen.
Übrigens – wer das Violinenkonzert D-Dur op. 35 von Pjotr Tschaikowski in seinem Tonträgerfundus hat, sollte sich dieses Meisterwerk vor dem Gang ins Kino wieder einmal anhören. Das könnte eine gute Einstimmung sein.

Alfons Markuske

Rattenloch

Sie schleicht seit Stunden auf der Suche nach Essensresten umher, rannte bereits über vermoderte Matratzen, durch Keller, Mülltonen, Hauseingänge, in ihrem Bauch wachsen bereits Junge, neue Verwerter, Schädlinge, eine Plage für eine dreckige Stadt, die sich saniert.
Gerade nagt sie an einem schimmeligen Auberginerest in der Ecke eines Hofes, ein Licht flackert auf, torkelnd betreten Menschen den Hof, sie flieht an ihnen vorbei durch den schummrig beleuchteten Gang durch einen Spalt in der Tür auf den Bürgersteig.
Eine grobe Gestalt zu Fahrrad steuert auf sie zu, sie macht sich auf seinem Weg ganz klein, er schert leicht aus, sie zieht zurück, die fahrende Gestalt spürt einen leichten Stoß, er bremst, schaut sich um, zuckend liegt sie dort, tot, nur die Nerven arbeiten noch, gibt ihr ein lebendes Aussehen.
Er weiß, daß es vorbei ist, wendet sich ab und fährt, macht kehrt, schaut auf den zuckenden Leib – kann ich sie nicht erlösen? Er tritt nicht, er fährt, nicht über sie, es wäre zu schwere Gewalt, eine zu grobe Tat: Sie spürt sowieso nichts, bietet keinen schönen Blick.
Der orange Säuberungswagen wird sie wenige Stunden später mit den Resten der letzten Nacht beseitigen, ein Rattenloch putzt sich fein raus – für den neuen Tag.

Paul

O-Töne

Es ist nötig, dass wir von der Rentengarantie wieder abkommen und zu den normalen Mechanismen bei der Rentenanpassung zurückkehren.

Rainer Brüderle, Bundeswirtschaftsminister (FDP)

Brüderle hat recht. Wenn Arbeitnehmern Lohnkürzungen zugemutet werden, müssen Rentnern auch Rentenkürzungen zugemutet werden.

Michael Fuchs, stellvertretender Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, zum Vorschlag des Bundeswirtschaftsministers

Die deutsche Wirtschaft ist wieder in Partylaune.

Hans-Werner Sinn, Präsident des ifo Instituts für Wirtschaftsforschung, über die Stimmung in den Unternehmen

Angesichts der sprudelnden Gewinne sollte die Autoindustrie an den Kosten der Abwrackprämie beteiligt werden.

Alexander Funk, Haushaltsexperte der CSU

Soll ich etwa über Hurensöhne sprechen?

Elinor Ostrom, Wirtschaftsnobelpreisträgerin, über gierige Banker

Wir wollen die Banken unter staatliche Kontrolle stellen.

Klaus Ernst, Vorsitzender der Linkspartei

Wenn die Mönche einen ihrer Brüder einmauerten, so kündigten sie ihm sein Urteil mit den Worten an: „Geh hin in Frieden.“ In ihnen liegt der ganze Geist des fanatischen Priesterstandes verborgen: die grausamsten Laster unter dem Mantel der Sanftmut.

August von Platen (1796 – 1835), deutscher Dichter

In meinen Mußestunden – es sind deren nicht so furchtbar wenig – treibe ich das blödsinnigste Zeug. Ich lese zum Beispiel Bücher …

Kurt Tucholsky

Wirsing

Der 13. August sagt vielen Menschen etwas, nicht nur, weil der Schriftsteller Jens B. an diesem Tag geboren wurde. Der Moderator von Radio Berlin, Ingo H., beglückte uns mit der Formulierung: „Heute vor 49 Jahren wurde bekanntlich die Berliner Mauer eröffnet.“ Jawohl, die Berliner Mauer war eine Sehenswürdigkeit und wurde 1961 wenn schon nicht ge-, dann eben eröffnet. Heute ist die Sehenswürdigkeit fast verschwunden, und deshalb wünschen sie sich zahlreiche Touristen zurück. Und nicht nur die.

Fabian Ärmel